Sonntag, Dezember 22, 2024
Die große Umfrage: Brexit

Am 29. März 2019 scheidet das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland voraussichtlich aus der Europäischen Union aus. Bis dahin sollten die Modalitäten der künftigen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen geregelt sein. Das Abkommen – in 17-monatigen schwierigen Verhandlungen vereinbart – sieht eine Übergangsphase bis Ende 2020 vor. Die Abstimmung im britischen Parlament wurde verschoben. Gibt es doch noch eine andere Lösung?

Report(+)PLUS hat drei ExpertInnen um eine Einschätzung gebeten.

1.Ist der ausverhandelte Deal die bestmögliche Lösung für beide Seiten?

Christian Kesberg, Österreichischer Wirtschaftsdelegierter im AußenwirtschaftsCenter London

Die EU will, dass das Königreich in der Union bleibt, die Briten wollen alle Vorteile einer Teilnahme am Binnenmarkt, aber keine der damit verbundenen Pflichten. Mit dem Deal, der am Tisch liegt, kriegt niemand auch nur annähernd, was er will. Wer allerdings aus einem Märchenreich aus Halbwahrheiten und populistischen Heilsversprechen anreist, um das prinzipielle Beharrungsvermögen eines 27-köpfigen Goliaths zu testen, muss irgendwann verstehen, dass ein ungeliebter und fauler Kompromiss die »bestmögliche« Lösung ist.

Katharina Meissner, Postdoc-Assistentin am Institut für europäische Integrationsforschung der Universität Wien



Ein Abgleich der europäischen Verhandlungsposition und des Austrittsvertrags zeigt ein deutliches Ergebnis zugunsten der EU. Diese hat sich in drei Kernzielen klar durchgesetzt: Im Abkommen verpflichtet sich das Vereinigte Königreich zu finanziellen Leistungen über das Austrittsdatum hinweg. Die Rechte der in Großbritannien ansässigen EU-BürgerInnen sind in der Übergangsphase gewährleistet. Nicht zuletzt konnte die EU mit dem sogenannten »backstop« eine Auffanglösung erreichen, welche eine harte Grenze zwischen Nordirland und Irland verhindert.

Gilbert Rukschcio, Managing Partner bei Pantarhei Advisors in Brüssel

 

Der Deal ist der am wenigsten schlechte. Denn egal, unter welchen Bedingungen – ein Verlassen der Europäischen Union durch das Vereinte Königreich ist unterm Strich für
beide Seiten von Nachteil. UK wird die (ökonomischen) Folgen aber sicher mehr spüren als Kontinentaleuropa, positiv wie negativ.


2. Was bedeutet der Austritt Großbritanniens für österreichische Unternehmen und ArbeitnehmerInnen?

Christian Kesberg

Ein harter Brexit träfe die Briten viel härter als den Rest der Union, ist aber ein Verlustgeschäft für alle. Ein anhaltend schwaches Pfund, abflachendes Wirtschaftswachstum, Zollbarrieren, verlängerte Transportwege oder Hürden bei der Entsendung von Mitarbeitern machen die Bearbeitung des britischen Marktes durch heimische Unternehmen dann mit Sicherheit schwieriger und teurer. Siegt in letzter Minute die Vernunft, ändert sich einmal für zwei, drei oder vier Jahre nichts. Auch im schlimms­ten Fall darf man das Vereinigte Königreich nicht abschreiben: Die zweitgrößte Volkswirtschaft Europas bleibt ein spannender Markt mit vielen Möglichkeiten.

Katharina Meissner

Die Folgen des Austritts hängen wesentlich von den zukünftigen Beziehungen Großbritanniens und der EU ab. Als Grundlage für weitere Verhandlungen dient eine politische Erklärung, die an das Austrittsabkommen geheftet ist. In dieser Erklärung bekennen sich Großbritannien und die EU zu umfassender und ambitionierter wirtschaftlicher Integration in Form eines Freihandelsabkommens oder einer Zollgemeinschaft. Allerdings macht die politische Erklärung auch klar, dass die derzeit in der EU gewährleistete Personenfreizügigkeit von ArbeitnehmerInnen nicht länger für Großbritannien gelten soll.

Gilbert Rukschcio

Einzelne Unternehmen und Branchen sind sicher unmittelbar betroffen, wie z.B. die Automobilzulieferindustrie. Wir können aber davon ausgehen, dass diese ihre Hausaufgaben hinsichtlich resilienter Absicherung gemacht haben. Für die österreichischen Unternehmen ist der Brexit insgesamt schlecht. Denn mit UK verlässt ein Land die EU, das immer für wirtschaftsfreundliche Regulierung und die Vollendung des Binnenmarktes eingetreten ist. Für ein Exportland wie Österreich ist das elementar.


3.Wie wahrscheinlich ist ein neuerliches Referendum?

Christian Kesberg

Angesichts der tiefen Risse in der politischen Landschaft ist bei einer Ablehnung der vorliegenden Vertragsentwürfe durch das Unterhaus vieles möglich und nichts wahrscheinlich. Auch ein Beitritt zu EFTA und EEA (Norwegen-Modell) oder ein permanenter Verbleib in einer Zollunion könnte Mehrheiten finden. Ein neuerliches Referendum kommt nur in Frage, wenn May zurücktritt oder von ihrer Partei abserviert wird. Auch ein Sturz der Regierung und Neuwahlen könnten theoretisch den Weg freimachen. Ob sich das zeitlich ausgeht, aber vor allem was dann eigentlich in einer zweiten Runde abgefragt werden soll, bleibt völlig unklar.

Katharina Meissner

Aufgrund der tiefen Spaltung der britischen Gesellschaft ist der Ausgang der Verhandlungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt völlig offen. Stimmt das britische Parlament dem Austrittsabkommen nicht zu, sind ein zweites Referendum oder Neuwahlen wahrscheinlich. Dies würde voraussichtlich eine Verlängerung der Verhandlungen unter Artikel 50, Lissabon Vertrag, nach sich ziehen. Sollten das britische und Europäische Parlament dem Abkommen zustimmen, müssen die Kernpunkte der zukünftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU allerdings erst noch verhandelt werden.

Gilbert Rukschcio

Prognosen sind bekanntlich schwierig. Wir sehen seit dem ersten Referendum eine Konstante, nämlich ein eher irrationales Verhalten auf britischer Verhandlungsseite. Das lässt das Abwägen von Eventualitäten unter Annahme rationaler Handlungsmuster kaum zu.

Ich glaube erst an den Brexit, wenn er tatsächlich stattfindet, auch wenn ein neuerliches Referendum eher schwierig erscheint. Denn dafür bedürfte es einer politischen Gallionsfigur, die hier Historisches schafft, und eine solche Person ist in UK weit und breit nicht zu sehen. So wie das ganze Brexit-Schlamassel ein systemisches Versagen der gesamten Elite des Landes ist – der politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen. Die Geschichtsbücher werden keinen positiven Blick auf diese Episode haben.

 

 

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