Chicago zählt wie Wien zu den 15 »smartest cities« der Welt. Die drittgrößte US-Metropole kämpft gegen Hitze und Verkehrsüberlastung und will mittels künstlicher Intelligenz die Lebensqualität ihrer Bewohnerinnen und Bewohner verbessern.
In Chicago, wo sonst vom Michigansee her frischer Wind durch die Hochhausschluchten pfeift, stand im Sommer 1995 die Luft still. Zwischen 12. und 16. Juli kletterte die Temperatur tagsüber auf über 40 Grad Celsius, auch die Nächte brachten keine Abkühlung. Durch die hohe Luftfeuchtigkeit betrug die gefühlte Temperatur 50 Grad und mehr. Eisenbahnschienen und Straßenbeläge verformten sich. Auf der Suche nach Abkühlung öffneten verzweifelte Bewohner mehr als 3.000 Hydranten, teilweise brach deshalb die Wasserversorgung zusammen. Auch die Elektrizitätswerke waren überlastet; die Stromausfälle legten Klimaanlagen und Ventilatoren lahm. Als die Hitzewelle nach fünf Tagen langsam abflaute, waren die städtischen Leichenhallen überfüllt. 739 Tote waren zu beklagen. Bei vielen Menschen hatte die Hitze chronische Krankheiten verschlimmert oder zu Austrocknung, Fieber und Organschäden geführt. Am höchsten war die Sterblichkeit in jenen Stadtteilen, in denen viele Arme, Alte und Obdachlose leben.
Diese verhängnisvolle Woche wurde zum Schlüsselereignis in der jüngeren Geschichte Chicagos. Wie viele andere Metropolen rüstet sich inzwischen auch die »Windy City« für den Klimawandel. Als Präsident Trump im Juni 2017 den Rücktritt vom Pariser Klimaabkommen verkündete, bildete sich eine Allianz von 380 US-BürgermeisterInnen, die mittels einer »Mayors National Climate Agenda« und damit verbundenen Aktivitäten die Pariser Ziele bis 2025 dennoch erreichen wollen. Bei einem eigenen Klimagipfel unterzeichneten 67 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister die »Chicago Climate Charter«, mit der sie sich rechtlich bindend zur Reduktion der CO2-Emissionen verpflichten.
Klimaaktive Großstadt
Den Prognosen von Klimaforschern zufolge wird die Temperatur in Chicago in 40 Jahren an 72 Tagen pro Jahr über 32 Grad steigen. Bisher ist das an weniger als 15 Tagen der Fall. Im Frühling und Winter ist mit 35 % mehr Niederschlag zu rechnen, während die feucht-heißen Sommer regenarm bleiben.
Ein »Climate Action Plan« soll Chicago zukunftsfit machen. Durchlässige Straßenbeläge lassen die Wassermengen schneller versickern, spezielle Oberflächen reflektieren die Sonnenstrahlen. Mehr als tausend Hochhausdächer wurden bepflanzt, die Gehsteige verbreitert und begrünt – allerdings nicht mehr mit der für die Region typischen Weißeiche, die kühle Temperaturen bevorzugt. Öffentliche Gebäude werden mit Klimaanlagen ausgestattet. Bis zum Jahr 2025 sollen alle 900 städtischen Gebäude zur Gänze mit Strom aus erneuerbaren Energiequellen versorgt werden. Das über vier Jahre laufende Modernisierungsprogramm sieht die Umstellung von rund 270.000 Straßenlampen auf LED-Standard vor. Ein intelligentes Beleuchtungssystem soll für einen um 50 bis 75 % reduzierten Energieverbrauch sorgen und damit die Kosten refinanzieren.
Am Terminal 3 des Chicago O’Hare International Airport – mit 184 Gates und fast 80 Millionen Passagieren pro Jahr einer der größten und am stärksten frequentierten Flughäfen der Welt – installierte Siemens sein Gebäudemanagementsystem Desigo CC, mit dem automatisch über 40.000 Datenpunkte die Heizung, Lüftung und Klimatisierung sowie 100 Brandmelder reguliert und energieeffizient optimiert werden können. Via web-basiertem Fernzugriff haben die Techniker jederzeit Zugang zu den betreffenden Messdaten und können ohne viel Aufwand die Ursache der Störung ermitteln und Fehler beheben. Von der komplexen Technik im Hintergrund bekommen die Reisenden kaum etwas mit. Neben optimalem Raumklima und praktisch störungsfreiem Betrieb brachte die Gebäudeautomation auch einen finanziellen Nutzen: Die Energie- und Betriebskosten des Terminals sanken beträchtlich. Auch die Wasserinfrastruktur der Stadt wird sukzessive erneuert. Chicago verfügt über ein Netz von 1.450 Kilometern Wasserleitungen, 1.100 Kilometern Abwasserrohren und 167.000 Auffangbecken. Die veralteten, teilweise noch mit Dampfturbinen und Kesseln betriebenen, Wasserpumpstationen werden mit elektrischen Pumpen nachgerüstet. Siemens steuert auch hier das nötige Know-how bei. Allein die Energie- und Wartungseinsparungen durch die technischen Verbesserungen an der Wasserreinigungsanlage betragen jährlich vier Millionen US-Dollar.
Open Data für alle
In dem 2013 beschlossenen »City of Chicago Technology Plan« präsentierte die Stadtregierung zudem 28 Initiativen, die Bildung und Modernisierung der Verwaltung in den Mittelpunkt stellen. Durch den Einsatz von Hochtechnologie soll der Standort ökonomisch gestärkt und die Lebensqualität der Bevölkerung verbessert werden. Das Konzept ging auf: 2017 belegte Chicago im »Smart City Index« der Beratungsgesellschaft Roland Berger unter 153 Städten weltweit hinter Wien und Singapur den dritten Platz. Auch 2019 liegt Chicago noch unter den 15 »Smartest Cities« weltweit. Heuer reichte es noch für den fünften Platz, während Wien erneut das Ranking anführt.
Kernelement der Hightech-Strategie Chicagos ist eine Open-Data-Plattform, in der die Stadtverwaltung Daten zu Gebäuden, Verkehrsfluss, Wetter und Sicherheit sammelt, um relevante Muster und Trends aufzuspüren. Mithilfe des »WindyGrid«-Werkzeugs stehen alle Daten in Kartenform und Statistiken öffentlich zur Verfügung und ermöglichen zeitnah darauf abgestimmte Reaktionen. So konnte etwa die Population von Ratten und Mäusen eingeschränkt werden.
Durch die systematische Analyse der Kriminalität und den präventiven Einsatz von Polizeieinheiten sank die Mordrate kurzfristig um 40 %. Der abrupte Anstieg der Schießereien und Tötungsdelikte im Jahr 2016 blieb den Behörden jedoch unerklärlich und stellte die Zuverlässigkeit solcher Berechnungsmodelle in Frage. Kritiker wie der irische Wissenschafter Rob Kitchin weisen darauf hin, dass gerade der präventive Einsatz von Polizeikräften in bestimmten Stadtvierteln und Bevölkerungsgruppen Reaktionen provoziert, die sonst nie eingetreten wären. Die sogenannte »predictive analysis« folge Vorurteilen und verstärke Diskriminierung. Der US-amerikanische Stadtforscher Adam Greenfield warnte 2017 bei den Alpbacher Baukulturgesprächen vor den Schattenseiten der Technologisierung: »Die Smart City gibt Objektivität, Einheit und perfektes Wissen vor. Das ist nirgends erreichbar.«
Schritt in die Zukunft
Die kritischen Stimmen zum Big-Data-Ansatz mehren sich auch in Chicago selbst. Das Online-Meldesystem »CHI 311« bietet der Bevölkerung eine Anlaufstelle für Probleme wie Straßenschäden oder defekte Lichtanlagen sowie diverse Serviceleistungen. Auf der öffentlich zugänglichen Plattform sind sämtliche Informationen abrufbar – ein niederschwelliger Zugang, der sich grundsätzlich bewährt hat. Die neue Bürgermeisterin Lori Lightfoot, seit Mai 2019 im Amt, will das Vertrauen der Bevölkerung nun durch erhöhte Transparenz und Rechenschaftspflicht stärken. So veröffentlichte die Stadt beispielsweise Daten der Transportunternehmen Uber, Lyft und Via, entfernte aber zuvor persönliche Daten der Fahrer.
Mit dem Projekt »Array of Things« macht die US-Metropole indessen noch einen Schritt weiter in die Zukunft. 500 Sensoren, die im ganzen Stadtgebiet montiert werden, verbinden künstliche Intelligenz mit dem Internet der Dinge. Rund 100 der elektronischen Boxen sind bereits an Ampelmasten oder Gebäuden in Betrieb, weitere 100 folgen bis Ende 2019. Sie zeichnen ein breites Spektrum an Daten auf – von Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Luftdruck bis zu Lichtverhältnissen, Vibrationen und Lärmintensität. Zusätzlich werden Bilder und Daten zur Verkehrslage eingespeist, um Staus und die Zahl tödlicher Verkehrsunfälle zu mindern. »Die Knotenpunkte liefern uns wichtige Informationen und geben uns einen Einblick in den aktuellen Zustand der Stadt und ihrer Bewohner«, sagt Jim Kurose, Informatiker an der National Science Foundation. Ein GPS-basiertes Bus-Tracker-System kann die Flotte entsprechend der aktuellen Nachfrage und Verkehrsströme steuern. Für private Nutzer stehen Tools wie das Bike-Sharing-System »Divvy Bikes« und die Verkehrsapp »Citymapper«, nach deren Vorbild ähnliche Apps für Hamburg und Berlin entstanden, zur Verfügung. Das hohe Verkehrsaufkommen und die täglichen Staus sind dennoch ein bislang ungelöstes Problem.
Bild: Chicagos Bürgermeisterin Lori Lightfoot will das Vertrauen der Bevölkerung durch erhöhte Transparenz und Rechenschaftspflicht stärken. (Foto: nwpc)
Die Demokratin Lightfoot richtet ihr Augenmerk jedoch auch auf die soziale Segregation in den unterschiedlichen Teilen der Stadt. Laut einem Bericht des Urban Institute zieht der Norden Chicagos fünfmal höhere Investitionen an als jene Stadtteile, die überwiegend von Schwarzen und Latinos bewohnt werden. »Array of Things« versteht sich deshalb auch als Bildungsplattform, um die digitalen Kompetenzen der Bevölkerung zu verbessern. An der Lane Tech College Prep High School lernen Schülerinnen und Schüler in wissenschaftlichen Projekten, wie sie selbst Sensorboxen bauen und die gesammelten Daten auswerten können. An der School of the Art Institute of Chicago (SAIC) gibt es ein ähnliches Projekt mit dem Ziel, die Genauigkeit von Apps zu verbessern, um der Öffentlichkeit klarere Umweltinformationen zur Verfügung zu stellen.
Die internationale Vernetzung fördert die Verbreitung solch praktikabler Lösungen. An der Aufzeichnung und Analyse der Wetterdaten, mit der die Auswirkungen künftiger Katastrophen wie Hitzewellen oder Überschwemmungen gemindert werden sollen, zeigen sich bereits andere Metropolen interessiert, die wie Chicago aufgrund der schachbrettartigen Struktur der Bildung von Wärmeinseln und heftigen Windströmen, die durch die Hochhausschluchten wehen, ausgesetzt sind. Im Jänner 2020 findet das Smart Cities International Symposium in Chicago statt. Experten und politische Entscheider tauschen sich über innovative Konzepte, Maßnahmen und Technologien aus. Gut möglich, dass so manche Lösung auch bald in anderen Städten zu finden ist.
Erfolg mit Pilotprojekten
Den »Smart City Index«, alle zwei Jahre von Beratungsgesellschaft Roland Berger erstellt, führt 2019 erneut Wien an. Auf den Plätzen 2 und 3 des Rankings, für das weltweit 153 Städte analysiert wurden, folgen London und die kanadische Stadt St. Albert. Großteils überzeugten jedoch asiatische Metropolen mit ihren Smart-City-Konzepten. Nach wie vor haben 90 % der betrachteten Städte keine ganzheitliche Strategie. Auch bei der Umsetzung ortet Thilo Zelt, Partner im Berliner Büro von Roland Berger, noch Nachholbedarf: »In vielen Städten fehlt eine zentrale Funktion mit dem entsprechenden Know-how, die das Projekt Smart City koordiniert und vorantreibt.«
Angesichtes steigender Einwohnerzahlen und zunehmender Herausforderungen wie Verkehr, Luftverschmutzung oder unzureichende Infrastruktur setzen Städte weltweit auf digitale Technologien als Lösungsansatz. Doch erst wenn diese durch ein Smart-City-Konzept vernetzt und aufeinander abgestimmt werden, können die einzelnen Maßnahmen ihre Wirkung voll entfalten. So braucht ein E-Mobilität-Konzept immer auch ein Verkehrsmanagementsystem und eine intelligente Lademanagementlösung.
Wien konnte mit vernetzten Lösungen für Mobilität und Umwelt sowie einem fortschrittlichen E-Health-Ansatz punkten. Als erste deutschsprachige Stadt bietet Wien offene Verwaltungsdaten. Gesteuert werden die Projekte durch eine zentrale Smart-City-Agency, die alle technischen Kompetenzen bündelt, die Interessen von Stadt und Serviceanbietern koordiniert und eine standardisierte Fortschrittskontrolle für die einzelnen Projekte vorsieht.
Auch in London, ebenfalls führend im Ranking, sind die Verantwortlichkeiten durch einen Chief Digital Officer klar geregelt – ein Indiz für den Erfolg in der Umsetzung. In London tragen Straßenlaternen und Parkbänke nicht nur Luftqualitätssensoren, sondern dienen auch als WLAN-Spots und Ladepunkte für Elektrofahrzeuge. Singapur betreibt ein digitales Identifikationssystem und führt derzeit intelligente Beleuchtungssysteme, autonome Shuttles und Telemedizin ein. Die Bandbreite der Einsatzbereiche in den einzelnen Städten ist durchaus gewollt – vorausgesetzt, die Herangehensweise bleibt ganzheitlich, vernetzt und wird klug geplant und umgesetzt. Auch der Datenschutz ist ein wichtiger Punkt, so Thilo Zelt. »Es muss ein rechtlicher Rahmen geschaffen werden, um die erfassten Daten zu schützen. Auf der anderen Seite müssen die Städte eine Infrastruktur aufbauen, um Daten für sich nutzbar zu machen.«
Die 15 "smartesten" Städte der Welt
1. Wien (Ö)
2. London (UK)
3. St. Albert (Kanada)
4. Singapur (Singapur)
5. Chicago (USA)
6. Shanghai (China)
7. Birmingham (UK)
8. Changqing (China)
9. Shenzhen (China)
10. Paris (Frankreich)
11. Dalian (China)
12. Seoul (Südkorea)
13. Santander (Spanien)
14. Guangzhou (China)
15. Davanagere (Indien)