Sonntag, Dezember 22, 2024

Synergien von Wirtschaft und Wissenschaft sind Motor für neue Entwicklungen, vor allem in der Pharma- und Biotech-Industrie. Wien ist auf dem besten Weg, ein Life-Science-Zentrum zu werden. Andere Städte ziehen nach.

St. Marx, 1985. Als der Pharmakonzern Boehringer Ingelheim gemeinsam mit dem US-Unternehmen Genentech damals im großteils brachliegenden Wiener Stadtteil eine Forschungseinrichtung für Molekularbiologie gründete, schien das wenig Sinn zu machen. Wien konnte zwar auf eine ruhmreiche Vergangenheit in der Medizin verweisen, Anfang des 20. Jahrhunderts zählte die Donaumetropole noch zur internationalen Spitzenklasse. Diese Hochblüte hatte aber mit 1938 ein jähes Ende genommen. Mehr als die Hälfte der medizinischen HochschulprofessorInnen, ÄrztInnen und Studierenden wurde in die Emigration getrieben oder kam ums Leben. Dieser Bruch wirkte noch Jahrzehnte nach.

30 Jahre später ist rund um das Institut für Molekulare Pathologie (IMP) der Cluster »Vienna Biocenter« mit vier Forschungseinrichtungen, neun Biotech-Unternehmen und einer Fachhochschule entstanden. Insgesamt 40 ERC-Grants des Europäischen Forschungsrats sowie elf Wittgenstein-Preise gingen bisher an Forscherteams des Vienna Biocenter. Auch das Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften liegt in unmittelbarer Nachbarschaft – dessen wissenschaftlicher Leiter, der mehrfach ausgezeichnete Genetiker Josef Penninger, schlug 2002 Angebote aus Harvard und Stanford aus. Spätere Abwerbungsversuche anderer renommierter Einrichtungen – u.a. vom Max Delbrück Centrum in Berlin – lehnte er ebenfalls ab, feilschte aber im Gegenzug erfolgreich mit Bund und Stadt Wien um eine Budgeterhöhung.

Auf zur Weltspitze

»Hier ist der Platz, wo alles begonnen hat«, sagt Penninger und lässt den Blick über die Spiegelfassaden des Gebäudekomplexes schweifen. Die scheinbar wahnwitzige Idee, die Forschung in Wien wieder an die Welt­spitze zu treiben, trägt inzwischen Früchte. Rund 480 Organisationen mit 36.000 Beschäftigten sind derzeit am Standort Wien angesiedelt – mit jährlich etwa zehn Milliarden Euro Umsatz auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, zumal die Branche stetig wächst.

In St. Marx wird ein internationales Stammzellzentrum errichtet. Bis 2020 sollen für direkte Kosten und Investitionen 27,5 Millionen Euro zur Verfügung stehen, die vom Wissenschaftsministerium, von der Stadt Wien und vom IMBA selbst getragen werden. Im Endausbau sollen im Zentrum sieben unabhängige Forschungsgruppen arbeiten, dazu kommen noch drei bis vier Technologieteams. Ein Neubau ist nicht erforderlich: Die neu zu rekrutierenden Forscher werden im Plazageschoß des IMBA-Gebäudes untergebracht.

Weiters ist ein »Translational Research Center« vorgesehen, um Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung zu verwerten. Dafür sind in den nächsten zehn Jahren 40 Millionen Euro veranschlagt; vom Bund kommen 8,3 Millionen Euro, der Rest von der Industrie. Mit der Life-Science-Strategie »wollen wir unter die Top-3-Standorte weltweit vorstoßen«, gab Wissenschaftsminister Harald Mahrer die Marschrichtung vor.

Umsetzung im Ausland

Die Grundlagenforschung bewegt sich in Österreich bereits auf höchstem Niveau, wie viele Pharmakonzerne zu schätzen wissen. Sie greifen gerne auf die Entdeckungen kleinerer Biotech-Unternehmen zurück, zumal hier bereits vielversprechende Ergebnisse vorliegen. Wie viel Geld in den Forschungserfolgen steckt, weiß IMBA-
Direktor Josef Penninger aus eigener Erfahrung. »In Toronto habe ich ein kleines Gen erforscht«, beschreibt der Molekularbiologie beiläufig seinen Coup. Das aufgrund seiner Entdeckung entwickelte Medikament gegen Osteoporose spielt heute 3,2 Milliarden Euro Umsatz ein.

Penninger profitiert davon nicht, bei seiner 2006 in Wien gegründeten Firma Apeiron Biologics kündigen sich aber bereits ähnliche Erfolge an. Vor kurzem erhielt Apeiron von der EU die Marktzulassung für ein Medikament zur Behandlung des Neuroblas­toms, einer aggressiv verlaufenden Tumorerkrankung bei Kleinkindern. Eine durchaus bemerkenswerte Leistung: Eine Zulassung erreichte bisher erst ein österreichisches Unternehmen, Intercell erhielt sie 2009 für einen Impfstoff gegen die Japanische Enzephalitis.

Bild oben: Philipp von Lattorff, Boehringer Ingelheim: »Wir erhoffen uns viele interessante Anknüpfungspunkte auf verschiedensten Ebenen.«

Die Entwicklung markt-reifer Medikamente findet meist im Ausland statt. Fehlendes Risikokapital und mangelnde Infrastruktur macht Penninger dafür verantwortlich. Um Unternehmensgründungen zu erleichtern, investiert die Stadt Wien nun 20 Millionen Euro in die Renovierung des alten Institutsgebäudes für Molekulare Pathologie in St. Marx. Auf 1.100 Quadratmetern werden WissenschafterInnen 72 Laborplätze und 32 Büroarbeitsplätze zu günstigen Konditionen zur Verfügung stehen.
Als Hauptsponsor der Start­up-Labs vergibt der Pharmakonzern

Boeh­ringer Ingelheim sogenannte »Innovation Tickets«, die ausgewählten Jungunternehmen jeweils für ein Jahr die Räumlichkeiten finanzieren. Philipp von Lattorff erhofft sich davon »viele interessante Anknüpfungspunkte auf verschiedensten Ebenen«. Ab 2019 soll das Gebäude bezugsfertig sein.

In anregender Co-working-Atmosphäre sollen dort wichtige Schritte in der Weiterentwicklung der Medizintechnik und Arzneimittelanalyse ermöglicht werden. »Diese unmittelbare Nähe zwischen akademischer Forschung und Anwendung, die das Vienna Biocenter bietet, ist für alle Akteure äußerst gewinnbringend«, zeigt sich Genforscher Penninger zuversichtlich.

Graz und Innsbruck folgen

Auch in Graz tut sich diesbezüglich einiges. In den Räumlichkeiten der TU Graz erweiterte das steirische Pharmaunternehmen RCPE das seit zehn Jahren bestehende Forschungszentrum mit einer Pilotfabrik. Das 600 m2 große Areal beherbergt einen Reinraum sowie Bereiche für die Arbeit mit explosiven und hochaktiven Substanzen. Künftig werden neue Wirkstoffe gleich in realen Kombinationen, nicht wie bisher mit Placebos, für industrielle Fertigungsprozesse getestet. Die so entwickelten Medikamente könnten bis zu zwei Jahre früher auf den Markt kommen, erklärt Johannes Khinast, wissenschaftlicher Geschäftsführer des RCPE: »Wir arbeiten mit neun der Top-10-Pharmafirmen zusammen«, darunter Astra Zeneca, Novartis und Pfizer.

Dazu kommen rund 100 weitere Unternehmen; die Software zur Optimierung der Prozesse stammt beispielsweise von dem britischen Spezialisten PSE. Das Tool ermög­licht auf Basis sogenannter mechanistischer Modellierung, experimentelle Daten so zu kombinieren, dass Eigenschaften und Verhalten pharmazeutischer Produkte und ihrer Herstellungsprozesse vorhergesagt werden können. RCPE beschäftigt aktuell 140 MitarbeiterInnen, der jährliche Umsatz betrug zuletzt knapp 12 Millionen Euro. Mit den neuen Labors rechnet man sich einen weiteren Wettbewerbsvorteil aus.

An der Medizinischen Universität Innsbruck nahmen heuer zwei neue Christian-Doppler-Labors ihre Tätigkeit auf. Unter der Leitung von Gottfried Baier und Guido Wollmann wird die Forschung an onkolytischen und immuntherapeutischen Therapieansätzen intensiviert. Die Finanzierung erfolgte durch die öffentliche Hand sowie durch Kooperationen mit beteiligten Firmen, u.a. dem japanischen Pharma-Konzern Daiichi Sankyo und dem US-Unternehmen AbbVie.

Sogwirkung erwartet

Eine wichtige Standortentscheidung steht indessen noch aus: Wien konkurriert um den künftigen Sitz der Europäischen Arzneimittelagentur EMA, die wegen des Brexit aus London abziehen muss, mit 20 anderen Bewerbern. Neben des hohen Prestiges ist auch der wirtschaftliche Faktor einer Ansiedlung enorm.

Mit 900 MitarbeiterInnen ist die EMA die zweitgrößte EU-Agentur und verfügt über ein Jahresbudget von 322 Millionen Euro. An den Sitzungen nehmen jährlich rund 36.000 ExpertInnen teil. Die Wirtschaftskammer beziffert die damit verbundene zusätzliche Wertschöpfung mit 133 Millionen Euro pro Jahr. Aufgabe der Agentur ist es, die öffentliche Gesundheit durch Bewertung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln zu schützen und zu stärken. Die Arzneimittel, die durch die EMA zur Marktzulassung empfohlen werden, umfassen 27 % des weltweiten pharmazeutischen Marktes.  Erfreulich wäre auch eine Sogwirkung auf andere Player der Branche. Zu den mehr als 720 Unternehmen, die am Standort Österreich bereits in den Bereichen Pharma, Medizinprodukte und Biotechnologie tätig sind, könnten somit noch einige dazukommen.


Fakten: Steuerzuckerl für Unternehmen

In ihrem ambitionierten, aber letztlich gescheiterten Arbeitsprogramm sah die Regierung auch eine Erhöhung der Forschungsprämie auf 14 % ab 1. Jänner 2018 vor. Schon mit derzeit 12 % steuerlicher Erleichterung für Ausgaben in Forschung und Entwicklung liegt Österreich europaweit im Spitzenfeld. Insgesamt 1,2 Milliarden Euro lässt sich die Republik das kosten. Jeder Euro, der in die Forschung investiert wird, löse Ausgaben von bis zu 2,26 Euro aus, heißt es in einer gemeinsamen Studie des IHS, KMU Forschung Austria und WPZ Research im Auftrag des Finanzministeriums. »Wir haben in den vergangenen fünf Jahren fast 11.000 zusätzliche Spitzenforschungsplätze nur durch die Forschungsprämie geschaffen«, erklärt der inzwischen vom Staatssekretär zum Wirtschaftsminister aufgestiegene Harald Mahrer.

Bei den Forschungsausgaben belegt Österreich laut Eurostat-Angaben den fünften Platz, noch vor Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Die Prämie wird von rund drei Viertel aller forschungstreibenden Unternehmen in Österreich in Anspruch genommen. Eine Evaluierung der Wirkung der Prämie, die erst im Zuge der Steuerreform 2015/16 von 10 auf 12 % angehoben wurde, zeigte »positive Effekte«. Nicht relevant ist die Förderung allerdings bei Unternehmen, bei denen Forschung und Entwicklung schon bisher nur eine geringe Rolle spielte – eine konkrete Anreizwirkung sei hier »kaum gegeben«, so der Bericht.

Bei international tätigen, forschungsintensiven Unternehmen erkannten die an der Evaluierung beteiligten Institute dagegen sogar Effekte auf die Standortsicherung. So gaben 144 der über 1.000 befragten Unternehmen an, ihre F&E-Aktivitäten wegen der Forschungsprämie nach Österreich verlagert oder hier verstärkt zu haben. Die an der Untersuchung teilnehmenden Betriebe stellten nach eigenen Angaben zwischen 2010 und 2015 rund 10.400 zusätzliche hoch bzw. höher qualifizierte MitarbeiterInnen ein.

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