Die österreichische Verfassung wurde im Oktober 100 Jahre alt – und man muss sich ernsthaft fragen, ob das ein Grund zum Feiern ist. Denn nur was jeder versteht, kann auch nachhaltig wirken.
Ein Kommentar von Hubert Thurnhofer
Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus«, so der Artikel 1 unserer Verfassung (B-VG). Wenn das Recht vom Volk ausgeht, so stellt sich die Frage: Wo kehrt es danach ein? Die Antwort lautet: im Staatsapparat. Während die Bedeutung der Medien in mehreren Artikeln hervorgehoben wird (zum Beispiel Pressefreiheit, Zensurverbot, Rundfunkgesetz), so findet sich die Wirtschaft explizit nur im Artikel 4, 1 B-VG: »Das Bundesgebiet bildet ein einheitliches Währungs-, Wirtschafts- und Zollgebiet.«
Ob die Wirtschaft liberal oder genossenschaftlich, markt- oder planwirtschaftlich organisiert sein soll, darüber gibt die Verfassung keine Auskunft. Im Sachregister finden sich Hinweise auf »Wirtschaftlichkeit« (Überprüfung durch den Rechnungshof), Gemeinden als selbstständige »Wirtschaftskörper« und »Wirtschaftskammergesetz« – also Wirtschaft als Bestandteil der Verwaltungsapparate.
Ein Großteil des B-VG regelt, welche Gesetze der Bund erlassen und vollziehen muss und welche der Bund erlässt, aber die Länder zu vollziehen haben. Die Juristen sprechen von Kompetenz-Artikeln. Im Wortlaut des Artikel 10, der inklusive Anmerkungen 14 Seiten umfasst, heißt es (auszugsweise): »(1) Bundessache ist die Gesetzgebung und die Vollziehung in folgenden Angelegenheiten: 1. Bundesverfassung, insbesondere Wahlen zum Nationalrat, und Volksbegehren, Volksabstimmungen und Volksbefragungen […] 5. Geld-, Kredit-, Börse und Bankwesen […] 8. Angelegenheiten des Gewerbes und der Industrie […] 9. Verkehrswesen bezüglich der Eisenbahnen und der Luftfahrt sowie der Schifffahrt, […] Umweltverträglichkeitsprüfung für Bundesstraßen und Eisenbahn-Hochleistungsstrecken, bei denen mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist. [...]« Und so weiter bis Absatz 17.
Das ist nur einer von zirka 200 Artikeln des B-VG. Dazu kommt das Nebenverfassungsrecht, das inkludiert unter anderem den Staatsvertrag, das Neutralitätsgesetz, das Rundfunkgesetz, das Parteiengesetz, die Europäische Menschenrechtskonvention und die Charta der Grundrechte. Als Taschenbuch hat dieses Werk einen Umfang von 620 Seiten. Wenn die Verfassung die Grundlage unserer Demokratie sein soll und wenn die Demokratie von allen Menschen dieses Landes mitgetragen werden soll, dann sollte jeder die Verfassung kennen und verstehen. Dazu ist die bestehende Verfassung nicht geeignet. Eine Verfassung, die nur von Experten verstanden und interpretiert werden kann, führt jedoch das demokratische Prinzip ad absurdum. Das ist der Hauptgrund, warum diese Verfassung für das 21. Jahrhundert nicht geeignet ist.
Die Charakterisierung als »Spielregelverfassung« beschönigt ihre Bürokratielastigkeit, doch die Verfassungsexperten stellen dieses Verfassungsideal nicht in Frage. Das Ideal wurde so längst zur Ideologie. Es gibt auch andere Verfassungen, die nicht nur die Form, sondern auch den Inhalt vorgeben. So regelt die Schweizerische Verfassung (nach ihrer Gesamtreform im Jahre 1999) in Artikel 84, 1: »Der Bund schützt das Alpengebiet vor den negativen Auswirkungen des Transitverkehrs. Er begrenzt die Belastungen durch den Transitverkehr auf ein Mass, das für Menschen, Tiere und Pflanzen sowie ihre Lebensräume nicht schädlich ist. 2. Der alpenquernde Gütertransitverkehr von Grenze zu Grenze erfolgt auf der Schiene.« Vergleiche damit Artikel 10, Absatz 9 B-VG!
So einfach kann Verfassung sein. Nur was jeder versteht, kann auch nachhaltig wirken. In diesem Sinne sollte die Schweizerische Verfassung zu unserem Vorbild werden.