Was den 856 Millionen Euro schweren Technologiedienstleister Nagarro vom Rest des Marktes unterscheidet: Vera Reichlin-Meldegg, Global Marketing Manager und Service Region Custodian für Österreich, spricht über ein unkonventionelles Organisationsdesign und Freiraum im Projektgeschäft.
Worin unterscheidet sich das Design von Nagarro von regulären Organisationsmodellen?
Vera Reichlin-Meldegg: Bei Nagarro werden Rollen und Funktionen anders gelebt, als in klassischen Hierarchien vorgesehen ist. Es gibt nicht den einen Geschäftsführer pro Land, wie er üblicherweise in einem Organigramm vorgesehen ist, ebenso wenig gibt es eine Firmenzentrale. Wir sprechen dabei nicht von einem holokratischen Modell, sondern von einer »truly global company«. Das Schlagwort bedeutet, dass unsere Arbeit nicht an der Landesgrenze Österreichs aufhört, sondern unsere Teams auch stark international zusammengesetzt sind. Nagarro ist in 34 Ländern tätig – aber es ist egal, wo meine Kolleg*innen sitzen, was ihre Herkunft, Hautfarbe oder Landessprache ist. Weniger wichtig ist auch, zu welcher Zeit Arbeit erledigt wird – Hauptsache sie ist bis zu einem bestimmten Zeitpunkt fertig. Truly global bedeutet, einander mit Respekt und Vertrauen zu begegnen und Vorurteile abzubauen.
Diese Fähigkeit zur Zusammenarbeit, gepaart mit einem »Entrepreneurial Mindset« – der Ausdruck passt für mich besser als »unternehmerisches Denken« – macht unser Organisationsdesign aus. Mit der fortschreitenden Digitalisierung muss dem Menschen Freiraum für innovatives Arbeiten und für Vorschläge und Ideen den Kunden gegenüber eingeräumt werden. Jede Einheit, jedes Projekt und jede*r Mitarbeiter*in bei Nagarro soll letztlich wie ein Start-up agieren können. Das Entrepreneurial Mindset bildet den stabilen Rahmen, damit Teams uneingeschränkt arbeiten können.
Wie sieht Ihre Rolle als Service Region Custodian aus?
Reichlin-Meldegg: Unser Tätigkeitsfeld ist global nach Serviceregionen unterteilt. Österreich ist eine dieser Regionen. Die Rolle des Service Region Custodian teile ich mir mit meiner Kollegin Alexandra Sumper, die ebenso wie ich bereits bei Anecon tätig war (Anm. Anecon wurde 2018 mit Nagarro fusioniert). Wir kennen das Unternehmen gut, sind auch global mit Kolleg*innen gut vernetzt, und achten nun auf einheitliche Prozesse nach innen und auf die Unternehmenskultur in den Teams. Wir haben Finanzzahlen ebenso wie die Zufriedenheit von Mitarbeitenden und Kunden im Fokus – und steuern in einem weltweiten Team von Service Region Custodians den Informationsfluss in der Organisation, etwa bei HR- oder Prozess-Themen.
Was sind die Gründe, herkömmliche Organisationsmodelle zu verlassen? Und wie geht es Ihren Kunden damit? Der Ansatz wird wahrscheinlich auch nicht für jedes Projekt passen.
Reichlin-Meldegg: Rückblickend hat Corona einen enormen Schub für die Digitalisierung im beruflichen und im privaten Umfeld der Menschen gebracht. Die IT-Branche hat davon auch profitiert, denn viele mussten sich von heute auf morgen auf virtuelle Zusammenarbeit und hybride Arbeitsumgebungen umstellen. Wir sehen, dass die Geschwindigkeit technologischer Veränderungen weiterhin zunimmt. Unternehmen müssen für diese Veränderungen gewappnet sein. Wir wollen bei Nagarro vorbildhaft zeigen, wie schnell, agil und innovativ eine Organisation sein kann. Und wir wollen auch andere dahingehend unterstützen.
Falls Kunden noch ein bisschen in der traditionellen Art und Arbeitsweise verhaftet sind, können wir sie langsam an diese Prozesse und eine neue Zusammenarbeit heranführen. Viele – auch Analysten und Investoren – sehen anfangs unser Konzept, auf klassische Rollentitel und Hierarchien zu verzichten, skeptisch. Aber wir stellen Kultur, Werte und den Menschen konsequent in den Mittelpunkt von Geschäftsberichten und auch Kapitalmarkttagungen.
Nagarro hat 2022 ein Umsatzwachstum von 55 Prozent innerhalb eines Jahres vorweisen können. Wir zählen zu den am schnellsten wachsenden Unternehmen unserer Branche. Und wir haben als führendes digitales Unternehmen die Verantwortung, mit der Zunahme von Technologie in unseren Leben auch auf die Menschlichkeit zu achten. Würden Menschen nur noch auf Technologie setzen, leidet ihre Innovationskraft darunter.
Welcher Vorteil erwächst Ihren Unternehmenskunden daraus?
Reichlin-Meldegg: Produkte oder Dienstleistungen können schneller und innovativer gestaltet werden. Unsere Unternehmenskunden müssen dabei aber nicht unser Organisationsdesign leben. Sie profitieren von einer agilen Teamarbeit mit ihrem Partner Nagarro. Wir haben weiterhin einen Projekt-CEO für die Leitung eines Kundenprojekts, daneben aber keine nach außen getragenen Senior- und Junior-Rollen in der Entwicklung oder in der IT-Administration. Das ermöglicht eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Wenn man sehr breit bei Fähigkeiten, Kulturkreisen und Persönlichkeiten aufgestellt ist, können Aufgaben aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln gelöst werden. Der Erfolg unserer Projekte wird auch nicht vorrangig am Umsatz gemessen, sondern in erster Linie an der Kundenzufriedenheit.
Wie lässt sich diese Flexibilität strukturell in der Zusammensetzung eines Teams umsetzen?
Reichlin-Meldegg: Jeder einzelne unserer 19.000 Mitarbeiter*innen ist natürlich einem Kernthema zugeordnet, wie etwa »Java Developer«. Im Hintergrund gibt es je nach Erfahrung und Ausbildung nach wie vor verschiedene Stufen der Seniorität. Das sind aber Informationen, mit der eigentlich nur die HR und die Projektleitung arbeiten. Der Delivery Manager, der Ansprechpartner für den Kunden ist, besetzt gemeinsam mit dem Projekt-CEO dann das Team mit den Skills, die benötigt werden.
Die meisten meiner Kolleg*innen sehen zum Beispiel im Active Directory nur, dass ich im Cluster »Sales and Marketing« tätig bin, aber keine hierarchische Position. Man redet dadurch offener miteinander, hat keine Scheu, Feedback zu geben oder Kritik zu äußern. Durch diese Feedbackmöglichkeit in alle Richtungen – egal ob bei Praktikant*innen oder Menschen in Leitungsfunktionen – können wir effizienter arbeiten, als es möglicherweise in einem hierarchisch denkenden Unternehmen der Fall wäre.
Bild: Auch Office-Umgebungen verändern sich. Nagarro hat früh auf Begegnungszonen im Büro gesetzt – lange vor Corona. (Bilder: Christian Dusek)
Nagarro hat einen starken Europafokus, und viele Mitarbeiter*innen in Indien. Lässt sich diese geografische Distanz auf Dauer überbrücken?
Reichlin-Meldegg: Durchaus – zum Beispiel mit regelmäßigen Treffen wie dem »Senior Management Conflux«. Das Wort Conflux steht für viele, kleine Zuflüsse die einen Strom bilden. Mitarbeiter*innen aus der ganzen Welt sind dazu im November in Dubai zusammenkommen und hatten – typisch für einen unserer Gründer Manas Human – kaum Vorgaben bekommen. Es gibt keine Agenda, kein Pflichtprogramm und keine Themenvorgabe. Jeder der Teilnehmenden präsentiert für zehn Minuten ein Thema seiner Wahl auf der Bühne. Die einen berichten von ihrer Arbeit, andere erzählen begeistert von ihren Hobbys. Es ist eine wunderbare Gelegenheit, die Kolleg*innen auf menschlicher Ebene kennenzulernen.
In unseren virtuellen Meetups »Learn, Socialize and Disrupt«, kurz LSD genannt, werden wiederum Themen wie neue Technologien, Kundenkommunikation oder aktuelle Projektarbeiten diskutiert. Die Mitarbeiter*innen werden ermutigt, sich über den Tellerrand hinaus zu informieren und weiterzubilden. Und man knüpft Kontakte mit Kolleg*innen, die sich mit KI oder bereits mit dem Metaverse beschäftigen. Wir alle müssen fortlaufend lernen. Davon profitieren auch unsere Kunden.
Oft treffen sich vor dem Start eines Projekts die internationalen Teams persönlich, um auch nach dem Projekt-Kick-off etwas gemeinsam zu unternehmen. Wir wissen: Wenn Menschen einander persönlich kennenlernen, arbeiten sie besser zusammen.
Was sollten IT-Unternehmen generell in Sachen Arbeitsklima bedenken?
Reichlin-Meldegg: Ich bin überzeugt, dass wir auch in der Technologiebranche das Menschliche in die Waagschale legen müssen. Gerade bei Entwicklungen wie KI brauchen wir eine Balance – auch um weiterhin Menschen für die Arbeit im Tech-Umfeld zu bekommen. Kreativ sein, über den Tellerrand hinausschauen, emotional agieren – das kann eine KI nicht abbilden.
Eine Säule unseres Arbeitsmodells ist das Prinzip der Ortsunabhängigkeit. Als global agierendes Unternehmen vertrauen wir den Mitarbeiter*innen und geben ihnen den Freiraum, wo auch immer sie arbeiten. Sie arbeiten effizienter, eben weil sie nicht kontrolliert werden oder ständig Projektreports ausfüllen müssen. Der Arbeitsort kann dann ein Kaffeehaus sein oder auch ein Monat an einem Urlaub in Barcelona angehängt, wenn man das möchte. Die lokalen Teams treffen sich weiterhin auch im Büro, man tut das ja auch gerne. Bei uns werden aber im Gegensatz zu Mitbewerbern keine Maßnahmen gesetzt, um die Mitarbeitenden dauerhaft zurück ins Office zu holen.
Sie symbolisieren auch ein neues Wirtschaften. Passt dieser Weg für jeden?
Reichlin-Meldegg: Wie setzen seit vielen Jahren auf das Motto »Caring«. Es steht für Fürsorge – für einen selbst, um beispielsweise Burn-out vorzubeugen, aber auch für die Unterstützung und die Hilfe für andere. In diesem Kernwert enthalten ist auch ein »Caring« für das Unternehmen ebenso wie für unsere Umwelt in Nachhaltigkeitsfragen. Es sind Werte, die besonders den Jungen am Arbeitsmarkt wichtig sind. Die Verantwortung für die eigene Arbeit und Organisation ohne harte Zielvorgaben sind sicherlich nicht für jeden das richtige. Jemand, der gerne in festen Strukturen lebt und diese nicht verlassen will, wird bei uns wahrscheinlich nicht glücklich werden.
Welche Rolle spielt Nagarro in Österreich für das internationale Geschäft?
Reichlin-Meldegg: Von Österreich aus arbeiten rund 200 Leute für Nagarro. Wir haben historisch bedingt eine starke Software und Testing-Community, aber auch in Beratung, Projektmanagement und anderen Bereichen gibt es hierzulande starke Persönlichkeiten. Ein Kollege wurde gerade mit der Leitung der neuen globalen Business Unit für ganzheitliche Transformationsberatung betraut. Wir betreuen nicht nur österreichische Kunden, sondern die ganze Welt.
Über das Unternehmen
Nagarro ist ein »Digital Engineering Unternehmen« und »Maßschneider« für Softwarelösungen. Das Unternehmen mit 856 Millionen Euro Umsatz (Geschäftsjahr 2022) beschäftigt 19.000 Menschen in 34 Ländern, rund 200 arbeiten in Österreich. Nagarro hat kein klassisches Headquarter und verfügt über ein virtuelles, globales Organisationsmodell. Projektbeispiele sind die für BMW-Motorräder gebaute »Rent a Ride«-Plattform, eine für Energie Burgenland entwickelte Wartungslösung für Windräder mittels Smart-Glass-Technologie, die Flugplanungssoftware für Lufthansa, biometrische Gesichtserkennungssysteme für Star Alliance oder auch ein Testmanagement-Tool für den ÖBB-Ticketshop.