Warum »Local for Local«-Strategien und ein Umdenken sinnvoll für alle sind – nicht nur in Krisenzeiten. Von Mario Buchinger, Buchinger|Kuduz
Diese ganze Virus-Thematik geht uns allen – es geht Ihnen sicherlich ähnlich wie mir – ziemlich auf die Nerven. Seit Sonntag ist Tirol ein offizielles Sperrgebiet. Keine Sorge, ich möchte hier nicht über diese Pandemie selbst sprechen, sondern einen Blick auf den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aspekt werfen.
Was nämlich gerade sichtbar wird, ist etwas, was man schon seit Jahren weiß. Ich kann mich gut an die Mitte der Nullerjahre erinnern, als ich anfing, mich mit Veränderungsthemen zu beschäftigen. Damals durfte ich bei Daimler das Thema Kaizen sowie Lean & Co lernen. Ich hatte wirklich gute Lehrer, die mir viel beigebracht haben. Ein Aspekt war immer die Lokalisierung, also »Local for Local«-Strategien, um möglichst kurze Lieferketten zu haben.
Natürlich hat das im Kontext eines produzierenden Betriebs etwas andere Hintergründe. Man rechnet nicht unbedingt mit dem, was wir gerade erleben. Aber man hat bei einer lokalen Strategie etwas, was jetzt große Vorteile hätte, nämlich eine gewisse Versorgungssicherheit.
Die Idee dazu stammt aus der Lean- und Kaizen-Ecke und kommt hauptsächlich aus der Toyota-Welt. Toyota hat sehr viele lokale Lieferanten und das Unternehmen produziert, wenn möglich, für lokale Märkte. Lokal heißt bei Toyota kontinental. Sie haben Werke in Europa, den USA und Asien und so gut es geht versuchen sie, die Produkte in diesen Märkten auch zu verkaufen.
Das geht natürlich nicht immer. Es gibt gewisse Produkte, der Prius zählt dazu, welche weltweit in so geringen Stückzahlen gebaut werden, dass es nicht sinnvoll ist, diese überall zu bauen. Der Prius wird in Japan hergestellt und dann in die Welt exportiert. Aber viele Modelle, die man von Toyota kennt, sind regional produziert.
Bei Toyota sitzen die Lieferanten ebenfalls in einem möglichst nahen Umkreis. Das ist damit begründet, dass man kurze Lieferketten mit kurzen Wegen haben möchte, was wiederum kleine Bestände zur Folge hat. Und man kann bei Qualitätsabweichungen sehr schnell reagieren.
Denkt man das Ganze auf die heutige Situation weiter, erhält man zusätzliche Vorteile, auch wenn das wahrscheinlich nicht im Sinn der Erfinder war. Eine regionale Lieferkette ist nicht so schnell unterbrochen. Die Produktion in Österreich läuft noch und die Betriebe arbeiten, so gut es möglich ist.
Wenn jetzt die Lieferkette bis nach Asien reicht, bis Indien oder sonstwo, so ist es sehr viel schwieriger, diese aufrecht zu erhalten. Die lokalen Strategien haben mehr Flexibilität im System. Und wenn man auf die Ökobilanz schaut, was heutzutage nicht zu vernachlässigen ist, so sind die Local-for-Local-Strategien weitaus sinnvoller.
Lieferketten und der TCO
Es stellt sich daher die Frage, weshalb es lange, weltumspannende Lieferketten gibt, wenn diese doch so viele Nachteile haben. Der Grund liegt in der Kostenstruktur. Man verspricht sich durch das Verlagern gewisser Wertschöpfungsanteile in Niedriglohnländer eine Reduktion der Stückkosten. Auch das Einkaufen von Materialien und Dienstleistungen im weit weg gelegenen Ausland wird als Kostenersparnis gesehen.
Betrachtet man diesen Aspekt nur aus der Sichtweise einer einzelnen Abteilung, wie beispielsweise dem Einkauf eines Unternehmens, ist dies sicher richtig. Schaut man dagegen auf das Gesamtbild, sieht es meistens anders aus. Nur die wenigsten Organisationen denken holistisch, also ganzheitlich. Die meisten optimieren ihre lokalen Silos und nehmen dabei an, dass die Summe aller Einzeloptima das Gesamtoptimum fördert. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, weil die einzelnen Glieder einer Kette, die aufeinander angewiesen sind, dann nicht mehr richtig zusammenpassen.
Es wird oft angenommen, man könne eine »Total Cost of Ownership« (TCO) exakt ermitteln. Diese Kenngröße suggeriert, man würde das Gesamtsystem betrachten. Dies passiert jedoch nicht, weil man letztlich nur einzelne Kostenelemente addiert. Die Effekte aus der Interaktion und weitere nicht sichtbare Effekte, wie beispielsweise notwendige Abstimmungen und alltäglich anfallende Korrekturmaßnahmen (z.B. im Fall von Qualitätsabweichungen) können nicht dargestellt und daher auch nicht mit berechnet werden. Daher ist TCO lediglich ein grober Anhaltspunkt, aber sicher keine Darstellung des gesamten Systems.
Die Finanzwirtschaft wieder
Eine andere Sache, die wir im Kontext des Wirtschaftsgeschehens heute lernen können, ist das, was in der Finanzbranche passiert. Viele sehen die Geschehnisse aus 2008 erneut auf uns zukommen. Dem stimme ich nicht zu, denn 2008 war keine Finanzkrise, es war eine Vertrauenskrise. Damals hat durch das Platzen der Subprime-Kreditblase in den USA im Endeffekt keiner mehr irgendwem vertraut und es gab für niemanden mehr Kredite. Investitionen, die nötig waren, kamen einfach nicht mehr zustande und damit ist das ganze System weltweit eingebrochen.
Unternehmen hatten dann entsprechende Liquiditätsprobleme. Das ist heute anders gelagert, denn die Nachfrage ist durchaus da. Das Leben steht derzeit leider still, aber das wird sich in einer absehbaren Zeit auch wieder verbessern. Dann wird es einen Nachholbedarf geben. Daher ist die Situation nicht 1:1 mit der im Jahr 2008 vergleichbar. Aber dennoch haben wir das Problem, dass die Finanzmärkte eine sehr schwierige Rolle haben.
Auch wenn jetzt einige aufschreien – ich finde es grundsätzlich gut, dass an der Börse die Kurse nach unten korrigiert werden, denn der Markt war völlig überbewertet. Die Entwicklungen an den Börsen haben mit der Realwirtschaft nichts zu tun. Das Börsengeschehen ist bis auf wenige Ausnahmen eine Zockerhölle oder ein Spielcasino.
Das Problem des Systems ist, dass Phänomene entstehen, weil sie jemand herbeipostuliert. Es kann auf den Bankrott von Ländern, beispielsweise war das bei Griechenland der Fall, oder auf die Pleite von Unternehmen, das wurde oft bei Tesla probiert, gewettet werden. Das ist fatal, denn auch ohne diese Zockerei und die Panik, die am Finanzparkett entsteht, ist die angespannte Situation bereits schlimm genug. In einigen Ländern werden daher derzeit Leerverkäufe, also das Wetten auf fallende Kurse, verboten, was absolut sinnvoll ist.
Die Börse und der Sozialismus
Die jetzige Situation am Finanzmarkt und der Börse zeigt wieder mal, dass diese kein Abbild der Realwirtschaft sind. Dabei war die grundsätzliche Idee des Aktienmarktes gar nicht so schlecht. Unternehmer hatten ein schlüssiges Konzept und konnten glaubhaft versichern, dass mit dem Geld eine Wertschöpfung erfolgt. Diese Wertschöpfung wurde dann zu Profit, von dem ein Teil an die Geldgeber zurückgeführt wurde. So weit die Idee, nur leider passt der Mensch nicht dazu.
Börse und Anleger sind bis auf ein paar wenige Ausnahmen wie Sozialismus. Die grundsätzliche Idee, die Marx und Engels im Kommunistischen Manifest beschrieben haben, ist durchaus sinnvoll: Alle tragen gleichermaßen zur Gesellschaft bei, alle sind gleich, es gibt keine Verteilungskämpfe, usw. Das Problem ist nur, der Mensch passt nicht in das Modell, da es immer wieder gierige und rücksichtslose Idioten gibt, die sich am Ende auf Kosten anderer bereichern. Daher ist der Kommunismus zwar eine gute Idee, aber in der Realität funktioniert er leider nicht. Mit Börsen und Wertpapiergeschäften ist es sehr ähnlich.
Ich möchte nicht alle über einen Kamm scheren. Es gibt auch jene, die es ehrlich meinen und darüber nachdenken, welche Unternehmen sie langfristig unterstützen. Aber man muss auch dagegenhalten, dass ein Großteil der Transaktionen heute kurzlebig ist und es sich zum Teil um Maschinenhandel handelt, der in Millisekunden operiert. Das hat mit Unternehmertun rein gar nichts zu tun. In der großen, breiten Masse interessieren sich Anleger nicht für das Wohl eines Unternehmens, sondern ausschließlich für die Rendite.
Der Run auf die Rendite
Wir sollten eigentlich mittlerweile gelernt haben, dass Unternehmen, die hauptsächlich auf die Rendite schauen und nicht langfristig denken, an ihrem eigenen Ast sägen. Denn kurzfristige Gewinnerwartungen sind konträr zu dem, was Unternehmen tatsächlich brauchen, nämlich eine langfristige Orientierung.
Möchte ein Unternehmen in die Zukunft investieren, so muss es einen Teil der Rendite einbehalten und für Investitionen verwenden. Durch die gesunkene Rendite sinkt auch der Ertrag des Anlegers. Möchte man schnelles Geld verdienen, ist man in einem langfristig agierendem Unternehmen falsch. Deswegen kann man hier einen Interessenskonflikt zwischen Börsenanlegern und der realen Wirtschaft und den jeweiligen Unternehmen erkennen. Man sieht hier wieder deutlich das Unterscheidungsmerkmal zwischen Unternehmern und Managern: Manager arbeiten für die Rendite, Unternehmer arbeiten für das Unternehmen.
Fazit
Die Covid19-Krise ist eine Gelegenheit, über das teils sinnlose Treiben, das wir so tagtäglich tun, nachzudenken und zu überlegen, welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen können. Aber auch ohne Virus-Bedrohung sollten wir daraus lernen und lokaler agieren. Es spricht nichts gegen einen globalen Austausch, die Frage ist nur, wie und wo dieser stattfindet. Was wir lokal machen können, sollten wir lokal machen, allein schon der Umwelt zuliebe. In schwierigen Zeiten ist ein lokaler Wertschöpfungsprozess einmal mehr nützlich.
Die Finanzmärkte sollen der Wirtschaft dienen und kein Selbstzweck sein, was heute oft verloren gegangen ist. Ich meine hier nicht die Hausbank, die Kredite für den Immobilienerwerb oder die Unternehmensgründung vergibt, sondern die spekulativen Finanzgeschäfte, die auf schnelle und kurzfristige Rendite ausgelegt sind. Daher wünsche ich mir, dass wir diese Krise zum Innehalten und Nachdenken nutzen.
Und jetzt spinne ich noch weiter: Unser Wirtschaftssystem, so wie es heute ist, ist anscheinend nicht das Richtige. Der Kapitalismus ist in der Form, wie wir ihn leben, gescheitert. Beim Sozialismus wissen wir das seit 1990. Beim Kapitalismus merken wir in den letzten Jahren, dass es nicht so weiter gehen kann. Es wird Zeit, darüber nachzudenken und alternative Wirtschaftsmodelle zu entwickeln.
Wenn wir überlegen, was für eine gesunde Gesellschaft und ein gutes Ökosystem gut ist, dann werden uns solche Infektionswellen zukünftig viel weniger Sorgen bereiten und wir können besser damit umgehen.
Über den Autor
Mario Buchinger ist promovierter Physiker und Querdenker. Er wurde unter anderem durch ehemalige Toyota-Manager in Deutschland und Japan zum Kaizen-Trainer und Lean-Experten ausgebildet. Zehn Jahre lang war Mario Buchinger bei Daimler und Bosch tätig. Als interner Trainer und Coach begleitete er die Organisationen hin zu einer kontinuierlichen Verbesserungskultur. 2014 gründete er Buchinger|Kuduz, zu dessen Kunden die produzierende Industrie, Unternehmen aus der Finanz- und Bauwirtschaft, den Medien oder der Lebensmittelindustrie zählen.