China ist längst nicht bloß »Factory of the World«. Auf den Gebieten Robotics und künstliche Intelligenz geben chinesische Firmen die Marschrichtung vor: China will bis 2025 die globale Innovationsführerschaft übernehmen. Und agil sind die Chinesen neuerdings auch.
Betritt man die riesige Eingangshalle des Technologiekonzerns Alibaba in Hangzhou, sticht sofort der riesige LED-Bildschirm ins Auge, der eine Seite der Halle komplett abdeckt. Diese digitale Wand zeigt alle Transaktionen, die in diesem Moment über Alibaba-Dienste abgewickelt werden. »Das ist zunächst sehr faszinierend, alles leuchtet und blinkt in verschiedenen Farben, aber auch beängstigend«, erzählt Beraterin Eva Grieshuber, die im vergangenen September an einer Studienreise der Integrated Consulting Group (ICG) teilgenommen hatte.
Alibaba repräsentiert das moderne China. 1999 von dem ehemaligen Englischlehrer Jack Ma gegründet, besteht die Alibaba Group heute nicht nur aus der Handelsplattform, quasi dem »chinesischen Amazon«, sondern verfügt auch über ein eigenes Bezahlsystem (»Alipay«), mehrere Online-Dienste und viele andere Businesssparten, die auf Big Data basieren. Mit mehr als 450 Millionen Kunden zählt die Plattform in etwa so viele Nutzer, wie die EU Einwohner hat. Wie Alibaba zählen auch Tencent, Baidu oder Haier zu den größten Konzernen der Welt. In praktisch jeder Branche wachsen unzählige junge Unternehmen heran, die gängige Geschäftsmodelle in Frage stellen.
Bild oben: Einige chinesische Unternehmen zählen bereits zu den größten Konzernen der Welt. Täglich werden 16.500 neue Betriebe registriert.
Bei Besuchen von Innovation-Hubs, aber auch etablierten Unternehmen und staatlichen Institutionen konnte sich die ICG-Reisegruppe vom chinesischen Unternehmergeist überzeugen. »Während westliche Firmen einen Innovationszyklus gestalten, machen chinesische Firmen zehn«, erklärte der global tätige chinesische Strategieberater Edward Tse im persönlichen Gespräch.
Chinas Wirtschaft erlebte in den vergangenen 40 Jahren tatsächlich einen beispiellosen Wandel. Im Schnitt wuchs das BIP fast um 10 % pro Jahr, China stieg zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt auf. 2016 kamen 13 % aller Exporte weltweit aus China. Im ganzen Land wurde die Modernisierung durch enorme Investitionen vorangetrieben. Innerhalb weniger Jahre baute China das modernste Bahnsystem der Welt, ein Hochgeschwindigkeitszug verbindet Peking mit Shanghai. Mitten im Handelsstreit mit den USA vervierfachte die Regierung im Vorjahr das Investitionsvolumen, um die negativen Effekte des Zollstreits zu dämpfen. Dennoch fiel das Wachstum auf 6,6 % – der schwächste Wert seit 28 Jahren.
Drache der Innovation
China will nicht mehr die »verlängerte Werkbank« sein. In dem 2015 präsentierten Strategiepapier »Made in China 2025« proklamierte die Regierung das Ziel, innerhalb von zehn Jahren internationaler Innovations- und Technologieführer zu werden. Die zehn aufgelisteten Schlüsselbereiche decken die volle Bandbreite der Industrie von Robotic über Luft- und Raumfahrt, Energieerzeugung, Software bis zu Medizintechnik und Halbleiterindustrie ab. Schon bis 2020 will Peking die Zahl der Patentanmeldungen verdoppelt sehen.
Diese Vorhaben geht China mit aller Entschlossenheit an. Der Wandel ist überall spürbar und sichtbar. Auch Apple-Chef Tim Cook bekannte im Dezember: »China hat vor vielen Jahren aufgehört, ein Niedriglohnland zu sein.« Die Stärken des Landes würden nun in seinem fortschrittlichen Produktions-Know-how und den Zuliefernetzwerken liegen.
Bild oben: Hanne Seelmann-Holzmann: »Im Großteil der chinesischen Firmen wird weiterhin der chinesische Führungsstil praktiziert.«
Die Strategie der chinesischen Regierung geht aber weit darüber hinaus. Künftig will man selbst Innovationen kreieren und die Marschrichtung vorgeben. Carsten Brzeski, ING-Chefvolkswirt, bestätigt diese Einschätzung: Der Westen müsse sich an die Vorstellung gewöhnen, dass China langfristig selbst qualitativ hochwertige Produkte auf den Markt bringen werde. In der Automobilindustrie habe sich das Reich der Mitte bereits diese Führungsposition erarbeitet, meint Wolfgang Bernhardt, Partner bei Roland Berger: »Kein anderes Land ist so fortschrittlich und offen für neue Technologien und Mobilitätsdienste.
Die meisten traditionellen Auto-Nationen stagnieren dagegen oder bewegen sich nur langsam.« Chinesische Konsumenten tragen den Fortschritt mit. Jedes zweite in der ersten Jahreshälfte 2018 verkaufte Elektroauto ging an einen Kunden in China, auch Car-Sharing-Angeboten boomen. Die Ladeinfrastruktur wurde massiv ausgebaut und Teststrecken für autonomes Fahren eingerichtet.
In allen großen Städten entstehen Technologiezentren, um Forscher und Unternehmer anzuziehen. Shenzhen gilt bereits als Silicon Valley Asiens, in der Provinz Guangzhou etabliert sich die Biopharma-Industrie. General Electric errichtet dort auf 17.000 m² für seine Healthcare-Sparte eine Biologika-Anlage, die auch Pilotlabors für Zellproduktion und Gentherapie vorsieht. Das ambitionierte Raumfahrtprogramm und Konzepte für Smart Cities sorgen für weitere Technologieimpulse. Allerdings entsprechen bei weitem nicht alle chinesischen Fabriken diesen Ansprüchen.
Vor allem abseits der Hightechzentren scheint der Weg zur Spitze noch sehr weit. »Viele Fabriken in China sind vielleicht gerade einmal auf Industrie 2.0-Level. Diesen wird es nichts bringen, hochentwickelte Technologie für die intelligente Fertigung anzuschaffen. Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem ambitionierten Ziel der Regierung und dem eigentlichen Bedarf vieler Unternehmen vor Ort«, meint Jaqueline Ives vom Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin.
Das Tempo, mit dem die Projekte im ganzen Land vorangetrieben werden, ist dennoch beeindruckend und beruht im Wesentlichen auf zwei Voraussetzungen: Der technologische Wandel wurde von der Staatsführung verordnet. Die Bevölkerung hat kein Mitspracherecht, nichts wird in der Öffentlichkeit hinterfragt – Pläne können ohne Rücksicht auf Umwelt- oder Arbeitnehmerinteressen in Rekordzeit umgesetzt werden. Die zweite Voraussetzung war lange Zeit Chinas Pferdefuß, nämlich die mangelnde Digitalisierung. Das Fehlen alter Computersysteme erweist sich nun als Vorteil.
Indem China quasi bei Null startete, wurden digitale Modelle von Grund auf konstituiert, statt sie bloß über bestehende Strukturen zu stülpen. In den Bereichen Bezahlsysteme, Sharing Economy und E-Commerce hat China den Westen bereits überholt. »Das Geschäftsleben in China ist geprägt von einer Geschwindigkeit und Wendigkeit, wie es sie sonst nirgends gibt«, kommentiert Simon Johnson, Professor an der MIT Sloan School of Management, die rasante Entwicklung.
Verordnete Kreativität
Auch in der Forschung sind der Regierung in Peking Superlative gerade gut genug. In den Bereichen Physik, Mathematik, Astronomie und Quantenmechanik sollen herzeigbare Ergebnisse für internationale Aufmerksamkeit sorgen, wie es bereits mit dem Forschungssatelliten Wukong und dem umstrittenen Genschere-Experiment gelungen ist. Das F&E-Budget wurde im Vorjahr kurzerhand um 14 % auf rund 226 Milliarden Euro erhöht. Das klingt in Summe viel, gemessen am BIP sind die Ausgaben mit 2,5 % dennoch vergleichsweise unterdurchschnittlich. Selbst in Österreich belaufen sich die F&E-Ausgaben auf 3,1 % des BIP.
Scheitern könnte Peking jedoch gerade an seinem autoritären System, das den technologischen Wandel so kompromisslos auf Schiene brachte. Denn die universitäre Forschung unterliegt strenger Zensur; Internetsperren sorgen dafür, dass nicht allzu viele westliche Sichtweisen Einzug halten. Grundsätzlich assoziiert man das chinesische Schul- und Ausbildungssystem nicht unbedingt mit Individualität und Kreativität. Ob und wie verordnete und überwachte Freiheit nun plötzlich blühen kann, ist durchaus fraglich. Inzwischen klang unter politischen Entscheidungsträgern in Peking mitunter Skepsis zur Wirksamkeit durch. In Zwei-Jahres-Abständen sollen die Projekte nun jeweils nachjustiert werden. Ein Kurswechsel ist jedoch nicht zu erwarten.
Wie sich zeigt, florieren Ideen dort am besten, wo sich der Staat weitgehend raushält. In Start-up-Zentren wird dem Unternehmertum scheinbar schrankenlos gefrönt. Junge Entrepreneure nutzen ihre Chance, abseits der mächtigen Staatsbetriebe ihre Ideen zu verwirklichen. Der Accelerator Xnode in Pudong beherbergt Start-ups jedweder Art – vom Zweier-Team bis zum 50-Personen-Betrieb –, die Roboter-Komponenten designen, Software entwickeln oder an Tools für Finanztransaktionen arbeiten. Pro Tag werden in China 16.500 neue Unternehmen registriert.
Die Aufholjagd chinesischer Firmen macht sich bereits bei der Herstellung von Smartphones, Computern und Fernsehern bezahlt. Im Technologiezentrum der südchinesischen Provinz Guangdong können Start-ups ihre Prototypen innerhalb weniger Wochen testen – ein Unterfangen, das in Europa oder den USA mehrere Monate dauert. Aus diesem Mikrokosmos gingen schon einige Produkte in Serie.
Kulturelle Differenzen
Experimentiert wird gerne, auch mit modernen Managementstrategien. Während Europa noch über Agilität diskutiert, wird sie in China in einigen Betrieben eifrig praktiziert. Das funktioniert manchmal gut, oftmals weniger, wie die deutsche Unternehmensberaterin Hanne Seelmann-Holzmann weiß. Sie begleitet seit zwei Jahrzehnten Unternehmen bei ihren Asien-Abenteuern, die kulturellen Differenzen erweisen sich meist als größer als erwartet. »Im Großteil der chinesischen Firmen wird weiterhin der chinesische Führungsstil praktiziert«, so Seelmann. »Oft erlebe ich, dass die Implementierung von westlichen Instrumenten, z.B. Assessmentcenter, einfach nicht verstanden wird und die Umsetzung dann recht erheiternde Züge annimmt.«
Mitunter bringt das unterschiedliche Verständnis von Führung und Selbstverantwortung ein ganzes Projekt zu Fall, berichtet Seelmann: »Einer meiner Kunden hat ein Joint-Venture mit einem chinesischen staatlichen Unternehmen in der Automobilzulieferung. Sie sollen gemeinsam ein neues Produkt entwickeln. Nun erhielten offenbar die chinesischen Führungskräfte von Regierungsseite den Auftrag, möglichst viele Arbeitsabläufe selbst zu organisieren. Vorschläge vonseiten des westlichen Partners werden ignoriert.«
Aufgewachsen in einem rigiden Schulsystem, erwarten Chinesen klare Anweisungen – eigenständiges Denken und Entscheiden war bislang nicht erforderlich und nicht erwünscht. Zudem ist die Produktivität amerikanischer und europäischer
Arbeitskräfte noch deutlich höher als die ihrer chinesischen Kollegen.
Wo eigenes Know-how fehlt, wird ohne Skrupel kopiert oder zugekauft. Doch Übernahmen und Joint-Ventures werden im Westen zunehmend kritisch gesehen. Dass China damit nicht nur Wissen, sondern auch Kundendaten absaugt, hält Beraterin Seelmann für plausibel: »Präsident Xi Jinping möchte die westlichen Unternehmen noch stärker überwachen lassen. Konkret durch Parteimitglieder, die in den Unternehmen an Entscheidungen beteiligt werden müssen.«
Selbst wenn sich die hochgesteckten Ziele nicht in allen Bereichen erreichen lassen, in den Kerntechnologien wird China künftig ein Wörtchen mitzureden haben. Experten zufolge könnte sich der Kampf um die globale Vorherrschaft auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz entscheiden. Laut Vorgabe aus Peking soll die KI-Branche bis 2030 ein Volumen von rund 125 Milliarden Euro erreichen. Eric Schmidt, Chef der Google-Mutter Alphabet, hält das für durchaus realistisch: »Glauben Sie mir, diese Chinesen sind gut.«