Mittwoch, Februar 05, 2025

Zukunftsforscher Christian Schuldt, Autor der Studie »Digitale Erleuchtung«, spricht im Interview über die mit der Digitalisierung verbundene »Kultur der Angst«, die kollektive digitale Verblendung und den bevorstehenden Eintritt in die Ära der Postdigitalisierung. 

(+) plus: Seit Jahren wird von der Digitalisierung als einem der gro­ßen Megatrends unserer Zeit gesprochen. In welchem Stadium der Wandlung befinden wir uns Ihrer Ansicht nach aktuell: am Beginn, mittendrin oder geht es schon dem Ende zu?

Christian Schuldt: Die Grundlagen der Computerisierung, die heute zu einer zunehmend hypervernetzten Welt führen, wurden bereits zur Mitte des 20. Jahrhunderts gelegt. Gefühlt jedoch stehen wir noch am Beginn der Digitalisierung, vor allem aufgrund der noch jungen Breitenwirkung des Internets und der radikalen Effekte, die die Vernetzung mit sich bringt. Dieser Wandel erzeugt auch eine kollektive Konfusion und versetzt die gesamte Gesellschaft in einen Zustand der chronischen Überforderung. Das ist zwar eine ganz normale Nebenwirkung medialer Revolutionen. Es sorgt jedoch auch dafür, dass Digitalisierung heute so stark mit Hypes und Hysterien verbunden ist: sowohl mit überzogenen Hoffnungen als auch mit überzogenen Ängsten.

(+) plus: Welche Branchen zählen zu den Vorreitern in Sachen Digitalisierung, wo gibt es den größten Nachholbedarf?

Schuldt: Der digitale Wandel betrifft sämtliche Branchen und Unternehmen. Disruptiv wirkt vor allem das Erschließen neuer Schnittstellenpotenziale, beispielhaft zu sehen am Phänomen der Plattform- oder Serviceökonomie: Unternehmen wie Airbnb und Uber erobern in Höchstgeschwindigkeit die Spitze der Hotel- bzw. Taxibranche, ohne ein Hotel oder Auto zu besitzen. Ihr einziger »Besitz«: ein starker Datenknotenpunkt, der zeitgemäße Nutzerinteressen anspricht und abdeckt. Wertschöpfung erfolgt im Zeitalter der Netzwerke selbst in Netzwerken – den größten Nachholbedarf haben deshalb jene Unternehmen, die diese neuen systemischen Kontexte noch nicht erkennen oder anerkennen (wollen) und weiterhin nach dem Muster der Vor-Internet-Gesellschaft operieren. Ihnen droht das Schicksal des »digitalen Darwinismus«, dem bereits Unternehmen wie Kodak oder Nokia zum Opfer fielen. Digitalisierung hat deshalb weniger mit technischen als mit mentalen und kulturellen Wandlungsprozessen zu tun.

(+) plus: Nicht wenige Ökonomen, darunter einflussreiche Vertreter wie Jeremy Rifkin, sehen durch die Digitalisierung das »Ende der Arbeit« auf uns zukommen. Wird uns die Arbeit wirklich ausgehen und ein neues »Armenheer« geschaffen?

Schuldt: Die Idee, dass die Digitalisierung bzw. die Automatisierung von Prozessen, unterstützt von der Entwicklung einer Künstlichen Intelligenz, »uns Menschen« die Jobs »wegnimmt«, ist psychologisch erklärbar als Resultat einer kollektiven digitalen »Verblendung«: Die digitale Vernetzung erzeugt einen massiven »Überschusssinn« in der Gesellschaft, der kurzsichtige Reaktionen und Interpretationen begünstigt. Dazu zählt auch die Geschichte von den Robotern, die uns die Jobs wegnehmen. Natürlich macht die Automatisierung viele bestehende Jobs überflüssig, das ist schon immer so gewesen. Gerade die vergangenen Jahrzehnte haben aber auch gezeigt, dass die Digitalisierung mehr neue Jobs schafft als sie »frisst«. Dabei handelt es sich um »komplementäre« Jobs, insbesondere in kreativen, kulturellen, sozialen Bereichen, die ganz gezielt auf genuin menschliche Kompetenzen setzen, auf Empathie, Emotion, Beziehungsfähigkeit. Also jene Fähigkeiten, die Maschinen wahrscheinlich niemals erlernen können. Arbeit ist kein Nullsummenspiel, sondern Schauplatz komplexer Veränderungen. Diese Veränderungen linear zu denken, bedeutet eine unterkomplexe Perspektive auf die Welt – und damit auch das Verkennen neuer Chancen und Potenziale.

(+) plus: Die mittel- und langfristigen Folgen der Digitalisierung auf die Wirtschaft sind für viele auch heute noch schwer abzuschätzen. Welche gravierenden Veränderungen sind aus Ihrer Sicht zu erwarten?

Schuldt: Eine, wenn nicht die entscheidende Veränderung ist die Tatsache, dass wir zunehmend auf Augenhöhe kommunizieren mit Maschinen, die für uns »black boxes« sind. Wir werden akzeptieren müssen, dass Computer in immer mehr Situationen unseres Lebens eine entscheidende Rolle spielen – ohne dass wir ihre algorithmischen Entscheidungsfindungsprozesse einsehen oder verstehen könnten. Diese Situation ist neu für den Menschen, und sie erfordert neue, »spielerischere« Denk- und Handlungskompetenzen, die auf diese hypervernetzte Welt zugeschnitten sind. Es könnte sogar sein, dass unser Hirn damit einen evolutionären Sprung in Richtung neuer Vernetzungskompetenzen macht.

(+) plus: Welche gesamtgesellschaftlichen Folgen wird die Digitalisierung und zunehmende Vernetzung sämtlicher Lebensbereiche nach sich ziehen?

Schuldt: Die Ära der Hypervernetzung bedeutet auch den Eintritt in die Ära der Postdigitalisierung: Die alte Differenz »digital versus analog« löst sich auf, »Digitalität« etabliert sich als organischer Bestandteil der Realität. Für junge Menschen, die in eine bereits vernetzte Welt hineingeboren wurden, ist diese Wirklichkeit schon heute gang und gäbe. Die große Herausforderung dieser vollvernetzten Zukunft wird darin liegen, einen adäquaten Umgang mit dieser neuen Realität zu finden – sozial wie kulturell. Es geht darum, den digital freigesetzten »Überschusssinn« zu managen: die nicht mehr überschaubare Vielfalt an Perspektiven und die nicht mehr einschaubaren Kontrolloperationen der Computer. Dafür ist es unabdingbar, grundlegende Digitalkompetenzen auf- und auszubauen. Der Bildungssektor wird dabei eine zentrale Rolle spielen: Wir brauchen eine zukunftsorientierte »Digital Literacy«.

(+) plus: Bewegen wir uns auf eine Diktatur des Algorithmus zu?

Schuldt: Die Formulierung »Diktatur des Algorithmus« ist ein schönes Beispiel für die Kultur der Angst, die heute oft mit dem Thema Digitalisierung verbunden ist – die zugleich zeigt, wie wichtig es ist, eine aufgeklärte, vorurteilsfreie Sicht auf das Thema Digitalisierung zu erlangen. Erst dann wird sichtbar, dass Digitalisierung kein technischer, sondern vor allem ein sozialer und kultureller Prozess ist – und dass dieser Wandel, wie die gesamte gesellschaftliche Evolution, nicht linear verläuft, etwa indem Algorithmen immer mächtiger und bedrohlicher werden, sondern in komplexen Schleifen. Die »Al(l)-gorithmisierung« zwingt den Menschen aber dazu, sich selbst neu zu definieren: Was bedeutet Menschsein heute und in Zukunft angesichts des immer stärkeren Eingreifens von Maschinen in die gesellschaftliche Kommunikation? Wie sehr können und wollen wir uns abhängig machen von Computern, die Menschen in vielerlei Hinsicht überlegen sind?

(+) plus: Viele verbinden mit der Digitalisierung die Chance auf neue Geschäftsmodelle. Matthias Horx, Gründer des Zukunftsinstituts, hat in einem Artikel im Handelsblatt geschrieben, dass »die meisten Digitalstrategien angstgetrieben und defensiv sind«. Wie kommt man zu diesem negativen Schluss?

Schuldt: Die allgemeine Verunsicherung in Bezug auf das komplexe Thema Digitalisierung erzeugt eine Komplexitätsangst, die kurzsichtige, reflexartige Reaktionen begünstigt. Auch hier reicht das Spektrum von Angststarre bis zu blinder Faszination. Viele Unternehmen unterliegen der Versuchung, irgendwie auf der digitalen Welle mitzureiten, was zu Me-too-Lösungen verleitet. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist die Reflexion und ein echtes Verständnis der Digitalisierung, ein Hinterfragen ihrer Auswirkungen auf die eigene Organisation. Zentral ist auch hier das Erlernen und Trainieren systemischer Beobachtungskompetenzen: Es geht darum, einen adäquaten Umgang mit der digitalen Komplexität zu finden, neue kognitive und kulturelle Kompetenzen aufzubauen und ein digitales Mindset zu schaffen. Das ist die Grundlage für nachhaltigen Erfolg in einer volldigitalisierten Welt.

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