Sonntag, Juli 21, 2024

Für die einen ist es ein »Meilenstein«, für die anderen ein »Wahlzuckerl«: Mit den Stimmen von SPÖ, FPÖ und Grünen wurde in der letzten Nationalratssitzung vor der Wahl die Angleichung der Rechte von ArbeiterInnen und Angestellten beschlossen. Die Regelung betrifft 1,4 Millionen Menschen in Österreich und harmonisiert Kündigungsfristen sowie den Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Über eine Gleichstellung wurde seit Jahrzehnten diskutiert, dennoch gingen nach dem Beschluss die Wogen hoch. Report(+)PLUS hat ExpertInnen um eine sachliche Einschätzung gebeten.

1. Was bedeutet die Gleichstellung für ArbeitgeberInnen bzw. ArbeitnehmerInnen?

Christoph Leitl, Präsident der Wirtschaftskammer Österreich



Grundsätzlich sollte es dort Angleichungen geben, wo nicht mehr zeitgemäße Differenzierungen zwischen Arbeitern und Angestellten bestehen. Dafür ist die Wirtschaftskammer auch immer eingetreten, das haben wir mit dem Sozialpartner auch verhandelt. Das, was jetzt im Husch-Pfusch-Verfahren in Gesetzesform gegossen wurde, hat damit aber leider nur wenig zu tun.
Getrennte Betriebsräte und Gewerkschaften bleiben etwa. Hier hat die Politik eine Chance vertan.

Bernhard Achitz, Leitender Sekretär des Österreichischen Gewerkschaftsbundes

Schon seit vielen Jahren hatte der ÖGB gefordert, dass ArbeiterInnen und Angestellte die gleichen Rechte haben müssen. Das hat der Nationalrat am 12. Oktober weitgehend umgesetzt: gleiche Rechte bei Entgeltfortzahlung bei Krankheit, bei Dienstverhinderung und gleiche Regeln bei Kündigungen. Gut so, denn Diskriminierung ist ein Anachronismus, der im 21. Jahrhundert nichts mehr verloren hat. Es ist nicht einzusehen, dass ein Bürokaufmann im selben Betrieb sechs Wochen Kündigungsfrist hat, während die Facharbeiterin nur zwei Wochen Zeit hat, um einen neuen Job zu suchen.

Brigitte Sammer, Partnerin und Arbeitsrechtsexpertin bei Taylor Wessing Rechtsanwälte

Die längeren Kündigungsfristen für Angestellte gelten nicht nur für Arbeiter, sondern, was bisher kaum erwähnt wurde, auch für Teilzeit (mit weniger als rund acht Stunden pro Woche) und damit für einen viel weiteren Kreis auch unter Angestellten. Die Entgeltfortzahlung ist vom Arbeitgeber bei Krankheit oder Unfall nunmehr auch bei einvernehmlicher Auflösung über das Vertragsende hinaus zu gewähren. Zahlreiche weitere Ungleichbehandlungen (getrennte Betriebsräte, unterschiedliche Entlassungsgründe und Kollektivverträge etc.) bleiben jedoch unverändert.


2. Was halten Sie von den Übergangsfristen bis 2021?

Christoph Leitl

Wir begrüßen, dass es in letzter Sekunde gelungen ist, wenigstens diese Übergangsfristen zu fixieren. Damit wird ein überfallsartiger Eingriff in Dienstverträge vermieden. Die massiven Belastungen sind aber nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. Außerdem gilt die Verlängerung der Kündigungsfristen für geringfügig beschäftigte Angestellte schon ab 1. Jänner 2018.

Bernhard Achitz

Durch die Übergangsfrist können sich die Branchen gut auf die Angleichung einstellen. In dieser Zeit können sich die Unternehmen daran gewöhnen, bei der Kündigung von ArbeiterInnen vorauszuplanen, wie sie das schon heute bei den Angestellten tun. Und in den Saisonbranchen, wo es auch nach 2021 noch kürzere Kündigungsfristen geben kann, werden sich die Arbeitgeber wohl darum bemühen, entsprechende Vereinbarungen in den Kollektivverträgen zu verhandeln. Mit dieser Lösung wurden die besonderen Bedürfnisse von zum Beispiel wetterabhängigen Branchen berücksichtigt.

Brigitte Sammer

Die Belastung der verlängerten Entgeltfortzahlung trifft die Arbeitgeber bereits ab 1. Juli 2018 und damit relativ kurzfristig. Die längeren Kündigungsfristen für Arbeiter sind erst nach dem 31.12.2020 zu beachten. Diesbezüglich besteht zwar eine »Schonfrist« von drei Jahren, in welcher die Mehrbelastungen für Arbeitgeber noch nicht spürbar sind. Ob in dieser Zeit jedoch Entlastungen als Ausgleich beschlossen werden, um den Wirtschaftsstandort Österreich wieder attraktiver zu machen, steht in den Sternen.


3. Fällt ein finanzieller und administrativer Mehraufwand an?

Christoph Leitl

Ja, und zwar ein erheblicher, wie die Wirtschaft wiederholt betont hat. In der WKÖ gehen wir von Mehrkosten von 150 bis 300 Millionen Euro aus, die den Betrieben aus den neuen Kündigungsfristen für Arbeiter entstehen. Dazu kommt ein zweistelliger Millionenbetrag an Mehrkosten in der Entgeltfortzahlung bei Dienstverhinderung. Drei Monate, nachdem man der Wirtschaft eine Arbeitszeitflexibilisierung verweigert hat, nimmt man uns die bestehende Flexibilität. Daraus entstehen nicht nur Kosten, sondern massiver Ärger!

Bernhard Achitz

Die jetzt beschlossene Neuregelung der Entgeltfortzahlung bei Krankheit führt für die Wirtschaft zu keinen Mehrkosten. Das belegen Studien, die von den Sozialpartnern in den Verhandlungen nie infrage gestellt worden sind. Administrativ wird der Aufwand sogar geringer, weil die neuen Regelungen einfacher sind als die alten, und weil nicht mehr zwei Regelungen parallel exekutiert werden müssen. Bei den Kündigungsregeln liegt es vor allem an der Disposition, ob es zu Mehrkosten kommt. Wenn die Unternehmer vorausschauend mit Kündigungen umgehen, so wie sie es jetzt schon bei den Angestellten machen müssen, dann kostet die Angleichung gar nichts.

Brigitte Sammer

Die Verlängerung der Entgeltfortzahlung sowohl für Arbeiter als auch Angestellte um zwei Wochen fällt finanziell natürlich ins Gewicht. In der nun längeren Kündigungsfrist für Arbeiter – so könnte man meinen – würde ohnedies gearbeitet, sodass lediglich früher an eine Kündigung gedacht werden müsste. Allerdings werden viele Arbeitnehmer in der Kündigungsfrist freigestellt, da schlechtere Arbeitsleistung oder gar ein Schaden (z.B. durch »Schlechtmachen« des Arbeitgebers bei Kunden) gefürchtet wird. Finanziell wirkt sich das natürlich aus, administrativ kann es durch die Angleichung zu einer Erleichterung kommen.

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