Über Jahrzehnte stand Cecily Corti im Schatten ihres Mannes, des Regisseurs Axel Corti. Nach einer Begegnung mit Pfarrer Pucher (VinziDorf Graz) gründete sie in Wien mehrere Einrichtungen für Obdachlose und konnte Hans Peter Haselsteiner als Unterstützer gewinnen. Über »G'fraster« ordentlich gemachte Betten und ihre bewegte, aber auch schwierige Ehe erzählt sie im Report(+)PLUS-Interview.
Zur Person Cecily Corti, 1940 in Wien geboren, erlebte die ersten Kindheitsjahre in Slowenien. 1945 musste die Familie fliehen, der Vater wurde verschleppt und 1955 für tot erklärt. Nach der Matura in Salzburg und Auslandsaufenthalten in England und Frankreich lernte Cecily Corti beim Europäischen Forum Alpbach den Regisseur Axel Corti kennen, den sie mit 24 Jahren heiratete. Als ihre drei Söhne erwachsen waren, absolvierte sie eine Ausbildung in Initiatischer Therapie und Zen-Schulung und leitete ab 1989 Seminare und Einzeltherapien. Viele Jahre nach dem Tod ihres Mannes begann Cecily Corti 2001 ihr soziales Engagement, zunächst in einem Frauenhaus in Paris. Eine Begegnung mit dem Grazer Pfarrer Pucher begeisterte sie für das Engagement für Obdachlose. Im April 2004 eröffnete die Notschlafstelle VinziRast in Wien, drei weitere Einrichtungen für obdachlose Menschen folgten. Für ihren Einsatz wurde Corti u.a. mit dem Goldenen Ehrenzeichen der Republik Österreich und dem Bruno-Kreisky-Menschenrechtspreis geehrt. Ihre Lebenserinnerungen, aufgezeichnet von Jacqueline Kornmüller, erschienen 2015 unter dem Titel »Man muss auf dem Grund gewesen sein« im Verlag Brandstätter. Spendenkonto der Vinzenzgemeinschaft St. Stephan: IBAN: AT58 1200 0514 1353 3033 |
(+) plus: Sie erlebten in der Kindheit die Flucht aus Slowenien und den Verlust Ihres Vaters. Waren diese Erfahrungen für Ihr soziales Engagement entscheidend?
Cecily Corti: Da sehe ich keine unmittelbare Verbindung. Nachdem die Familie gewaltsam getrennt wurde, war für mich vor allem wichtig, dass wir fünf Geschwister mit der Mutter beieinander bleiben. Das Thema Trennung hat mich schon sehr früh beschäftigt. Später ist dann in mir die Sehnsucht gewachsen, meinen Beitrag zu leisten, für eine andere Welt. Wenigstens im Rahmen meiner Möglichkeiten wollte ich gestaltend tätig werden.
(+) plus: In der Vinzi-Rast finden auch Menschen Unterschlupf, die in anderen Einrichtungen nicht aufgenommen werden. Wen betrifft das besonders?
Corti: Bei uns gilt »bedingungslose Akzeptanz« für jeden, der vor der Tür steht, also auch Frauen, Pärchen – sie dürfen in einem Bett schlafen –, Menschen mit Hunden und natürlich Menschen aller Nationen. Aber ganz bedingungslos geht es bei uns auch nicht: Man muss z.B. in die Dusche von Zeit zu Zeit, und mit den Schuhen ins Bett geht auch nicht. Wenn jemand furchtbar stinkt, beklagen sich die anderen.
(+) plus: Sind Sie eine strenge Herbergsleiterin?
Corti: Das glaube ich nicht, dass ich als streng gelte. Ich bin sehr wachsam. Ich lege großen Wert darauf, dass die Betten gut gemacht sind. Da klettere ich auf das obere Bett und zeige es immer wieder vor. Ich sehe das auch als eine Möglichkeit des Kontakts mit dem Gast. Unsere Gäste merken ja, dass unsere Schlafräume »welcoming« sind. Dort riecht es gut, es ist hell, es liegen keine Essensreste und keine Schmutzwäsche herum. Die Menschen tragen so selber auch zu einer guten Atmosphäre bei und erleben sich daher hoffentlich nicht als Almosenempfänger.
Foto: Im Restaurant der VinziRast mittendrin wird biologisch gekocht. Die Idee zu dem kombinierten Wohnprojekt entstand im Zuge der Uni-Besetzung 2009.. |
(+) plus: Hat sich Ihre Klientel in den letzten Jahren verändert?
Corti: Wir hatten in den ersten Jahren viel mehr Österreicher, oft Alkoholkranke und Drogenabhängige, auch Menschen mit psychischen Problemen. Jetzt kommen mehr Menschen aus Osteuropa, aber auch aus Afrika. In den letzten Jahren sind viele Einrichtungen entstanden für Österreicher und Bürger der EU-Staaten. Wir in der VinziRast nehmen alle, allerdings mit einer Beschränkung für 30 Tage. Aber wenn wir meinen, dass die Straße aus psychischen oder physischen Gründen nicht zumutbar ist, verlängern wir den Aufenthalt. Wir besprechen das immer im kleinen Team.
(+) plus: Fast alle MitarbeiterInnen sind ehrenamtlich tätig und haben keine einschlägige Ausbildung. Braucht die Betreuung von schwierigen Personengruppen kein Fachwissen, reicht hier Empathie?
Corti: Mir ging es von Beginn an darum: Was macht uns zu Menschen? Wir beschränken uns darauf. Dafür benötigt man keine besondere Ausbildung. Wir tun, was zu tun ist. Was heißt Mitmenschlichkeit? Es geht um Empathie, und diese ist im Grunde unerlässlich für eine veränderte Gesellschaft. Das bedeutet permanente Übung in der Qualität des Umgangs miteinander.
Foto: In der hauseigenen Fahrradwerkstatt können sich die Bewohner ein Zubrot verdienen. |
(+) plus: Sie beschreiben in Ihrem Buch die Geschichte eines polnischen Paares, das trotz aller Unterstützung nicht vom Alkohol wegkam und schließlich sein Baby weggeben musste. Verzweifeln Sie in solchen Momenten?
Corti: Wissen Sie, wir sind immer wieder mit extremen Situationen konfrontiert. Sie gehören zum Leben in diesem besonderen Umfeld. Aber viele von uns erleben ja auch im eigenen Dasein Phasen, die schwer zu meistern sind. Einer meiner Söhne hatte einmal einen schweren Unfall und schwebte ein paar Stunden zwischen Leben und Tod. Das war kaum auszuhalten. Ich denke, solche Erfahrungen machen uns fähig für wirkliche Anteilnahme. Die ist ganz wichtig, nicht Mitleid.
(+) plus: Haben Sie mit Ressentiments aus der Nachbarschaft zu kämpfen?
Corti: Wir haben einen Innenhof, in dem die Menschen im Sommer abends gerne sitzen. Es gab in den ersten Monaten nach der Eröffnung Nachbarn, die manchmal »Gfraster« und »Bsoffenes Gsindel« aus dem Fenster brüllten.
Wir bemühen uns sehr, Belästigung durch Schmutz oder Lärm zu vermeiden. Inzwischen bekommen wir von Menschen aus der Nachbarschaft oft Spenden, auch Kleidung, Möbel und Essen. Trotzdem meinen einige Leute, wenn man irgendwo am Gehsteig auf einen Hundehaufen tritt, unsere Gäste dafür verantwortlich machen zu müssen.
(+) plus: Einer Ihrer Unterstützer ist Hans Peter Haselsteiner. Wie konnten Sie ihn überzeugen?
Corti: Das war nicht so schwierig. Eine Bekannte vermittelte mir einen Termin bei ihm, das war das unerwartete Glück. Wir wollten die Wohnungen sanieren und ich suchte nach Unterstützung für die Baumaterialien. Diese Begegnung mit Herrn Haselsteiner war ein großes Geschenk – er macht nicht große Worte, er hört zu. Er sah sich die Pläne und Kostenvoranschläge an und sagte: »Das g’fallt mir, das mach ich!« So war es dann auch. Innerhalb von neun Monaten war das Haus komplett saniert, zwei Stockwerke draufgesetzt und ein Lift eingebaut. Ich denke, er weiß, dass wir sehr verantwortungsvoll mit seinem Vertrauen umgehen. Wir haben in den vergangenen Jahren eine stabile Struktur entwickelt.
(+) plus: Die ÖsterreicherInnen sind stolz auf ihre Spendenbereitschaft. Steckt dahinter auch oft der Wunsch, das Gewissen zu beruhigen?
Corti: Das möchte ich niemandem unterstellen. Die Menschen wissen, dass es fast allen von uns gut geht und viele andere schlechtere Lebensumstände vorfinden. Die große Spenden- und Einsatzbereitschaft derzeit finde ich großartig. Kontinuierlich dabei zu bleiben, ist aber nochmal etwas anderes. Und wie es sich auswirken wird, wenn die vielen, vielen Flüchtlinge in Zukunft an unserem sozialen System teilnehmen werden, das wird auch nicht allen passen.
Es wird an uns liegen, wie ihre Inklusion in unsere Gesellschaft gelingen wird. Können wir ihnen unsere Werte vermitteln
ohne Besserwisserei und Überlegenheit? Und sind wir bereit, uns durch Menschen aus einem so anderen Kulturkreis bereichern zu lassen?
(+) plus: Vermissen Sie in der Flüchtlingsfrage eine klare Haltung seitens der Politik?
Corti: Mir erscheinen die Positionen einiger Politiker sehr theoretisch. Wenige wissen, was sich unter den Flüchtlingen wirklich abspielt. Im Grunde sind sie alle ratlos. Und einfach ist die Situation nicht. Gleichzeitig ist die fehlende Bereitschaft einiger EU-Länder beschämend. Es zeigt, was die Wertegemeinschaft wirklich wert ist.
(+) plus: Sie hielten Ihrem Mann für seine Arbeit den Rücken frei. Nur wenige wissen vermutlich, dass Sie eine Ausbildung zur Therapeutin absolviert haben. Konnten Sie ein eigenständiges Leben erst nach seinem Tod beginnen?
Corti: Das war kein Kriterium für mich, ein eigenständiges Leben. Ich hatte mich für ihn entschieden, ohne Wenn und Aber. Aber einfach war es nicht. Nach einer längeren, sehr tiefen Krise hat sich unser Selbstverständnis stark verändert. Das war wichtig. Ich bin sehr dankbar, dass wir dann noch einige wunderbare gemeinsame Jahre hatten. Natürlich wäre aber diese Form von Engagement, wie ich es jetzt
lebe, im Leben mit ihm nicht möglich gewesen.
(+) plus: Ihr Sohn Sebastian sagte in einem Interview: »Ich möchte nicht so ein Perfektionist sein wie mein Vater, denn dann ist man unerträglich.« War Ihr Mann manchmal unerträglich?
Corti: Meine Kinder hatten es schwer. Mein Mann wollte seine Ideen bis in die letzten Nuancen nach seinen Vorstellungen umsetzen. Er war leidenschaftlich in allem. Und ja, er war ein Perfektionist.
Foto: Mit dem Regisseur und Autor Axel Corti verband Cecily Corti eine schwierige, von Höhen und Tiefen geprägte Beziehung. |
(+) plus: Mit seinen Filmen und Radiobeiträgen hat Axel Corti österreichische Kulturgeschichte geschrieben. Hat er diese Diskrepanz zwischen der privaten und der öffentlichen Person, die er war, selbst auch so empfunden?
Corti: Das kann ich nicht sagen. Er ist jedenfalls immer unter Spannung gestanden. Es war einfach unmöglich für ihn, alles unter einen Hut zu bringen. Er konnte der Familie nicht in dem Maß gerecht werden, wie er es gerne wollte. Außerdem war er ein Mensch mit Existenzangst. Das machte ihm sehr zu schaffen.
(+) plus: Sie lebten einige Zeit getrennt, begleiteten ihn aber die letzten Jahre durch seine schwere Krankheit. Ist das Gefühl der Verbundenheit letztlich stärker als Kränkungen?
Corti: Für mich war das Gefühl der Verbundenheit immer da. Die Krankheit und wie er damit umgegangen ist, hat das eher noch verstärkt. Kränkungen erleben wir alle. Und wir fügen sie auch zu. Ich habe ihm das Leben auch nicht immer einfach gemacht. Aber sind es nicht gerade die Hindernisse und Stolpersteine, an denen wir wachsen und reifen und vor allem mehr über uns selbst erfahren?
(+) plus: Was würde er sagen, wenn er sehen könnte, was Sie alles auf die Beine gestellt haben?
Corti: Was wäre, wenn, gilt nicht. Aber vielleicht: »Das hab ich eh immer gewusst!« Schon als wir uns kennenlernten, hat er ein Potenzial in mir gesehen,von dem ich keine Ahnung hatte.