Sonntag, Juni 30, 2024
Im Zeichen der KI
Automatisierungslösungen erobern die Landwirtschaft – und könnten die Welternährung maßgeblich beeinflussen.

Auf der Hannover Messe 2024 zeigte sich die Innovationskraft der europäischen Unternehmen so stark wie selten zuvor. In der Industrie herrscht Aufbruchstimmung. Ein Thema dominierte die Fachmesse: Wie Künstliche Intelligenz die Industrie revolutionieren könnte.

 

Eigenständig lernende Roboter, KI-gesteuerte Maschinen, Anlagen zum Recycling von Elektrobatterien oder Bio-Batterien, die Wasserstoff mithilfe von Bakterien speichern und transportieren: Auf der diesjährigen Leitmesse der Industrie in Hannover standen innovative Lösungen für eine intelligente und CO2-neutrale Produktion im Mittelpunkt. »Unsere Aussteller zeigen, dass eine wettbewerbsfähige und nachhaltige Industrie auch in Europa möglich ist. Sie liefern Antworten auf die Frage, wie Automatisierung, künstliche Intelligenz, modernste Antriebstechnik, erneuerbare Energien oder Wasserstoff sinnvoll eingesetzt werden können«, erklärte Jochen Köckler, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Messe AG, bereits im Vorfeld. »Die Geschwindigkeit, mit der KI-Lösungen ihren Weg in die Industrie finden, ist atemberaubend. Generative KI wird in naher Zukunft in der Lage sein, Maschinen zu entwerfen.« Hatten die Coronapandemie und hohe Energiepreise die Investitionslust der Industrie merklich gedämpft, kündigt sich durch die raschen Fortschritte in KI-basierten Lösungen nun eine Wende an.

Tatsächlich dominierte das Thema Künstliche Intelligenz alle Anwendungsfelder. Mehrere Unternehmen präsentierten Möglichkeiten, wie durch den Einsatz von GenAI Wettbewerbsvorteile erzielt werden können. In welche Richtung sich die Technologie entwickeln könnte, erklärte in einer Paneldiskussion der deutsche KI-Forscher und Ingenieur Jonas Andrulis, der mit seinem Unternehmen Aleph Alpha eine Alternative zu den vorherrschenden KI-Modellen US-amerikanischer und chinesischer Firmen bieten will. Er begrüßt das Forcieren von trainierten Sprachmodellen, seine Pläne gehen jedoch weiter – ihm schwebt eine Technologie vor, die generative KI nutzt und Innovationen einbringt, eine Art »Betriebssystem für generative KI«.

Gemeinsam schneller
Viele Unternehmen bündeln ihr Know-how, indem sie Kooperationen mit anderen Partnern eingehen und damit Technologien schneller vorantreiben. ABB gab im Rahmen der Hannover Messe die Gründung einer Interoperabilitätsinitiative – gemeinsam mit Capgemini, Microsoft, Rockwell Automation, Schneider Electric und Siemens – bekannt. »Margo« wird von der Linux Foundation gehostet und soll die größten Hindernisse für die digitale Transformation beseitigen. Künftig wird es möglich sein, Anwendungen von jedem Mitglied der Initiative auf der Hardware und dem Laufzeitsystem jedes anderen Mitglieds auszuführen und zu kombinieren. Insbesondere auf der Schlüsselebene industrieller IoT-Ökosysteme, in denen Anlagendaten in KI-gestützte Erkenntnisse umgewandelt werden, könnte die Interoperabilität ein entscheidender Faktor für mehr Effizienz und Nachhaltigkeit sein.

Auf Zusammenarbeit wird auch in einzelnen Projekten gesetzt. So haben Microsoft und Siemens den Industrial Copilot mit neuen Funktionen bereichert. Der KI-Assistent ermöglicht Unternehmen, generative KI im industriellen Maßstab zu nutzen und in Produktionsprozesse zu transformieren. Als einer der ersten Kunden testet die Grenzebach Gruppe, globaler Anbieter von Automatisierungslösungen, wie sich damit Fehleranfälligkeit, Zeit und Kosten reduzieren lassen. Siemens forciert den Einsatz KI-gestützter Copiloten entlang der gesamten Wertschöpfungskette und für verschiedenste Branchen – u. a. in der Automobilindustrie, im Gesundheitswesen und im Maschinenbau. Statt Informationen zur Maschine umständlich in Handbüchern zu suchen, kann beispielsweise der Copilot in natürlicher Sprache befragt werden. Die nahtlose Verbindung des Siemens-Portfolios mit Microsoft Azure beschleunigt Abläufe und hebt somit die Mensch-Maschine-Interaktion auf ein neues Niveau. Bei Schaeffler übernimmt der Industrial Copilot von Siemens bereits die Programmierung für die Maschinensteuerung, indem der KI-Assistent nach einfacher Spracheingabe die erforderlichen Codes generiert.

BMW präsentierte in einem Showcase ein gemeinsam mit Microsoft entwickeltes Projekt, bei dem Sprachsteuerung hilft, Daten für die Fahrzeugentwicklung aus unterschiedlichen Systemen zu integrieren und damit die Prozesse spürbar zu vereinfachen. Dabei werden datenbasierte Ergebnisse über HoloLens 2 als Hologramme auf reale Bauteile projiziert.

Copiloten im Einsatz
Der Metris Copilot von Andritz kombiniert die Erkennung von Anomalien mittels eines digitalen KI-Assistenten mit Chat-Schnittstelle, der Informationen nahezu in Echtzeit liefert und bei der Entscheidungsfindung unterstützt. Diese Lösung nutzt Daten von IoT-Sensoren und Steuerungssystemen, um Störungen, Fehler und Ausfälle mithilfe von Algorithmen zu erkennen und zu vermeiden.

Bosch startete in zwei Werken Projekte, bei denen generative KI synthetische Bilder erzeugt, um Lösungen für die optische Inspektion zu entwickeln, zu skalieren oder bereits vorhandene KI-Modelle zu optimieren. Das Unternehmen geht davon aus, dass sich damit die Zeit von der Projektierung über die Inbetriebnahme bis hin zum Hochlauf von KI-Anwendungen von derzeit sechs bis zwölf Monaten auf nur noch wenige Wochen reduziert.

Das deutsche Familienunternehmen Harting, weltweit tätiger Hersteller von Steckverbindungen, zeigt, wie künstliche Intellligenz spezifische Anpassungen bei industriellen Produkten revolutionieren kann: Eingaben in natürlicher Sprache werden durch Microsoft-Erkennungsalgorithmen und kontextbezogenes Verständnis interpretiert, um 3D-Modelle für die CAD-Software Siemens NX zu erstellen. Dies beschleunigt Entwicklungsprozesse und ermöglicht ideal an die Anwendung angepasste Konnektivitätslösungen bei geringstem Ressourceneinsatz.
Der TwinCAT Chat von Beckhoff nutzt KI-unterstütztes Engineering für das Erstellen bzw. Ergänzen von Codes. In Verbindung mit Microsoft Azure können über das Automation Interface Projekte modifiziert werden. Die Mitarbeiter*innen können konkrete Fragen stellen, der generierte Code kann anschließend direkt übernommen werden – das spart Zeit und minimiert mögliche Fehler einer manuellen Übertragung.

Roboter, stopp!
Ein Teil der Lösungen liegt in der Sprachsteuerung, die durch generative KI einen deutlichen Sprung nach vorne macht. Bislang kamen Sprachassistenten wie »Alexa« oder »Siri« vorwiegend im privaten Umfeld zum Einsatz, was auch an den deutlich höheren Sicherheitsanforderungen in der Industrie liegt. So können Latenzzeiten bei der Übertragung von Sprachsignalen an weiter entfernte Server nicht toleriert werden: Ruft ein Mitarbeiter »Stopp«, muss die Maschine in Echtzeit reagieren. In sicherheitskritischen Einrichtungen spielt zudem das Manipulations- und Ausfallrisiko der Netzwerkverbindung eine wesentliche Rolle. Mit der Entwicklung von Embedded-KI besteht nun die Möglichkeit, innovative Sprachsteuerungsmodelle zu realisieren, die diesen besonderen Anforderungen entsprechen. Für Viacheslav Gromov, Gründer und Geschäftsführer des KI-Anbieters AITAD, steht fest: »Die neue Sprachsteuerung wird die Bedienung in Industrie und Medizin nachhaltig verändern und bestimmen.« Mittels einfacher Sprachbefehle, etwa »Roboter, starte Programm A auf Maschine 3« oder »Roboter, Motor 4 erhöhe die Drehzahl um 40 Prozent«, die von den Unternehmen individuell konfiguriert werden, ist berührungsloses, barrierefreies Steuern möglich. Die maßgeschneiderten Systeme sind in mehreren Sprachen verfügbar und funktionieren durch zusätzliche Mikrofone auch in lauter Umgebung – Störgeräusche werden ausgefiltert.

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Bild: Bei Schere-Stein-Papier mit dem Roboter hat der Mensch keine Chance, weil die Maschine deutlich schneller reagiert.

Klimaneutrales Rechenzentrum
Trotz vielfältiger Perspektiven für die Industrie gibt es auch Schattenseiten: GenAI erfordert eine gigantische Rechenleistung. Analyst*innen des Beratungsunternehmens Omdia gehen davon aus, dass sich der Energiebedarf durch künstliche Intelligenz in den nächsten fünf Jahren verzehnfachen wird. Der Energieversorger WestfalenWind IT suchte daher nach einer klimafreundlichen Lösung. Gemeinsam mit dem Schaltanlagen-Spezialisten Rittal realisierte man Rechenzentren direkt am Windrad, die grünen Strom unmittelbar am Ort der Erzeugung nutzen – oftmals aus Überkapazitäten, die sonst ungenutzt verpuffen würden. Ein großer Automobilhersteller verlegte bereits umfassende Anwendungen in ein WindCores-Rechenzentrum und führt künftig High-Performance-Computing sowie Simulationen für autonomes Fahren klimaneutral aus. Rittal stellt die komplette Infrastruktur, darunter drei Sicherheitsräume, IT-Racks, Klimatisierung, unabhängige Stromversorgung und Monitoring zur Verfügung. Auch das Thema Wasserstoff bleibt aktuell: Festo präsentierte mit der »BionicHydrogenBattery« ein ökologisches Konzept für die Speicherung und den Transport von Wasserstoff mithilfe von Bakterien. Dafür wird der volatile Stoff – Wasserstoff erfordert extrem hohe oder niedrige Temperaturen und hohen Druck – in Ameisensäure umgewandelt. Am Zielort kehren dieselben Bakterien den Prozess um – energieeffizient, sicher und wirtschaftlich nutzbar.

 


»Das Zeitfenster schließt sich«

Europa hätte das innovative Potenzial, um in den Bereichen E-Mobilität und Batteriezellen gegenüber Asien aufzuholen, meint Bernd Mangler, Senior Vice President und Head of Automotive, Battery & Projects bei der Siemens AG.

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Bild: Siemens-Manager Bernd Mangler: »Wir müssen den Menschen die Scheu nehmen, indem wir offen über das große Potenzial von Technologieinno­vationen kommunizieren.«

Wie gut ist die europäische Industrie aufgestellt?

Bernd Mangler: Die europäische Industrie muss sich in keinster Weise verstecken. Wir haben exzellente Forschungsinstitute und Universitäten, die innovative Hochtechnologie hervorbringen. Wo wir insbesondere in Mitteleuropa nachschärfen müssen, ist der Transfer dieser Forschungsergebnisse in die Industrie. Der dauert meiner Erfahrung nach zu lang. Das ist eine Aufgabe für die gesamte Industrie, auch um Talente hier in Europa halten zu können. Das Thema Batteriezellen wurde in den letzten 30, 40  Jahren von Asien dominiert. Wenig überraschend haben die asiatischen Hersteller einen deutlichen Vorsprung. Wenn Europa sagt, das ist im Sinne der Nachhaltigkeit eine wichtige Technologie, müssen wir dort ­investieren. Ich bin normalerweise kein Freund von Subventionen, aber um hier etwas voranzubringen, muss gemeinsam mit staatlichen Stellen ein Gang zugelegt werden.

Welches Potenzial hat der Bereich Batteriezelle?

Mangler: Im Moment liegt der Fokus ganz stark auf E-Mobilität – was richtig und wichtig ist, denn die Autoindustrie hat ja einen sehr großen CO2-Footprint. Relevant für die Zukunft ist die Entwicklung entsprechender Speichermedien für erneuerbare Energie. Auch unabhängig von der Elektromobilität sind Batteriezellen ein Bereich, von dem ich meine, dass Europa sich damit intensiver beschäftigen sollte. Die Geschwindigkeit, mit der in Asien Innovationen angegangen werden – das ist schon beeindruckend. Wir tun gut, uns daran ein Beispiel zu nehmen, denn irgendwann schließt sich das Zeitfenster.

Sollte man Elektromobilität also immer als Gesamtsystem angehen?

Mangler: Ich würde es unbedingt so sehen. Die Technologie entwickelt sich stetig weiter – günstigere und kleinere Batteriezellen, geringeres Gewicht, höhere Leistungsdichte, größere Reichweite. Das ist auch eine Chance für europäische Unternehmen, die in der ersten Welle vielleicht noch nicht dabei waren, in Lösungen zu investieren, die heute noch nicht etabliert sind, und sich darauf zu fokussieren, wie die Technologie von morgen oder übermorgen aussehen könnte.

Aus der Perspektive einer Fabrik – Stichwort Smart Manufacturing – ist es nicht erheblich, ob ein Verbrennungsmotor oder eine Batteriezelle produziert wird. Die Fabrik der realen Welt wird eins zu eins in der virtuellen Welt abgebildet. Bevor Material und Maschinen zum Einsatz kommen, wird jeder Vorgang simuliert. Das ist ein wirklich wichtiger Beitrag für die Umwelt und nicht einfach nur eine Spielerei für Ingenieure.

Wirkt sich das auf die Qualität aus?

Mangler: Ein Beispiel aus unserem Elektronikwerk in Amberg, wo Siemens die Steuerungstechnik produziert: Früher liefen alle fertigen Bauteile durch ein Röntgengerät. Diese Kontrolle ist sehr teuer und zeitaufwendig, aber im Sinne unseres Qualitätsanspruchs notwendig. Einem Team gelang es, aufgrund der Auswertung der bisherigen Prüfparameter ein KI-Modell zu erstellen, welche Bauteile in die Röntgenkontrolle geschickt werden müssen. Die künstliche Intelligenz hilft uns, die Qualität auf dem hohen Level zu halten, aber gleichzeitig Kosten zu sparen.

Ähnlich ist es bei der Herstellung von Batteriezellen. Dieser komplexe Prozess ist sehr teuer, langwierig, material- und energieintensiv. Wird erst am Ende festgestellt, dass die Batteriezelle defekt ist, wurden unnötig Ressourcen verbraucht. Auch hier hilft uns KI, indem Algorithmen frühzeitig im Prozess erkennen, dass z. B. ein Material­fehler vorliegt.

Was ist vom Einsatz künstlicher Intelligenz noch zu erwarten?

Mangler: Eine Innovation muss auch immer skalierbar sein. In den Köpfen der Menschen steckt so viel Wissen, diese sind aber meist keine Computerspezialisten. Wenn dieses Know-how über natürliche Sprache in Programmiercodes umgewandelt werden kann, ergibt sich eine Lösung mit breiten Anwendungsmöglichkeiten. Bei vielen Innovationen zeigt sich aber zunächst: Die Vorstellungskraft der Menschen ist oft nicht groß genug – und gleichzeitig ist der Respekt vor Technologien immens.

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