Sonntag, Juli 21, 2024

Peter Lieber ist mehrfacher Unternehmensgründer in der Softwarebranche und Präsident des Verbands Österreichische Software Industrie (VÖSI). Mit Report(+)PLUS sprach er über Einzelkämpfertum, Internationalisierung und die Zukunft des Codings.

(+) plus: Wie ist die heimische Softwareindustrie strukturiert? Welche Unternehmensgröße dominiert?

Peter Lieber: Die Branche der Informations- und Kommunikationstechnologie ist seit Jahren bereits größer als der Tourismus. Leider ist der Bereich Software in den vergangenen Jahren geschrumpft. Es gibt zwar auch in Österreich einige Shootingstars – mehrheitlich passieren die großen Entwicklungen aber anderswo. Eines der herausragenden Beispiele ist das AIT, das eine Software entwickelt hat, die in selbstfahrenden Fahrzeugen weltweit eingebaut ist. Sogar das Google Car und generell alle Fahrzeuge, die Objekterkennung integriert haben, setzen auf die Lösung aus Österreich. AIT hat es geschafft, diese Arbeit international zu vermarkten und auch Lizenzgebühren dafür zu bekommen. Das ist in dieser Branche nicht selbstverständlich.

Wir haben schätzungsweise 200 bis 400 Unternehmen in Österreich, die primär von Software- und Softwareentwicklung leben. Alle anderen verkaufen in einem gemischten Portfolio auch Server und Notebooks oder passen Websites in Wordpress oder in anderen Umgebungen an. Dies ist auch kein eigentliches Softwarethema mehr, sondern die Arbeit von Marketingunternehmen und Agenturen geworden. Bei Content-Management-Systemen oder auch mobilen Apps hat sich die Softwareindustrie bereits selbst abgeschafft. Heute gibt es IT-Werkzeuge, die das Erstellen von Seiten und Applikationen auch ohne Expertenwissen erlauben.

Allgemein geht der Trend in der Branche klar in Richtung der Ein-Personen-Unternehmen. Über 90 % – also im Vergleich zu anderen Wirtschaftsbereichen überproportional viel – der Unternehmen sind EPU. Die klassisch von einem Arbeitgeber zu Verfügung gestellten Arbeitsmittel haben viele Softwareentwickler ja nicht. Mit Ausnahmen in der Arbeit für Konzerne, die geschlossene sichere Arbeitsumgebungen erfordern, arbeiten die Menschen unabhängig. Ihr Kapital ist ihr Know-how, das, was sie im Kopf haben. Dazu müssen sie nicht unbedingt angestellt sein. Dementsprechend diskutieren wir als Verband und auch in der Wirtschaftskammer mit der Arbeiterkammer und den Sozialversicherungen. Die Regelungen dazu sind leider sehr starr und die Ansichten teilweise antiquiert.

(+) plus: Ist die Selbstständigkeit tatsächlich ein Wunsch von Programmierinnen und Programmierern? Anderswo wird dies kaum freiwillig angestrebt und ist eher als flexiblere Kostenrechnung der Unternehmen zu verstehen.

Lieber: Wir haben viele kreative Köpfe in der Softwarebranche, die sich auch in der Wahl ihrer Projekte frei entfalten wollen. Dieses Bedürfnis nach Freiheit drückt sich im Trend zur Selbstständigkeit aus und der Markt ist dafür auch groß genug. Es gibt unglaublich viele Menschen und Unternehmen, die gerne Softwareentwickler hätten. Damit meine ich eigentlich die gesamte Wirtschaft, da heute ja nichts mehr ohne Software funktioniert. Nicht alle aber wollen dafür gleich ein Softwareunternehmen mit entsprechend hohen Kosten beauftragen. Gute EPU sind erfahrene Leute, die unternehmerisch auftreten können und das Risiko für den Auftraggeber gering halten.

Auch sind die Stundensätze teilweise extrem hoch. Ein freiberuflicher IT-Dienstleister kann zwischen 50 und 85 Euro verlangen. Ich bin sogar schon auf Leute getroffen, die mit ihrem Spezialwissen auch einen Stundensatz von 120 Euro verrechnen konnten. Solches Wissen ist in bestimmten Fällen sehr gefragt, als Unternehmen könnte ich es mir anders vielleicht gar nicht leisten. Die IT ist ja derart raschen Veränderungen unterworfen, dass man mit dem Trainieren der eigenen Mannschaft kaum noch nachkommt.

Natürlich gibt es auch Selbstständige, die am Existenzminimum kratzen. Aber woran liegt das? Meist mangelt es an den paar handwerklichen Fähigkeiten, die zum Unternehmertum gehören: das Schreiben von Rechnungen oder das Verkaufen der eigenen Dienstleistung zu einem vernünftigen Wert. Wenn ein Entwicklungsprojekt für 2.000 Euro angeboten wird, dieses dann aber 200 Stunden Aufwand erfordert, kann man sich den Ertrag, der bei Abzug aller Kosten übrigbleibt, ausrechnen. Mir geht es vor allem darum, zumindest die Wahlfreiheit eines Arbeitsverhältnisses zu haben. Zu sagen, Softwareprojekte können nur von Angestellten abwickelt werden, ist unsinnig und kontraproduktiv.

Ein EPU ist so etwas wie ein Pflänzchen, das eines Tag auch zu einem größeren Unternehmen aufgehen kann. Deswegen setze ich mich in einer weiteren Funktion in der Wirtschaftskammer, Fachgruppe UBIT, für die Einzelunternehmer ein. Viele EPU beginnen sich jetzt zu vernetzen. Der nächste Schritt ist dann vielleicht die Aufnahme erster Mitarbeiter und eine industrielle Stufe zu erklimmen. Diesen Unternehmen kann der VÖSI mit seinem größeren Netzwerk auch bei der Internationalisierung helfen.

(+) plus: Wie sehen die Finanzierungsmöglichkeiten für kleinere Softwaeentwicklungen aus?

Lieber: Im Gegensatz zu der derzeit über die Maßen gehypten Startup-Welle, in der eine Dropout-Rate von gut 90 % vorherrscht, haben wir bei den EPU eine Erfolgsquote von rund 50 bis 60 %. Jeder und jede Zweite sperrt nach drei Jahren wieder zu. Bei den Startups ist dagegen die Erfolgsquote mittlerweile mit Lottospielen vergleichbar. Schauen Sie sich dazu nur die hohe Anzahl der Apps in den Stores an. So viele massenmarktaugliche Apps kann es gar nicht geben.

Im Bereich Business-to-Business gibt es keine so populären Finanzierungen wie Crowdfunding. Hier greifen oft andere Förderungen. Auch die Forschungsprämie des Finanzministeriums ist mit theoretisch 10 bis 15% Forschungs- und Entwicklungsanteil eines Projektvolumens interessant. Gleichzeitig sind die Rahmenbedingungen dafür aber so eng gesteckt, dass dies kaum erfüllt wird. Real werden meist sechs bis acht Prozent ausgeschüttet – immer noch mehr als die durchschnittliche Innovationsrate von rund drei Prozent in Österreich. Um international bestehen können, sollte die österreichische Wirtschaft zumindest zehn bis 15 %­
vorweisen können.

(+) plus: Liegt die Zukunft der Softwareentwicklung im automatisierten Coding?

Lieber: Auf jeden Fall, denn Coding im Sinne von Schreiben von Textzeilen ist schon sehr out. Heute beschäftigen wir uns mit objektorientierem Programmieren, in dem Prozesse und Funktionen über grafikbasierte Entwicklungswerkeuge gestaltet werden. In vielen kritischen Systemen, in denen es auch um Leib und Leben geht, wie beispielsweise im Automotivebereich, sind die Anforderungen an Software und die Komplexität massiv gestiegen. Es ist eine große Herausforderung für die Hersteller, wenn ein ABS-System 50 Millionen Codezeilen im Inneren hat. Wenn da nur ein Bit umfällt, kann ein Unfall passieren. Eine jüngst vorgestellte Norm für funktionale Sicherheit verbietet daher Code, der eigentlich in einem Fahrzeug nicht ausgeführt werden darf. Das klingt trivial, ist aber durch die historisch gewachsenen und ständig erweiterten und verbesserten Systeme eine Riesenaufgabe für die Industrie.

Mit einer modellbasierten Softwareentwicklung ist der Code nicht der eigentliche Gegenstand, sondern nur das Ergebnis von bestimmten Konfigurationen und Parametern. Der Code ist das Ergebnis eines abstrakteren Modells, das dabei hilft,  diese Komplexität besser beherrschbar zu machen. Wir stehen dazu auf einem Scheideweg hin zu grafischen Modellen, die maschinengeneriert  Code in einer Programmiersprache erzeugen. Der nächste Schritt sind dann Tools, die auch auf Modellebene debuggen, also Fehler beheben. Damit verlässt die Softwareentwicklung die Ebene des rein menschlichen Handwerks, also werden auch Codierer (»reine Codeschreiber«) bald von Robotern ersetzt werden. Unsere Softwareentwickler­Innen sind jetzt schon beleidigt, wenn ich ProgrammiererIn oder CodiererIn zu ihnen sagen würde.

Wenn wir von Zukunft sprechen: Für die Zukunft unserer Industrie hat der VÖSI  ein Projekt gestartet, mit dem wir bei Schülerinnen und Schülern das Interesse an der IT wecken wollen. Mit »Software Makers« wollen wir im Rahmen von Schulprojekten mithilfe von Softwarewerkzeugen und auch dem programmierbaren Raspberry PI für einen Wow-Effekt sorgen und zeigen, wie attraktiv diese Branche sein kann. Unser Ziel ist es, 1.000 Raspberrys zu finanzieren und das Projekt langfristig mit Partnern auf die Beine zu stellen. Eines dieser Geräte kostet weniger als ein Schulbuch. Die Lerneffekte sind allerdings wesentlich größer. Es ist in unserer Branche systemimmanent, darüber nachzudenken, wie man die Welt verändern kann.

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