Die Pandemie hat digitale Innovationen beschleunigt – auch im öffentlichen Bereich. Europäische Städte holen bei der Umsetzung von Smart-City-Konzepten auf. Operative Kontinuität und die Sicherheit der kritischen Infrastruktur stehen dabei auf dem Prüfstand.
Das vergangene Jahr hat weltweit Städte vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Gerade der urbane Raum war – begünstigt durch die größere Dichte – weitaus stärker von der Ausbreitung des Virus betroffen. Während sich die Bevölkerung weitgehend vom öffentlichen Leben fernhielt und Unternehmen zwischen Improvisation und Krisenmanagement schwankten, bemühten sich die Stadtverwaltungen um die Eindämmung der Infektionen und die Aufrechterhaltung des städtischen Mikrokosmos. Gesundheit, Sicherheit und Versorgung der Bürger*innen zu gewährleisten, war in der Krise vorrangig. Jene Kommunen, die bereits in den Jahren zuvor in die Digitalisierung ihrer kritischen Infrastruktur investiert hatten, waren klar im Vorteil.
Die Studie »Smart City Solutions for a Riskier World« des ESI ThoughtLab, unterstützt von Oracle, Deloitte, Intel und anderen Partnern, bestätigt den hohen Stellenwert innovativer Technologien. 43 Prozent der Stadtverwaltungen gaben an, durch die Pandemie erkannt zu haben, wie wichtig operative Kontinuität und Agilität in städtischen Prozessen ist. 27 Prozent der Verantwortlichen wollen künftig mehr in die Modernisierung der Kerninfrastruktur investieren. Befragt wurden leitende Beamt*innen aus 82 Ländern weltweit – von Ballungsräumen mit weniger als einer Million Einwohner*innen bis zu Metropolen mit fast 27 Millionen Menschen.
Städte, die sich bei der Anwendung digitaler Lösungen sowie bei der Förderung nachhaltiger Entwicklung besonders fortschrittlich zeigen, wurden von den Studienautor*innen als »Cities 4.0« eingestuft. In Europa können 13 Städte dieses Label für sich beanspruchen, darunter Paris, Madrid, Wien, London, Kopenhagen und Berlin. Auch im globalen Vergleich liegen europäische Städte bei der Verwirklichung der »Sustainable Development Goals« (SDGs) der Vereinten Nationen voran. 92 Prozent der in die Studie einbezogenen Städte haben diese Ziele in ihre Pläne aufgenommen. Besonders stark sind Europas Städte in den Bereichen Gesundheit und Wohlbefinden, menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum sowie Nachhaltigkeit. Geringere Fortschritte zeigen sie in der Beseitigung von Benachteiligungen oder beim Klimaschutz, doch selbst in diesem Bereich rangieren sie klar vor nordamerikanischen Städten.
Bild oben: Im diesjährigen »Economist«-Ranking der lebenswertesten Städte hatten Australiens und Neuseelands Metropolen die Nase vorne.
Im Ranking: 140 Städte weltweit, 1 = am lebenswertesten
Europa sprintet voran
Auch bei den Investitionen in smarte Technologien stehen europäische Städte gut da. Jede der untersuchten europäischen Kommunen hat cloudbasierte Lösungen in den Bereichen Mobilfunk, Biometrie und Internet of Things (IoT) vorangetrieben. 88 Prozent der Stadtverantwortlichen sehen diese als dringendste Voraussetzung für die erfolgreiche Bereitstellung kritischer und nicht-kritischer Bürgerdienste. »Wir sehen, dass die erfolgreichsten Städte sich auf neue Technologien konzentrieren, die einen direkten Einfluss auf die Bereitstellung von Dienstleistungen haben, wie Cloud Computing, KI und digitale Assistenten«, sagt John Tuohy, Director Smart Cities Strategy bei Oracle. »Fernzugriff für Mitarbeiter und Einwohner bereitzustellen, ist entscheidend für die Aufrechterhaltung der Geschäftskontinuität.«
In den nächsten drei Jahren wollen die Kommunalverwaltungen vorrangig in digitale Zwillinge, künstliche Intelligenz, Data Warehouses und Online-Kollaborationstools, insbesondere in digitale Assistenten und Chatbots, investieren. 54 Prozent der Befragten fühlen sich in puncto Cyber-Security gut oder sehr gut vorbereitet. Trotzdem sind Cyber-Angriffe noch immer ein Schreckgespenst. Verantwortliche holen deshalb verstärkt IT-Partner ins Boot, die ein hohes Maß an Innovation ermöglichen und gleichzeitig Sicherheit gewährleisten.
Tatsächlich wurde im Vorjahr ein starker Anstieg von Cyber-Angriffen beobachtet. Spezialist*innen der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft BDO untersuchten Vorfälle im Finanzbereich, der kritischen Infrastruktur sowie geopolitische Vorkommnisse und internetbasierte Kriminalität. »Man kann 2020 von einer Pandemie in der Pandemie sprechen. Es war für Kriminelle leicht – vielleicht sogar zu leicht«, gibt Ewald Kager, Experte bei BDO Austria, auch für heuer noch keine Entwarnung. »Wir gehen von mehreren geplanten bzw. ungeplanten, also auch irrtümlichen Angriffen auf Betreiber von kritischer Infrastruktur im Jahr 2021 aus.« Bekanntlich hätte Europa Anfang des Jahres beinahe ein großflächiges Blackout erlebt. 5G-Netzwerke werden zwar technologische Fortschritte auch hinsichtlich der Verteidigungsmöglichkeiten bringen – 90 Prozent der Technologiebudgets fließen aber noch in bestehende Altsysteme, wo Angreifer mit Sicherheit einige Schwachstellen vorfinden.
Sicherheit in unsicherer Zeit
Wie in jedem guten Krisenmanagement ist klare und konsistente Kommunikation der Schlüssel zum Erfolg. Selten zuvor war das Bedürfnis der Bürger*innen nach Information und Interaktion so ausgeprägt wie im vergangenen Jahr. »Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig Digitalisierung ist für den Informations- und Kommunikationsbedarf, der Gesundheitsbranche und der Bildung im weitesten Sinne. Wir sehen jetzt Diskussionen über den Einsatz von Kommunikationstechnologien und Anbindungen in Bereichen, die vorher kaum digital waren wie Schulen, Kindergärten und sozialen Einrichtungen«, erklärt Bettina Tratz-Ryan, verantwortlich für den Bereich Digitale Transformation und Gesellschaft beim Beratungsunternehmen Gartner.
Bild oben: Ewald Kager, BDO: »Wir gehen 2021 von mehreren Angriffen auf Betreiber kritischer Infrastruktur aus.«
Die Holding Graz hält regelmäßig Krisenmanagement-Übungen ab, in die auch die Kommunikationsabteilung eingebunden ist – eine Strategie, die sich während der Pandemie bereits bezahlt machte, wie Marketing- und Kommunikationsleiter Richard Peer bestätigt: »Diese Disziplin und die straffe Struktur unseres Krisenstabs zeigen absolut Wirkung, was angesichts kritischer Infrastruktur wie Wasser- und Stromversorgung auch notwendig ist.«
Smart Cities verfügen bereits über die nötigen Plattformen zum Daten- und Informationsaustausch, um die Bevölkerung und öffentliche Einrichtungen zu vernetzen. Millionen von Datenpunkten können generiert und analysiert werden, um Hotspots zu identifizieren und Gesundheitsdienste rechtzeitig zu alarmieren und punktgenau einzusetzen. Blockchain-basierte Lieferketten ermöglichen die transparente Beschaffung und Verteilung dringend benötigter Geräte, Tests und Schutzausrüstung. Nicht zuletzt die Organisation der Test- und Impftermine wurde durch die digitale Unterstützung wesentlich erleichtert.
Trotzdem kamen auch führende Smart Cities angesichts der ungeahnten Herausforderungen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit – nicht alles funktionierte letztlich nach Wunsch. Die Nachverfolgung von Infektionsketten war zeitweise nicht mehr möglich, Krankenhäuser standen vor dem Kollaps. Was die kritische Infrastruktur betrifft, waren Städte mit hohem Digitalisierungsgrad jedoch merklich besser organisiert. Die New Yorker Verkehrsbetriebe verzeichneten zu Beginn der Pandemie einen Rückgang der Fahrgäste um 95 Prozent und reduzierten den Fahrbetrieb entsprechend; die stärker frequentierten Routen wurden anhand von Echtzeitdaten herausgefiltert. Am Flughafen in Rom nutzte das Personal Augmented-Reality-Lösungen, um die Kontrollen rascher und unter Wahrung des Sicherheitsabstandes durchführen zu können.
Bild oben: Bettina Tratz-Ryan, Gartner: »Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig Digitalisierung für den Informations- und Kommunikationsbedarf ist.«
Soziale Komponente
Im Ranking der lebenswertesten Städte, das jährlich vom britischen Wirtschaftsmagazins The Economist veröffentlicht wird, rutschte Wien 2021 nach drei Jahren an der Spitze auf den zwölften Platz ab. Die Einschränkungen durch die Pandemie hatten zu einem Einbruch der Lebensqualität geführt – ein Schicksal, das fast alle europäischen Metropolen teilten. Lediglich Zürich und Genf finden sich noch in den Top Ten. Bewertet werden Gesundheitssystem, Bildung, Kultur, Infrastruktur, soziale Sicherheit, politische Stabilität und die Kriminalitätsrate. Sieger Auckland punktete mit der raschen Eindämmung der Pandemie, während europäische Städte besonders unter Belastungen des Gesundheitssystems und der Streichung des kulturellen Angebots litten.
Ein Forschungsteam der FH Salzburg analysierte gemeinsam mit Kolleg*innen der Pariser Sorbonne und der Universität Danzig die Maßnahmen und Auswirkungen des Lockdowns im März und April 2020, um daraus Lehren für die Stadtentwicklung abzuleiten. »Der Lockdown war eine noch nie dagewesene Situation in Europa: Bis jetzt wurden selbst in Kriegszeiten noch nie 24 Stunden am Tag Ausgangssperren verhängt«, unterstreicht Stefan Netsch, Senior Lecturer am Studiengang Smart Building und Smart Cities, diese Ausnahmesituation. Neben dem Zwang, auf engem Raum zu leben, wirkte sich die Schließung von Parks zusätzlich belastend aus. Die Defizite einer nur aus technologischem Blickwinkel konzipierten Smart City traten deutlich hervor – um eine Stadt lebenswert zu gestalten, muss immer auch die soziale Komponente mitgedacht werden.
»Städtische Grünflächen sollten als ein Sektor der kritischen Infrastruktur des Landes betrachtet werden. Während höhere Bevölkerungsdichten aus einer Reihe von Gründen sinnvoll sind, müssen sie durch ein geeignetes, qualitativ hochwertiges Netz von Frei- und Grünflächen ergänzt werden, die durch eine geeignete Fußgänger- und Fahrradinfrastruktur verbunden sind«, zieht Netsch ein nachdenkliches Fazit: »Wir müssen uns mehr und mehr mit dem öffentlichen Raum beschäftigen.«
Zurück zur Dorfmetropole
Lockdown und Social Distancing trieben die Digitalisierung an. Für eine nachhaltige Digitalisierung der Städte braucht es jedoch kluge, strategische Gesamtkonzepte, die nicht nur auf Teilbereiche abzielen und die Menschen, die dort leben, einbeziehen. Auf einen engen Bewegungsradius eingeschränkt, entdeckten viele Bewohner*innen ihr Stadtviertel neu. Nahversorger profitierten, jeder grüne Fleck wurde zum Lichtblick. Die Stadt der kurzen Wege, in der Arbeiten, Einkaufen und Freizeitaktivitäten im Umkreis von 15 Minuten möglich sind, könnte die Verkehrssituation merklich entlasten und das Leben entschleunigen.
Einen mutigen Schritt zurück macht Paris – quasi von der Weltmetropole zur Dorfmetropole. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo will mit dem Konzept »Ville du quart d'heure« das Leben im Quartier aufwerten. Die Innenhöfe von 50 Schulen werden bepflanzt und außerhalb der Schulzeiten für Anrainer*innen zugänglich gemacht. Bis 2026 werden 300 Straßen zu autofreien Zonen erklärt, 122 gibt es bereits. Künstler*innen treten dort auf, Kinder spielen, Nachbarschaftshilfe wird gefördert.
Andernorts wird die Pandemie als Vorwand für umfassende Datenverknüpfung genommen – die digitale Überwachung kommt somit durch die Hintertür. Singapur überprüft Transport- und Energieflüsse und verbindet sie mit Bewegungsprofilen infizierter Personen. »Dies erlaubt Singapurs Regierung, die Ausbreitung des Coronavirus nicht nur nachträglich zu rekonstruieren, sondern auch antizipierende Eingriffe vorzunehmen. Muss man daraus folgern, dass Gesellschaften, die die neuen digitalen Instrumente besonders affirmativ einsetzen, auch besonders erfolgreich sind?«, fragt Robert Kaltenbrunner, Stadtforscher und Co-Autor des Buches »Die Stadt der Zukunft«.
Wie wollen wir leben?
Laut der Capgemini-Studie »Street Smart«, für die rund 10.000 Menschen in zehn Ländern befragt wurden, können sich 40 Prozent vorstellen, wegen digitaler Mängel ihre Stadt zu verlassen. Mehr als die Hälfte der Befragten schätzen Smart Cities als nachhaltig ein, ein Drittel würde für Mehrwerte im urbanen Raum auch mehr bezahlen.
Die smarte Stadt muss als nachhaltige Stadt gedacht und konzipiert werden. Intelligente Steuerungssysteme können den Verkehrsfluss effizienter regeln. Sensoren liefern der Stadtverwaltung wertvolle Daten zu Luftverschmutzung, Wetter, Strom-, Gas- und Wasserverbrauch. Durch KI-unterstützte Sortieranlagen wird der Müll getrennt und der Wiederverwertung zugeführt. Straßenbeleuchtung, die sich nur bei Bedarf einschaltet, spart Ressourcen. Städte, die diese Erwartungen erfüllen, sind nachweislich attraktiver. Nachhaltige Entwicklung wird für die Lebensqualität zunehmend wichtiger.
Wie wollen wir in Zukunft leben? Diese Frage ist nach einem Jahr im Ausnahmezustand dringlicher denn je. Im Gegensatz zur Coronakrise lässt sich die Klimakrise nicht innerhalb mehrerer Monate in den Griff bekommen – weitermachen wie bisher ist keine Option, das wurde vielen klar. Die Corona-Pandemie scheint die Debatte über die digitale Durchdringung von Städten gründlich zu verändern.