Montag, Dezember 23, 2024
Zu gut für den Job
Foto: Thinkstock

44 % der unselbstständig Beschäftigten in Österreich üben Tätigkeiten aus, die nicht ihrem Bildungsniveau entsprechen. Vor allem Frauen mit Matura und Akademiker können ihre Qualifikationen schlechter verwerten. Innovative Recruiting-Tools helfen Unternehmen und BewerberInnen zusammenzufinden.

Als das Theater in der Josefstadt vor zwei Jahren eine Portierstelle ausschrieb, meldeten sich mehr als 200 BewerberInnen. Angesichts des überschaubaren Anforderungsprofils – Telefonvermittlung, Postannahme, Schlüsselverwaltung, Deutschkenntnisse und Bereitschaft zu flexibler Arbeitszeit – war das nicht weiter verwunderlich. Für diese Tätigkeiten sollte ein einfacher Pflichtschulabschluss ausreichen. Das breite Spektrum der eingelangten Bewerbungen überraschte umso mehr: Von langzeitarbeitslosen Hilfsarbeitern bis zu promovierten Historikern schien nahezu jede Bevölkerungsschicht auf, Maturanten und Akademiker waren sogar leicht überrepräsentiert.

Der taxifahrende Mediziner, die im Callcenter jobbende Psychologin – was lange Zeit unter dem Schlagwort »Akademikerschwemme« lief, ist längst auch bei niedrigeren Bildungsabschlüssen gang und gäbe. Nur trifft es nicht mehr vorwiegend Hochschulabsolventen hoffnungslos überlaufener Fächer wie Soziologie, Wirtschaftswissenschaften oder Architektur, sondern auch Wiedereinsteigerinnen und Personen mit Migrationshintergrund.

In einer Umfrage der Jobsuchmaschine Jobswype unter ihren Usern gaben jeweils ein Drittel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an, für ihre Arbeitsstelle »überqualifiziert«, »unterqualifiziert« bzw. »genau richtig qualifiziert« zu sein. Österreich bewegt sich in dieser Erhebung im europäischen Mittelfeld – der Anteil jener Beschäftigten, deren Aufgaben unter ihrem Bildungsniveau liegen, ist allerdings mit 44 % recht hoch. In früheren Studien, etwa der Arbeiterkammer (2010) und des Meinungsforschungsinstituts SORA (2015), wurde dieser Anteil nur mit 10 bis 15 % beziffert. »Einer der wichtigsten Faktoren, der zum Wohlbefinden der Arbeitnehmer im Berufsleben beiträgt, ist die Zufriedenheit. Ist der Angestellte zu gut für seine Stelle, treten bald schon ernste Zeichen der Unzufriedenheit auf. Gleiches gilt auch für den Fall, dass der Angestellte unter dem ständigen Druck, etwas durch Unwissenheit falsch zu machen, steht«, erklärt Jobswype-Geschäftsführer Christian Ehart. »Weder Über-, noch Unterqualifizierung am Arbeitsplatz sind gute Vorboten eines produktiven Angestellten.«

Verdrängungswettbewerb

Tatsächlich hängen viele Jungakademiker nach ihrem Studienabschluss in atypischen Beschäftigungsverhältnissen fest. Ältere Führungskräfte, die vorzeitig abgebaut wurden und noch einige Jahre bis zur Pension überbrücken, spielen oft notgedrungen in einer niedrigeren Liga. Auch Frauen müssen bei der Arbeitssuche nach einer Babypause kompromissbereit sein und können einen höheren Bildungsabschluss kaum verwerten. Gleiches gilt für Migranten, deren Qualifikationen hierzulande erst nach Überwindung bürokratischer Hürden anerkannt werden. Zuwanderer, die oft mehrere Sprachen fließend beherrschen, haben meist keine Chance, ihre Kenntnisse in einem einigermaßen anspruchsvollen Job zu nutzen.

Aus dieser Spirale können Betroffene nur schwer entkommen – je länger berufliche Fähigkeiten nicht oder nur eingeschränkt genutzt werden, desto weniger Relevanz haben sie bei Bewerbungen für adäquate Jobs. Fachleute sprechen diesbezüglich von Dequalifizierung.

Gleichzeitig beobachten Arbeitsmarktexperten eine Verdrängung niedrigqualifizierter Arbeitskräfte durch höherqualifizierte. Konnten sich früher Lehrlinge in großen Betrieben noch hocharbeiten, reicht für eine Stelle als Abteilungsleiter heute oft nicht einmal ein HTL-Abschluss. Führungspositionen werden vorzugsweise mit Betriebswirten besetzt. Dafür erledigen Geisteswissenschafter als Sachbearbeiter Aufgaben, für die man nicht studiert haben muss. Laut OECD-Bericht deutet einiges darauf hin, dass »der technologische Wandel eine entscheidende Rolle bei der Polarisierung des Arbeitsmarktes gespielt hat«. So sind beispielsweise in einem Sekretariat auch umfassende IT- und Sprachkenntnisse erforderlich.

Um für den digitalen Wandel besser gerüstet zu sein, sind jedenfalls noch größere Anstrengungen nötig. Dem Forschungsbericht »The Digital Talent Gap« von Capgemini und LinkedIn zufolge wird die »digitale Talentlücke« – die Differenz zwischen Nachfrage und Angebot an digitalen Talenten – immer größer. Dennoch sinken in 52 % der Unternehmen die Budgets für die digitale Aus- und Weiterbildung oder stagnieren auf niedrigem Level. Die Hälfte der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter investieren ihr eigenes Geld und private Zeit in die Entwicklung digitaler Skills. Vor allem die Generationen Y und Z zeigen sich jetzt schon besorgt: 47 % sind der Meinung, ihre derzeitige Qualifikation werde in den nächsten vier bis fünf Jahren überflüssig sein.

Digital versierte Talente zieht es deshalb mehrheitlich zu Arbeitgebern mit fortschrittlichen Trainingsprogrammen. »In Anbetracht der Tatsache, dass Mitarbeiter sich am meisten Sorgen machen, ihre Fähigkeiten könnten redundant werden, ist es für Unternehmen besonders wichtig, dies zu adressieren und klare Entwicklungspfade aufzuzeigen«, sagt Claudia Crummenerl, Head of Executive Leadership and Change bei Capgemini Consulting. »Die digitale Talentlücke wird größer werden und kein Unternehmen kann es sich noch leisten, dies zu ignorieren.«

Neue Wege

Auch Recruiter müssen neue Wege einschlagen, um passende Kandidaten und Unternehmen zueinander zu bringen. Klaus Lercher, Geschäftsführer der Trenkwalder Personaldienste GmbH und Verbandspräsident der Österreichischen Personaldienstleis­ter, nahm kürzlich im Rahmen der Personal Austria die eigene Branche in die Pflicht: »Die Trends gehen ganz klar in Richtung Flexibilität und Digitalisierung. Der Arbeitnehmer von morgen ist ein mobiler Arbeitnehmer, der digital arbeitet, wo und wann er will.« Einige Unternehmen haben noch nicht erkannt, dass ein moderner Arbeitsplatz mehr bieten muss als Gratis-Obst und Kaffee.

Die Nachfrage nach digitalen Lösungen, die Unternehmen bei der Personalsuche unterstützen, ist indessen ungebrochen. Das mehrfach ausgezeichnete Wiener Recruiting-Startup myVeeta verfolgt dabei einen anderen Ansatz: Es ermöglicht Firmen, sich ein eigenes Talente-Netzwerk aufzubauen. So können sie mit ihren ehemaligen Bewerbern, Mitarbeitern, Praktikanten und anderen Talenten langfristig in Kontakt bleiben. Ist ein Job vakant, können die Unternehmen auf den eigenen Pool passender, interessierter Personen zurückgreifen und dadurch rasch und unkompliziert geeignete Kandidaten finden. Das beschleunigt nicht nur die Personalsuche, sondern reduziert auch Aufwand und Kosten um bis zu 50 %.

Seit Anfang 2016 in Österreich erfolgreich unterwegs, ist infolge einer Kapitalerhöhung für Mitte 2018 die Eröffnung einer Niederlassung in Berlin geplant. »myVeeta konnte sich in den letzten Jahren auf dem österreichischen Markt gut positionieren, die Expansion nach Deutschland ist der nächs­te logische Schritt«, bestätigt myVeeta-Geschäftsführer Jan Pichler. myVeeta will aber auch Arbeitssuchenden den Prozess der Jobsuche erleichtern. Ein Bewerbungsmanager hilft bei der Erstellung der Unterlagen, versendet und verwaltet die Bewerbungen sowie Kontakte zu den Wunsch-Arbeitgebern – alles automatisch über die Online-Plattform und dennoch auf die Erwartungen der Personalverantwortlichen zugeschnitten.

Bewerbung via Video

Individualität ist – so scheint es, wenn man die standardisierten Bewerbungsformulare auf den Websites großer Unternehmen analysiert – ohnehin kaum gewünscht. Endlose Fragenkataloge geben kaum Raum für berufliche Abstecher und schrecken
Interessenten mit »bunten« Lebensläufen eher ab.

Candidate Experience ist für manche Unternehmen offenbar noch ein Fremdwort, wie Sabine Prettenhofer feststellen musste, als sie innovative Bewerbungsmethoden im Selbstversuch testete. Die langjährige Beraterin der Wiener Agentur Identitäter folgte ihrem Mann im September mit Sack und Pack nach Düsseldorf und beschloss, mit dem Ortswechsel auch einen Seitenwechsel zu verbinden. Statt weiterhin Unternehmen den Nutzen von Employer Branding und Corporate Culture näher zu bringen, sehnte sie sich nach praktischer Umsetzung und legte schon ihre Jobsuche recht ungewöhnlich an.

Die Agilität, die Prettenhofer in den vergangenen Jahren mit Leidenschaft von Unternehmen einforderte, sollte sich auch in ihrer Bewerbungsstrategie widerspiegeln. Auf einer eigens gestalteten Website dokumentierte sie ihr »Bewerbungsexperiment« und zog schon im ersten Monat über 900 Besucher an. Anstelle von Lebenslauf und Motivationsschreiben verschickte die quirlige Social-Media-Expertin kurze, originelle Videos. »Mein größtes Hindernis war, das Video überhaupt hochzuladen. Meist gibt es keine technische Möglichkeit dazu oder die Dateien sind zu groß«, erzählt Prettenhofer. Nur wenige Unternehmen, wie etwa Vodafone, sahen diese Art der Bewerbung explizit vor.

Zwei Monate später fällt ihre Bilanz durchwachsen aus. Ihre Website wurde in mehreren Kanälen und Netzwerken verlinkt. Mehrere Firmen meldeten sich aktiv bei ihr via Xing oder LinkedIn; auf die Bewerbungsvideos folgte oft eine prompte Einladung. Bei den Gesprächen lernte sie interessante, innovative Unternehmen kennen. Der Verband der deutschen Verkehrsunternehmen kreierte spontan einen neuen Job, zugeschnitten auf ihre vielfältigen Stärken, der Prettenhofer schließlich überzeugte. Ab Dezember wird sie frischen Wind in die verbandseigene Akademie bringen und innovative Lernformate entwickeln.

Ihre mutige, unkonventionelle Vorgangsweise stieß jedoch nicht überall auf Wohlwollen. Eine Personalistin deutete an, gemessen am Aufwand, den sich Prettenhofer »antue«, könnten manche glauben, sie sei bereits sehr verzweifelt auf der Suche.
30 % der Unternehmen gaben gar keine Rückmeldung. »Darunter sind große, bekannte Player, die viel Geld in Employer Branding investieren – umso erstaunlicher, dass trotzdem solche Kardinalfehler passieren«, meint Prettenhofer. »Mit diesen Unternehmen habe ich überhaupt kein Mitleid, wenn sie über Fachkräftemangel klagen.«

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