Sonntag, Juli 21, 2024
Die große Umfrage: Wirtschaftskraft
Foto: Thinkstock

Die OECD hat die soziale Kluft zwischen armen und reichen Regionen in Industrieländern untersucht. Die Ergebnisse reihen sich in andere internationale Studien ein, die Österreich eine vergleichsweise schlechtere Entwicklung der Wirtschaftsleistung attestieren. Insbesondere Wien sticht negativ hervor. Report(+)PLUS hat drei ExpertInnen nach den Gründen und nötigen Reformen gefragt.

1. Wien hat laut OECD-Vergleich des regionalen Wohlstands seit 2008 deutlich an Wirtschaftskraft verloren. Ist das allein auf die Migration zurückzuführen?

Matthias Firgo, Wissenschaftlicher Mitarbeiter des WIFO – Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung

Die OECD zeigt für die Stadt ein seit 2008 rückläufiges »BIP je beschäftigter Person«. Wien kann mit seinen 90 % Dienstleistungsanteil nur bedingt von der hohen Exportnachfrage profitieren, die seit der Krise das heimische Wachstum trug. Dazu reduziert der starke Trend zur Teilzeit in Dienstleistungen die Produktivität gemessen als »BIP je beschäftigter Person«, selbst wenn das BIP je geleisteter Arbeitsstunde konstant bleibt – ein rein statistischer Effekt. Beim vielzitierten Rückfall der Metropolregion Wien (Stadt + Umland) im »BIP pro Kopf«-Ranking der OECD seit 2000 wird vor allem eines deutlich: Überholt haben großteils Regionen aus Ländern (v.a. USA, Deutschland), in denen das Wirtschaftswachstum seit 2000 deutlich höher war als in Österreich. Migration als Erklärungsansatz greift also deutlich zu kurz.

Gundi Wentner, Partnerin bei Deloitte Österreich

Die jüngste OECD-Studie zeigt ein insgesamt positives Bild für Österreich in Bezug auf Wirtschaftskraft nach Regionen. Alle neun Bundesländer liegen im Einkommen im oberen Viertel. Österreich liegt auch in nahezu allen Well-being-Indikatoren über dem OECD-Median. Im BIP-pro-Kopf-Ranking der Großstädte hat Wien zwar im internationalen Vergleich verloren. Laut WIFO gibt es aber in diesem Ranking statistische Unschärfen. Auch haben schwächere Regionen mit Hilfe regionaler EU-Förderungen aufgeholt. Wien liegt allerdings bei Erwerbs- als auch Arbeitslosenquote im unteren Viertel. Gerade die Jugendarbeitslosigkeit ist fast doppelt so hoch wie im Bundesschnitt. Auch Frauen müssen häufig unterhalb ihres eigentlichen Ausbildungsniveaus arbeiten. Österreich hat große Defizite im Bildungssystem. Das ist in einer Großstadt besonders deutlich spürbar. Demgegenüber hat Migration viel weniger Gewicht. Wenn bei der Integration aber weiter gespart wird und man geflüchtete Menschen nicht in den Arbeitsmarkt aufnimmt, wird sich das natürlich auswirken.

Nikolaus Graf, Leiter des Forschungsbereichs Wettbewerbsfähigkeit bei EcoAustria – Institut für Wirtschaftsforschung

Österreich weist eine schwache Produktivitätsentwicklung auf. Dabei sticht Wien negativ hervor. Die Bevölkerung hat seit 2000 um 20 % zugenommen. Für urbane Räume ist dies noch keine Besonderheit: Hamburg, Berlin, Stuttgart, Köln sind um 6-12 % gewachsen, München um 20 %. Jedoch gelingt es dort, die Bevölkerungszunahme in eine positive wirtschaftliche Entwicklung umzuleiten. Keine der genannten Städte weist wie Wien 2000–2016 real ein sinkendes BIP pro Kopf auf. Migration erklärt dies nur teilweise. Hinzu kommen strukturelle Faktoren, der Beschäftigtenanstieg von weniger produktiven Dienstleistungen und Rückgänge in der Warenherstellung. Zudem unterstreichen die BIFIE Bildungstests Herausforderungen in diesem Bereich.


2. Täuscht die hohe Lebensqualität Österreichs über politische und wirtschaftliche Versäumnisse hinweg?

Matthias Firgo

Österreich gehört nach wie vor zu den wohlhabendsten Ländern der Welt. Im internationalen Vergleich zeigt das Land bei den gängigen Wirtschafts- und Sozialindikatoren kaum echte Schwächen (liegt aber auch in kaum einem Bereich ganz an der Spitze). Arbeitslosigkeit, Armutsgefährdung und Kriminalität sind auch im europäischen Vergleich niedrig. Damit das langfristig so bleibt, muss einerseits das Bildungssystem besser auf die Arbeitsmarkterfordernisse des digitalen Wandels ausgerichtet werden. Andererseits gilt es, die Chancengleichheit künftiger Generationen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu erhöhen.

Gundi Wentner

Ich finde eine hohe Lebensqualität und Reformen müssen kein Widerspruch sein, ganz im Gegenteil. Die hohe Lebensqualität in Österreich ist ein wichtiger Standortfaktor. Sie ist die Folge politischer Entscheidungen wie etwa in Bezug auf das Sozialsystem oder den Zugang zum Gesundheitssystem und einer gesunden Wirtschaft, die Arbeitsplätze schafft. Viel eher sollte man sich fragen: Wie kann die Lebensqualität künftig auf diesem hohen Niveau gehalten werden? Welche Maßnahmen sind dazu notwendig?

Nikolaus Graf

Internationale Vergleiche heben die Lebensqualität in Österreich und in Wien hervor. Österreich liegt beim BIP pro Beschäftigten noch vor Deutschland oder dem Vereinigten Königreich, jedoch hinter den USA, Dänemark oder den Niederlanden. Viele höher entwickelte Volkswirtschaften haben niedrigere Produktivitätszuwächse. Dies wird als Konvergenz beschrieben. Schwächer entwickelte Produktionssysteme schließen auf: Aufholen fällt dabei oft leichter als voranschreiten. Österreich weist jedoch auch zu ähnlich entwickelten Ländern ein geringeres Produktivitätswachstum auf.


3. Wo hat Österreich bezüglich der Wettbewerbsfähigkeit den größten Nachholbedarf?

Matthias Firgo

Das World Economic Forum hat kürzlich den Global Competitiveness Report 2018 veröffentlicht. Der Bericht sieht die größten Defizite im Bereich der Digitalisierung – sowohl in der Breitband-Infrastruktur als auch in den geringen Nutzungsraten von schnellem Breitband. Beide Elemente bilden zunehmend eine Grundvoraussetzung für hohe Wettbewerbsfähigkeit. Auch die hohen Steuern und Abgaben auf Arbeit, sowie die niedrige Arbeitskräftemobilität werden als erhebliche Wettbewerbsnachteile Österreichs genannt.

Gundi Wentner

Wir haben klaren Nachholbedarf im Bildungsbereich. Aktuell hinkt unser Schulsystem im europäischen Vergleich nach. Auch im Bereich der Gleichstellung und in der Beteiligung von Frauen muss noch viel getan werden. Maßnahmen wie etwa ein umfassendes Ganztagesschulangebot wären sowohl für den Bildungsbereich als auch für die Frauenerwerbstätigkeit sehr wichtig. Der Umweltschutz sollte ebenfalls nicht aus den Augen verloren werden.

Nikolaus Graf

Die aktuelle Konjunktur sollte Bemühungen um Strukturreformen nicht bremsen. Relevant ist die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen, die Senkung der Abgabenquote, die Effizienz von Verwaltung und Förderungen. Die Abgabensenkung und bessere Ergebnisse, etwa bei Bildung oder Gesundheit, sind durch Effizienzsteigerungen erreichbar. Flexiblere Arbeitszeitregelungen und Bürokratielasten stärken die Wettbewerbsfähigkeit. In Wien ist das Bildungssystem relevant. Mit der abklingenden Konjunktur schließt sich das Reformfenster. Eine zeitnahe Umsetzung der Reformpläne ist geboten.

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