Mit 40 brach Christine Wallner aus ihrer Ehe aus und begann ein Medizinstudium. Mit 60 verkaufte sie Hab und Gut und gründete in Tansania das Hilfsprojekt »Africa Amini Alama«. Über den Mut zum Neubeginn, ihr Leben als Eremit und was Europa von Afrika lernen kann, erzählt sie im Report(+)PLUS-Interview.
(+) plus: In Ihrem »früheren« Leben waren Sie Ehefrau, Mutter und Society-Lady. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf diese Zeit zurück?
Christine Wallner: Das ist alles ein Teil von mir. Damals waren die Kinder mein Lichtblick. Meine Mutter hatte meinen Ex-Mann als einzigen möglichen Schwiegersohn zugelassen und ich wollte von daheim weg, also bin ich diese Ehe eingegangen. Er war ein guter Mensch und Liebe war für mich ohnehin eher nebensächlich. Ich war immer sehr krank. Dann bekam er diesen Managementjob und verdiente plötzlich viel Geld, aber das Geld hat mein Leben nur äußerlich verändert. Innerlich hat es nicht mein Herz erfreut.
(+) plus: Sie sind Juristin und haben dann mit 38 Jahren noch das Medizinstudium begonnen. Warum dieser späte Entschluss?
Wallner: Ich hatte das Studium heimlich begonnen, weil ich nicht sicher war, ob ich es durchstehe. Dreimal pro Woche arbeitete ich in der Rechtsberatung, sonst war ich nur bei den Kindern zu Hause. Jus hatte ich meinem Vater zuliebe studiert, aber eigentlich war die Medizin schon immer meins. Ich habe das auch durchgezogen und hatte dann eine eigene Praxis, bis es mir ein bisschen zu langweilig wurde. Mir waren schnell Dinge zu eng.
(+) plus: Mit 60 wagten Sie den Aufbruch in ein völlig neues Leben. Woher kommt Ihre besondere Affinität zu Afrika?
Wallner: Ich wollte schon mit neun Jahren nach Afrika, das war immer mein Traum. Ich war dann auf Urlaub dort, aber irgendwie vergisst man später, was tief in einem drinnen steckt. Ich hatte erreicht, was ich wollte, und als Ärztin und Therapeutin konnte ich auch vielen helfen: Was sich im Unbewussten abspielt und Menschen zum nächsten Schritt führen, um ihnen dadurch Veränderung und Selbstheilung zu ermöglichen, das hat mich immer interessiert. Keiner kann jemanden von außen heilen. Man muss die Seele berühren.
(+) plus: Ist Ihnen das durch Ihre eigene Auto-immunerkrankung bewusst geworden?
Wallner: Ich kenne die Patienten- und die Arztseite und weiß, wo die Schulmedizin an ihre Grenzen stößt. Hautkrankheiten kommen ja immer von der Seele. Indem man anderen hilft, kann man sich selbst aus der Misere ziehen. Ich war seit meinem 27. Lebensjahr in Sozialprojekten aktiv. Das eigene Leid vergisst man, wenn man sich auf andere Menschen einlässt.
(+) plus: Diese Möglichkeit und den Mut, alles hinter sich zu lassen, haben viele Menschen nicht. Sehen Sie sich als privilegiert?
Wallner: Ich hatte die Geldmittel, deshalb fiel mir die Entscheidung leicht. An einem Wochenende verkaufte ich die Villa, zahlte meinen Kindern ihr vorzeitiges Erbe aus und war frei. Ich komme aus einer bescheidenen Familie. Mir ging als Kind nichts ab, aber zum Beispiel ein Kleid in einem Geschäft zu kaufen, das war damals undenkbar. Geld war mir vorher wie nachher nicht wichtig. Für mich ist das innere Wachstum wesentlich. Mit 19 habe ich Viktor Frankl und seine Thesen zum Sinn des Lebens geradezu inhaliert. Ich habe auch die Logotherapie- und viele weitere Ausbildungen absolviert. Aus diesem Topf nehme ich heute, was mir passend erscheint.
(+) plus: Wollten Sie dort in erster Linie als Ärztin arbeiten?
Wallner: Helfen wollte ich. Es gab in der Region seit 80 Jahren keine Krankenstation mehr, also habe ich eine gebaut. Daraus wurde im Laufe der Zeit ein »Development«. Ich bin jetzt zehn Jahre dort und in dieser Zeit hat sich viel verändert. Ich mag es, Leute zu unterstützen, bis sie selbst richtig fest im Leben stehen. Nichts anderes mache ich dort.
Gesundheit und Bildung sind die Basis. Das Schulwesen in Tansania ist noch sehr desolat, die Kinder werden oft geschlagen. Das habe ich sofort abgeschafft. Außerdem gibt es jetzt einen Kindergarten, wo Kinder eine angenehme Atmosphäre erleben und den sozialen Stress, der in vielen Familien herrscht, ein bisschen hinter sich lassen können. Im Waisenhaus geben wir Kindern mit ganz schrecklichen Schicksalen Zuwendung und ein Zuhause. Meine Tochter hat ein Healing Center aufgebaut. Wir beschäftigen sieben Ärzte, die das Krankenhaus tragen. Ich selbst behandle inzwischen nicht mehr.
(+) plus: Sind diese Projekte noch völlig auf Unterstützung angewiesen?
Wallner: Die ersten drei Jahre habe ich alle Kosten selbst getragen. Bald habe ich aber gesehen: Das wird ein Desaster. Ohne Sponsoren wäre es nicht möglich. So ein Spital benötigt ja enorme Ressourcen. Neben den Einrichtungen für Bedürftige vermieten wir jetzt authentische Lodges an Gäste, die Einnahmen fließen direkt in die Projekte. Die Massai fühlen sich als stolze Gastgeber und haben gleichzeitig eine neue Aufgabe.
(+) plus: Ist Afrika für Sie Heimat geworden?
Wallner: Ich liebe es auch, für ein paar Wochen in Österreich zu sein. Aber man kann nicht halb schwanger sein: Man muss sich ganz darauf einlassen. Meine Tochter und ich wollen den Menschen aber möglichst viel Verantwortung geben.Es tut ihnen gut, wenn ich nicht immer da bin und sie selbstständig arbeiten müssen. Sie sehen dann, es liegt in ihrer Hand. Mein afrikanischer Mann, in den ich mich nach 20 Jahren als Single plötzlich verliebt hatte, half mir, in die Kultur einzutauchen. Vielleicht habe ich ihm aber zu wenig gezeigt, was ich an ihm schätze. Jedenfalls hat sich dieser einfache Mann zu einem dummen Wichtigmacher verändert. Das wollte ich nicht mehr.
(+) plus: Die Gesellschaft ist in den meisten afrikanischen Ländern von Männern dominiert. Gelingt es Ihnen – in Ihrer Sonderstellung als weiße Ärztin – die Situation der Frauen zu verbessern?
Wallner: Als afrikanische Frau geboren zu werden, ist eine schlimme Strafe. Ich werde dort nicht als weibliches Wesen wahrgenommen. Ich lerne nicht Kisuaheli und pflege auch keine Freundschaften. Eigentlich lebe ich wie ein Eremit. Wir fördern Mädchen und Buben gleichermaßen – genau halbe-halbe. Nur alte Männer unterstütze ich nicht, die sind in ihrer Borniertheit so festgefahren. Da kann man bei den Jüngeren viel mehr erreichen. Zum Beispiel gibt es ein Schmuckprojekt, von dem zwei ganze Dörfer leben. Plötzlich bringen die Frauen das Geld heim und werden viel mehr geachtet. Der Massai-Mann bewacht in der Regel die Kühe. Das ist kein Fulltime-Job und nicht sehr zukunftsträchtig, denn es gibt kaum noch Löwen. Die ganze übrige Arbeit machen die Frauen: Kinder kriegen, Wasser tragen, Holz holen, Essen kochen. Wenn die Männer es wollen, bieten wir auch ihnen eine Perspektive.
(+) plus: Ist Genitalverstümmelung in Tansania ein Thema?
Wallner: Das ist zwar verboten, aber im Landesinneren schon noch verbreitet. Wir sehen in der Krankenstation die Folgen, etwa bei sehr schweren Geburten, weil die Frauen stark vernarbt sind. Dann gehen wir in diese Dörfer und klären darüber auf, dass Genitalverstümmelung zum Tod führen kann. Wir bieten auch Schulplätze nur für unbeschnittene Mädchen an – in Wirklichkeit schauen wir nie nach, aber die Botschaft kommt schon an.
(+) plus: Die Probleme Afrika sind seit Jahrzehnten nahezu unverändert. Haben Sie manchmal das Gefühl, gegen Windmühlen anzukämpfen?
Wallner: Ich denke schon, dass sich etwas ändert. Mit viel Geld ein Projekt hinstellen und nach fünf Jahren verlangen, dass die Menschen es selbst führen – das geht so nicht. Afrikaner sind viel herzensoffener, wir dagegen laufen mehr auf der Verstandesebene. Das sind völlig unterschiedliche Herangehensweisen. Sie denken nicht ständig ans Arbeiten und Geldverdienen und das hat schon was. Natürlich zerplatzen wir auch hie und da vor Ärger, wenn irgendetwas nicht funktioniert. Die Afrikaner stehen dann da und schauen uns verwundert an, ahnen aber, dass sie jetzt vielleicht doch etwas tun sollten. Das ist mir nach so vielen Jahren noch immer unbegreiflich: Ich komme zu einem Autounfall, der Verletzte liegt im Graben, 20 Leute stehen herum, aber niemand leistet Erste Hilfe.
(+) plus: Was kann Europa von Afrika lernen?
Wallner: Diese endlose Geduld. Ich sehe das Projekt als »Come together«, jeder sollte etwas mitnehmen. Unsere Gäste können helfen oder Wissen einbringen und tauchen dabei sehr in das afrikanische Leben ein.
Meine Lieblingsbeschäftigung ist jetzt manchmal, einfach dazusitzen und die Natur und den Wind zu spüren. Unbedingt schnell noch das oder jenes zu machen: Solche Gedankengänge sind dort völlig schräg. Für uns ist das eine besondere Erfahrung. Afrikaner leben im Jetzt. »Morgen« ist ein unbestimmter Begriff, das kann erst in drei oder vier Tagen sein – wenn es für ihn vom Gefühl her passt. Wenn man in diesen Modus kommt, profitiert man auch.
Zur Person
Christine Wallner, 73, studierte Jus, zog zwei Kinder groß und begann nach der Trennung von ihrem Mann, Casinos Austria-General Leo Wallner, mit 38 Jahren das Medizinstudium. Sie betrieb mehrere Jahre eine eigene Praxis und investierte 2009 ihr gesamtes Vermögen in die Gründung der Hilfsorganisation »Africa Amini Alama«(»Afrika, ich glaube an dich«). Beginnend mit einer kleinen Krankenstation in Momella, einem kleinen Dorf am Rande des Arusha Nationalparks in Tansania, entstanden im Laufe der Jahre viele weitere Projekte, die Christine Wallner gemeinsam mit ihrer Tochter Cornelia Wallner-Frisee, ebenfalls Ärztin, leitet und begleitet. Das Africa Amini Health Center umfasst inzwischen einen Operationssaal, eine Zahnarztpraxis, eine Augenklinik, eine Geburtenstation und ein Labor. In drei englischsprachigen Grundschulen, einer Secondary School, einer Berufsschule und einem Waisenhaus bekommen Kinder und Jugendliche die Chance auf Bildung und eine bessere Zukunft. Eine Kleider- und Schmuckwerkstätte und das nachhaltige Tourismusprojekt Africa Amini Life bieten der Bevölkerung eine Lebensgrundlage. Ihre Biografie »Mama Alama – Die weiße Heilerin« erschien 2014 im Orell Füssli Verlag.