Der Wandel in der Wirtschaft und Gesellschaft durch vernetzte Maschinen und IT-Services hebt Produkte und Dienstleistungen auf eine neue, digitalisierte Ebene – quer durch alle Branchen.
In dem Report-Publikumsgespräch am 13. Oktober im Wien Energie Kundendienstzentrum Spittelau diskutierten Expertinnen und Experten, wie Unternehmen und Infrastrukturbetreiber ihre Rollen neu definieren und ihr Geschäft mit innovativen Services und Modellen verändern. Partner des Gesprächs waren Wien Energie, Alcatel-Lucent Enterprise (ALE) und Navax.
Über Fachkräftebedarf, Bildung, Innovationskraft und den Wirtschaftsstandort Österreich sprachen mit Martin Szelgrad, Report (+) PLUS, Valerie Höllinger, Geschäftsführerin BFI Wien; Michael Strebl, Vorsitzender der Wien Energie-Geschäftsführung; Franz Grohs, Vorsitzender der Geschäftsführung T-Systems; Christian Doleschal, Geschäftsführer ALE Austria, und Oliver Krizek, CEO und Eigentümer der Navax Unternehmensgruppe.
(+) plus: Was haben die heimische Wirtschaft und unsere Gesellschaft vom Trend Digitalisierung zu erwarten? Was kommt auf uns zu?
Valerie Höllinger, BFI Wien: Digitalisierung – das sind wir alle, denn wir kommunizieren und senden unsere Daten ständig und überall. Das beginnt bei mir schon beim Morgensport, wird bei der Fahrt mit dem Auto in die Arbeit fortgesetzt und endet in Zukunft vielleicht am Abend bei der Waschmaschine, die bei entsprechender Programmierung mit Strom vom günstigsten Anbieter gespeist werden wird. Irgendwann wird dann auch noch automatisch Waschmittel zugestellt, sobald es benötigt wird.
Ich komme gerade von einer Reise in den Silicon Valley: Dort stellt man sich nicht die Frage, ob all diese Technologien tatsächlich kommen – sondern, wann es soweit ist. Der Begriff der Digitalisierung wird zwar nicht verwendet, es herrscht aber der Konsens: Die Technologie kann alles und nun geht es darum, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln.
Die Digitalisierung verändert unsere persönlichen Lebensbereiche ebenso wie die Büros und Fabriken. Auch Sparten wie der Fremdenverkehr und die Landschaft sind von dem massiven Wandel betroffen. Ich bin überzeugt, dass wir das als Riesenchance sehen sollten. Jede technologische Veränderung gefährdet Jobs, ist aber gleichzeitig auch ein Motor für neue Beschäftigung. Aus- und Weiterbildung sind der Schlüssel dazu. Wir sollten uns nicht vor Robotern fürchten, sondern lernen, sie zu bauen.
{youtube}TMk076QTlRU{/youtube}
(+) plus: Kann der enorme Bedarf an Fachkräften dazu überhaupt gestillt werden?
Valerie Höllinger: Es ist theoretisch möglich, wird aber sehr schwer werden. Einer Studie von Roland Berger zufolge werden wir bis 2030 gut 50 Millionen IT-Fachkräfte mehr in Europa brauchen. Wir haben für die Schulung dieser Menge nun 13 Jahre Zeit. Derzeit gibt es einen absoluten Fachkräftemangel in der IT und eigentlich auch in allen anderen Bereichen, welche die Digitalisierung betreffen.
(+) plus: Herr Strebl, Sie sind am 1. Oktober als neuer Vorsitzender der Wien-Energie-Geschäftsführung angetreten. Was bedeutet die Digitalisierung für Ihre Branche?
Michael Strebl, Wien Energie: Ich bin überzeugt, dass kein Stein auf dem anderen bleiben wird. Die Digitalisierung wird die Energiebranche ebenso massiv verändern, wie es bereits in anderen Wirtschaftssparten wie in der Telekommunikation, im Fernsehen oder Verlagswesen passiert ist. Ein Wählscheibentelefon mit Viertelanschluss – das ist noch gar nicht so lange her.
Ich kann hier ebenfalls Silicon Valley als Beispiel nennen. Ich habe eine Zeitlang dort gearbeitet und den Service eines Energieversorgungsunternehmens in San José kennengelernt, das bei Stromausfällen – die dort ja häufiger vorkommen – alle nötigen Informationen dazu an die Kunden online und mobil weiterleitet. Die Info zur veranschlagten Reparaturdauer wird ebenso an die Nutzer von Plattformen für Restaurantbuchungen durchgegeben – Gastwirte können so direkt mit Alternativangeboten reagieren. Solche durchgängigen Prozesse über Unternehmen und Branchen hinweg bedeutet für mich Digitalisierung. Das ist die neue Welt der Energieversorger mit Mehrwert für die Kundinnen und Kunden. Dort wollen wir hin. Wir sehen dies als Chance und Herausforderung und werden die Veränderungen mitgestalten.
{youtube}q-SltK3ggu0{/youtube}
(+) plus: Sie haben in den vergangenen Jahren in Salzburg Pilotprojekte in den Bereichen Smart Grid und Gebäudevernetzung geleitet. Was waren wesentliche Erkenntnisse daraus?
Michael Strebl: Das Smart-Grid-Pilotprojekt in Köstendorf fokussiert im Wesentlichen auf zwei unterschiedliche Ebenen. In der Digitalisierung auf technischem Level wurden die Abläufe in der Netzführung untersucht und wie sich die Einbindung von lokalen Stromerzeugern gestalten lässt. Es ging um die Vernetzung von unterschiedlichen Systemen wie Photovoltaik, Speicher und Elektrofahrzeuge. Dies zu orchestrieren, zusammenzuführen und intelligent zu verknüpfen ist zu der großen Aufgabe heute für die Netzbetreiber geworden. Das Ergebnis des Piloten: Es ist möglich und kann teilweise auch Investitionen in den Netzausbau ersparen. Auf Kundenseite wiederum ging es um neue Arten der Kommunikation und Erreichbarkeit auf beiden Seiten. Für die Energieversorger bedeutet das, näher an die Kunden zu rücken.
(+) plus: Wie ernsthaft sollten sich Unternehmen mit der Digitalisierung beschäftigen, Herr Grohs?
Franz Grohs, T-Systems: Es ist allen bewusst, dass man sich gegen diese Entwicklungen nicht mehr wehren kann – sie sind ja schon da. Andere Regionen sind in der Implementierung von digitalisierten Geschäftsmodellen Österreich schon weit voraus. Wenn wir in Europa versuchen, uns von diesen Entwicklungen abzuschotten, dann mag das eine Zeitlang funktionieren, das Ende wäre aber nicht aufzuhalten – denken Sie nur an die Textilindustrie in Vorarlberg. Ich rate, aktiv zu sein und dem Phänomen Digitalisierung mit Offenheit zu begegnen. Jedes Unternehmen und jede Person sollten sich fragen, welche Vorteile man aus dieser Entwicklung ziehen kann. Es betrifft jede Branche, jeden Dienstleister, von der Industrie angefangen, die sich – Stichwort Industrie 4.0 – bereits früh damit beschäftigt hat, bis zur öffentlichen Verwaltung.
{youtube}VNq_cVC613I{/youtube}
(+) plus: Haben die Fachbereiche in den Unternehmen das Know-how, Prozesse mittels IT neu zu erfinden oder neu aufzusetzen?
Franz Grohs: Die großen Unternehmen haben dazu ihre IT-Abteilungen. Schwieriger ist es für mittelständische und kleinere Unternehmen, die aber auf Partner und Dienstleister als Technologie-Integratoren setzen können. Solche Projekte funktionieren aber nur, wenn alle NutzerInnen und AnwenderInnen in den Fachabteilungen gemeinsam mit der Unternehmensführung entsprechend offen eingestellt sind und mitgestalten wollen. Dieses Thema lediglich dem IT-Leiter in einem Unternehmen umzuhängen, wäre zu wenig. Auch die Einrichtung eines Chief Digital Officer in einem Management Board ist eher kontraproduktiv – wenn es nur einer macht, ist das die beste Ausrede für alle anderen.
Die IKT-Industrie bietet dann die Hebel für alle diese Veränderungen, denn ohne Telekommunikation gäbe es keine vernetzten Daten. Die Verarbeitung dieser ist dann die große Herausforderung. Auch die Smart Meter im Energiebereich sind Hebel für eine Veränderung von Geschäftsprozessen und -modellen. Wir arbeiten derzeit mit der EVN in Niederösterreich an einem Endkundenportal, um aus den Daten des Stromzählers sinnvolle Informationen aufzubereiten. Über das Portal können den Kunden dann verschiedenste Angebote offeriert werden.
(+) plus: Was bedeutet Digitalisierung in der Kommunikationsindustrie?
Christian Doleschal, Alcatel-Lucent Enterprise: In unserer Branche waren alle Prozesse ursprünglich auf die Sprachkommunikation ausgerichtet. Diese wurde nach und nach digitalisiert, um Kosten einzusparen und Mehrwert zu schaffen. Im Consumerbereich haben wir heute Chat- und Videofunktionen auf den Geräten, bei Unternehmenslösungen wiederum schauen wir uns sehr genau an, wo ein zusätzlicher Nutzen erzielt werden kann. Ich geben Ihnen ein Beispiel: In vielen Hotelzimmern gehören Festnetztelefone heute zwar zur Standardausstattung einer gewissen Sterne-Kategorie – sie werden aber nicht mehr benutzt.
Dafür hat ein Großteil der Gäste ein mobiles »Smart Device«. Eine App darauf könnte nun Teil des Services eines Hotels sein. Wir arbeiten eng mit Partnerfirmen zusammen, um solche Services zu ermöglichen. Bereits bei der Anmeldung können die Nutzer dann die Hotel-App auf ihr Smartphone oder Tablet herunterladen. Interessierte werden so mit Informationen zum Aufenthalt versorgt und können mit dem Handy auch über das Hotel-WLAN telefonieren. Mehrwert für den Gast und für das Hotel zu schaffen – dieses Ziel muss erfüllt sein. Digitalisierung bedeutet die Vernetzung von Menschen, Maschinen, und Sensoren zu einem »Internet of Things«.
{youtube}Eq9jUSfHNRs{/youtube}
(+) plus: Welche Chancen und Risiken sehen Sie dabei?
Christian Doleschal: Das Beispiel aus der Hotellerie zeigt auf, wie mit neuen Services die Beziehung zu den Kunden verbessert und gestärkt werden kann. Es wird auch mehr On-Demand-Geschäft entstehen – es wird nur das bezahlt, was konsumiert wird. In der IT-Industrie ist dies ja bereits seit längerem ein Vertriebsmodell und es gibt zunehmend Beispiele aus anderen Branchen. So rechnen Aufzugshersteller bereits Aufzüge mit den Hausverwaltungen nach angefahrenen Stockwerken und Betriebsstunden ab. Wir setzen auf das On-Demand-Modell auch bei Büronetzwerken in der IT: Verrechnet werden nur jene Geräte und Features, die etwa ein Anbieter von Gebäudeinfrastruktur auf seinem Campus-Gelände im Moment vermietet.
Für uns ist es wichtig, all diese Geschäftsprozesse mit entsprechender Sicherheit zu gestalten, um stets geschützte Datentransfers zu garantieren. Denn das Fundament der Digitalisierung ist ein stabiles und auf die Zukunft gerichtetes Netzwerk. Die größte Herausforderung für Unternehmen ist nun, den Umfang und die Folgen der Digitalisierung selbst mit all ihren Auswirkungen zu erkennen. Die Veränderungen erfassen in der Regel alle Ebenen eines Unternehmens. Hier braucht es eine fundierte Beratung, um das gesamte Potenzial der Veränderungen sichtbar zu machen.
(+) plus: Wie weit sind Unternehmen in Österreich bereits auf dem Weg der Digitalisierung vorangeschritten?
Oliver Krizek, Navax: Ich finde, Österreich schneidet im internationalen Vergleich nicht so schlecht ab. Gerade die öffentliche Hand ist da überraschend gut aufgestellt: Umsatzsteuervoranmeldung und viele andere Wege zum Finanzamt können allesamt online erledigt werden. Das gibt es in vielen anderen europäischen Ländern nicht. So kann auch die Registrierung eines Unternehmens in Deutschland zwei bis drei Wochen dauern – in Österreich funktioniert dies dagegen sehr rasch.
Die Qualität, die in der Informationstechnologie hierzulande eingesetzt wird, ist vielen Menschen aber nicht bewusst. Man merkt das meist erst dann, wenn man im Ausland geschäftlich tätig ist. Dennoch hinken wir in bestimmten Bereichen wie in der Nutzung von flexiblen Cloud-Lösungen, die für die Digitalisierung wichtig sind, weit nach. Bei großen Cloudanbietern wie Microsoft oder Salesforce.com ist Österreich Schlusslicht in Europa. Dies hängt viel mit einem fehlenden Vertrauen zusammen, auch wenn die Menschen oft bereitwillig ihre Privatsphäre in Facebook und Co komplett aufgeben. Gerade am Erfolg von Unternehmen wie Amazon oder Google sieht man, wie die IT-Industrie mit neuen Geschäftsmodellen Schritt für Schritt alle Wirtschaftszweige durchdringt.
{youtube}hdZaIJQecqI{/youtube}
(+) plus: Wo sehen Sie die großen Herausforderungen?
Oliver Krizek: Die größte Herausforderung ist sicherlich der Bildungsbereich. Wir verspüren einen extremen Fachkräftemangel in den Technologiesparten. Unsere neuen IT-Mitarbeiter und -Mitarbeiterinnen kommen fast ausschließlich aus den umliegenden EU-Ländern. Das Ausbildungsangebot ist zu diesen Technologiethemen in Österreich eigentlich nur traurig. Gut funktionieren noch die HTLs, die eine sehr gute und leistungsbereite Basis für den Arbeitsmarkt heranbilden. Gesamtheitlich sollte im Bildungsbereich in Österreich aber wesentlich mehr passieren. Dabei sehe ich auch die Arbeitnehmer selbst gefordert, sich offen für neue Themen zu zeigen. Da vermisse ich oft die Bereitschaft, außerhalb der Komfortzone in neuen Aufgaben und neuen Bereichen zu agieren.
(+) plus: Gibt es nicht genügend Aus- und Weiterbildungsangebote? Was bietet das BFI Wien dazu?
Valerie Höllinger: DDas Thema Bildung beginnt ja mittlerweile schon beim Vermitteln von Digitalkompetenzen im Kindergartenalter. Meiner Wahrnehmung nach ist der Umgang mit Computern mittlerweile nach Lesen, Schreiben und Rechnen die vierte Kulturkompetenz, die Kindern gelehrt werden sollte. Denn auch wenn junge Menschen schlafwandlerisch sicher ihre Smartphones und Konsolen bedienen können, heißt das noch lange nicht, dass sie für die moderne Arbeitswelt fit sind. Jede Disziplin sollte mit Digitalkompetenzen versehen werden – das fängt bei traditionellen Berufen an und reicht bis zu Berufsbildern wie Data-Scientist und Robotik-Spezialist. Da verschlafen wir gerade alle Züge auf der Bildungsschiene. Der Grund dafür ist relativ klar: Solange das Thema Schulbildung in den unterschiedlichen Körperschaften Bund, Länder und Gemeinden zerklüftet verwaltet wird, sind kaum Veränderungen des Bildungssystems möglich. Man bräuchte eine Verfassungsreform, allein um Zuständigkeiten zu klären.
Das BFI stellt sich derzeit mit aller Kraft im Digitalbereich auf. So haben wir eine Digitale Akademie gegründet, in der wir gerade auch Bereiche aufbauen, die ursprünglich an der TU gelehrt wurden. Dass es dort Studienbegrenzungen genau bei diesen Themen gibt, versteht ja niemand. Ich arbeite auch intensiv an der Entwicklung nichtakademischer Ausbildungen und deren Akzeptanz in der Wirtschaft. Wir bilden gerne – müssen aber auch wissen, wohin. Es bedarf noch einer systematischen Bearbeitung des Arbeitsmarktes, um auch die Wünsche der Unternehmen zu hören. Das ist als Aufforderung an die Wirtschaft zu verstehen.
(+) plus: Was raten Sie Unternehmen?
Valerie Höllinger: Jedes Unternehmen benötigt eine individuelle digitale Agenda. Welche Faktoren werden sich ändern? Mit welchen Auswirkungen? Jedes Berufsbild muss heute mit Digitalkompetenz ausgestattet sein – ebenso wie mit Sozialkompetenzen oder Teamfähigkeit. Um die Technologie geht es nicht, die ist sowieso da. Im Mittelpunkt stehen immer noch die Menschen, die damit umgehen müssen.
(+) plus: Herr Strebl, was raten Sie Unternehmen auf dem Weg der Digitalisierung?
Michael Strebl: Digitalisierung bedeutet, mit Hilfe von Technologie mit noch besseren Services noch näher an die Kunden zu rücken. Veränderungen lassen sich stets am besten stemmen, wenn man über die Chancen spricht. Es gibt dazu ein schönes Sprichwort: »Rede nicht über das Bauen eines Schiffes, sondern wecke die Sehnsucht nach dem weiten Meer.
Fotos zur Diskussion unter: https://www.flickr.com/photos/award2008/sets/72157673940584202/