Die Zeit der KI-Prototypen ist vorbei. Für nachhaltige KI-Lösungen braucht es einen langen Atem, um einen echten Mehrwert zu schaffen.
Ein Gastkommentar von Niels Pothmann, Arvato Systems.
Im Business ist es wie im Sport: Um erfolgreich zu sein, braucht es nicht nur optimale Grundlagen und großen Ehrgeiz, sondern auch einen individuellen Trainingsplan, viel Disziplin und reichlich Ausdauer. Wer nicht bereit ist, jeden Tag hart an sich zu arbeiten, hat keine Aussicht auf Goldmedaillen und Weltrekorde. Diese ernüchternde Erkenntnis haben viele Unternehmen in den vergangenen Jahren gewinnen müssen – und zwar im Hinblick auf den Einsatz von künstlicher Intelligenz. Sie haben sich voller Motivation in das Abenteuer KI gestürzt und viel Energie in die Entwicklung und Umsetzung erster Prototypen gesteckt.
Dabei haben sie viel gelernt, und über die Zeit hat sich die Erwartungshaltung verschoben. Jetzt stehen nicht mehr neueste Prototypen im Vordergrund. Vielmehr geht es darum, mit KI bestehende Geschäftsprozesse sinnvoll und nachhaltig zu verbessern und so einen echten Mehrwert für Unternehmen zu schaffen. Dafür ist es notwendig, das Grundlagentraining zu intensivieren und den digitalen Reifegrad zu erhöhen.
Ebenso wie ein Sportler, der sich im Laufe der Zeit an verschiedenen Trainingsansätzen versucht, haben auch Unternehmen in der jüngeren Vergangenheit an diversen Proof of Concepts gearbeitet. Dabei haben sie schnell gemerkt, was bereits möglich ist und wo sie nachbessern müssen. Die Erkenntnis: Der Digitalisierungsgrad ist vielerorts weiter auszubauen, um es vom KI-Trainingsplatz hinaus ins große Stadion zu schaffen.
So gibt es, beispielsweise im Kontext von Predictive Maintenance, Beispiele für KI Services, die zunächst nicht alle Hürden überwinden konnten. Natürlich profitieren Industrieunternehmen enorm, wenn sie den Zustand ihrer Maschinen und Anlagen automatisiert vorhersagen und so etwaigen Störungen vorbeugen können. Doch in der Praxis ist der große Nutzen der entwickelten Prototypen häufig hinter den Erwartungen geblieben – was nicht an der KI-Lösung per se liegt.
Stattdessen haben sich systemseitige Schwächen als Hemmschuh entpuppt. Oft war es nicht möglich, Sensoren, Daten und Anbindungen durchgängig zu verknüpfen. Derartige Systembrüche zeigen, dass das Internet of Things (IoT) zur damaligen Zeit und für den konkreten Anwendungsfall (noch) nicht reif für KI war.
Vom Trainingsplatz ins Stadion
Nachdem ein Sportler mehrere Jahre hart trainiert hat, steigen sowohl die eigenen als auch externe Ansprüche an seine Leistungsfähigkeit. Er muss sich unter Wettkampfbedingungen beweisen. Das erwarten Unternehmen nun auch von KI-Lösungen. Die Zeit des spielerischen Experimentierens mit Prototypen ist vorbei. KI-Initiativen müssen heute einen zufriedenstellenden Return on Investment (ROI) liefern. Gegenstand von Projekten ist nicht mehr die reine Innovation. Es geht vielmehr darum, Potenziale zu heben und langfristig auszuschöpfen.
Damit das gelingt, müssen KI-basierte Lösungen und Services zwingend mit den Kernprozessen von Unternehmen verknüpft sein: Sie sind in der IT-Systemlandschaft nachhaltig zu verankern und mit relevanten Geschäftsabläufen sowie Applikationen nahtlos zu integrieren. Andernfalls besteht die Gefahr, dass ein singulärer Prototyp unter Produktivbedingungen nicht funktioniert und darum keinen Mehrwert bietet. Natürlich verliert KI dadurch etwas vom Glanz früherer Tage: Sie wird von einer spannenden Innovation zu einer etablierten Technologie, die im Business zuverlässig funktioniert und substanzielle Abläufe unterstützt.
Dass es gelingen kann, KI in wesentliche Geschäftsprozesse zu integrieren, zeigt der exemplarische Anwendungsfall »Typschilderkennung«. Angenommen, in einem Anlagenpark sind 100.000 verschiedene Maschinen zu inventarisieren. Dabei stellen sich Fragen wie: Welche Maschinen gibt es überhaupt? Wo genau befinden sie sich? Welche Leistung haben sie? Wann steht die nächste Wartung an? Und dergleichen. Ohne eine KI-basierte Lösung für die automatische Bilderkennung müsste ein Mitarbeiter all diese Informationen ausfindig machen – was sehr zeitaufwendig und fehleranfällig ist.
KI-gestützt muss er lediglich die Typschilder an den Maschinen mit einer handelsüblichen Kamera fotografieren und die Bilder in die KI-Lösung einspielen. Sie ist in der Lage, alle 100.000 Typschilder zu analysieren, die relevanten Informationen zu extrahieren und sie etwa in ein Content-Management-System (CMS) zu übertragen. So gestalten Industrieunternehmen den Inventarisierungsprozess deutlich effizienter und senken neben der Fehlerquote auch die Kosten, während sie zugleich weniger Personal binden.
Die maschinelle Bilderkennung ist ebenso in der Logistik äußerst hilfreich. Wenn eine KI zum Beispiel Lieferungen von Paletten in Fotografien identifiziert, kann sie die darauf befindlichen Produkte mit dem bestehenden Inventar abgleichen und automatisch einen freien Lagerplatz zuweisen. Einen ähnlichen Vorteil bietet die automatische Nummernschilderkennung. So gleicht die KI bei der Ankunft das fotografierte Nummernschild eines Lkw gegen die erwarteten Lieferungen ab und ermittelt, an welches Tor er fahren soll.
Objekte in Bildern zu erkennen, vereinfacht auch die Retourenabwicklung. Sollten etwa retournierte Online-Einkäufe kein Etikett oder einen beschädigten Barcode haben, kann die KI den Gegenstand anhand eines Fotos zuverlässig bestimmen und die Retoure automatisch verbuchen.
KI wird bodenständig
Die Beispiele zeigen: KI ist endgültig im realen Unternehmensalltag angekommen. Doch wer sie als Allheilmittel betrachtet, wird dennoch enttäuscht. Damit eine KI – wie beschrieben – funktioniert, ist es nicht damit getan, eine innovative Lösung zu entwickeln. Vielmehr braucht es eine optimale strategische, strukturelle und technologische Grundlage. Unternehmen müssen sich zunächst insbesondere über drei Aspekte Klarheit verschaffen: Welche Prozesse sind für eine KI-basierte Automatisierung geeignet? Gibt es womöglich manuelle Teilprozesse, die zu Brüchen innerhalb von Geschäftsabläufen führen? Ist der eigene Datenbestand qualitativ hochwertig genug?
Falls Unternehmen diese Fragen komplett oder teilweise verneinen, müssen sie nachbessern: sich einen Überblick über ihre IT-Systemlandschaft verschaffen, ihre Prozesse digitalisieren beziehungsweise optimieren und ihre Datenqualität verbessern. Mit spielerischen Prototyp-Projekten hat diese Basisarbeit wenig zu tun. KI wird bodenständig.
Diese Tatsache ist momentan vielerorts zu beobachten: Unternehmen sind über das Experimentierstadium hinaus, sie wollen KI für bestehende Herausforderungen im Unternehmensalltag einsetzen.
Im übertragenen Sinne trainieren sie auf ein bestimmtes Ziel wie die Olympischen Spiele hin. Dabei orientieren sie sich an bereits umgesetzten und erfolgreichen Use Cases, die als Best Practices zu einer Art Benchmark werden. Sie blicken über den Tellerrand der eigenen Branche hinaus und lassen sich von den Erfahrungen anderer inspirieren. Wobei Lösungen natürlich nicht eins zu eins übertragbar sind. Schließlich gestaltet sich die Ausgangslage höchst individuell – von der Unternehmens- und Datenkultur über die vorhandene Systemlandschaft und die Prozesse bis hin zu den benötigten KI-Lösungen.
Der Laufschuh muss dem Athleten passen. Der Versuch, ihn in einen falsch geschnittenen Schuh zu zwängen und dann Höchstleistungen von ihm zu erwarten, kann nicht erfolgreich sein.
Kein Sprint
Um einen KI-Service zum Laufen zu bringen, sind ein individueller Trainingsansatz und eine ausdauernde Verbesserung der Grundlagen erforderlich. So sind KI-Projekte mit klassischen Implementierungsarbeiten verbunden, die ihre Zeit brauchen. Wer davon ausgeht, der Launch einer nutzenstiftenden und nachhaltigen KI-Lösung sei ein Sprint, wird für gewöhnlich enttäuscht. Vielmehr handelt es sich dabei um einen Marathon. Ohne Ausdauertraining hält ein Prototyp die lange Distanz bis ins Ziel nicht durch, ihm geht sprichwörtlich die Puste aus. Um den Marathon zu schaffen, sind mehr als nur Sprinterqualitäten gefragt.
Unternehmen benötigen einen langen Atem und enorm viel Ausdauer. Dabei gleich den großen Durchbruch in Form eines neuen innovativen Geschäftsmodells zu erwarten, geht an der Realität vorbei. Für Unternehmen empfiehlt es sich, kleinere Ziele zu setzen und bestehende Prozesse KI-gestützt zu verbessern. Ob daraus auf lange Sicht neue Geschäftschancen resultieren, wird sich zeigen.
Der Autor
Niels Pothmann ist Head of AI bei Arvato Systems. Das international agierende IT-Unternehmen mit Hauptsitz in Gütersloh gehört zum Bertelsmann-Konzern und unterstützt als Dienstleister bei der digitalen Transformation.