Eine Analyse von Rainer Sigl.
Es ist ein fulminanter Start: Googles bisher nur in Betaversion zugänglicher Social-Web-Service Google+ hat in den ersten zwei Wochen seiner Existenz unglaubliche zehn Millionen Nutzer akquiriert – Tendenz rasant steigend. Google+ ist somit das am schnellsten wachsende soziale Netzwerk aller Zeiten. Das ist umso bemerkenswerter, als die Nutzung im Moment ausschließlich per persönlichem »Invite« stattfindet: Nur wer drin ist, kann andere zur Nutzung einladen. Die von Google zu Beginn handverlesenen Testnutzer aus der Technik- und Journalismusbranche waren ebenso verlässliche Multiplikatoren wie die nachströmenden Neugierigen, die ihrer Begeisterung im Netz Ausdruck verliehen. Von Google selbst sind diese Zahlen im Moment nicht zu hören; die beeindruckende Nutzerzahl wurde vielmehr von Google+-User Paul Allen, Gründer von ancestry.com, einer Genealogiedatenbank, aufgrund der Vornamensverteilung errechnet.
Googles öffentliche Zurückhaltung angesichts dieses Blitzstarts ist verständlich, denn ob die anfängliche Euphorie anhält und dem Riesen Facebook tatsächlich zu schaffen machen wird, ist noch unklar, vor allem weil Googles bisherige Versuche, mit Buzz und Wave in die Welt des Social Networkings vorzudringen, mehr oder weniger spektakuläre Fehlstarts waren. Mit unglaublichen 750 Millionen Nutzern ist Facebook ganz eindeutig der tonnenschwere Incumbent in diesem Spiel, und allein diese schiere Größe stellt sicher, dass Facebook auf Jahre hinaus Gewicht in der Welt des Social Web behalten wird. Was für eine graduelle Ablöse spricht, ist aber der laufend anwachsende Unmut der Facebook-Benutzer, erst jüngst angesichts der fast unbemerkt erfolgten Aktivierung der Gesichtserkennung für alle Userfotos. Allein im Mai sollen Berechnungen des Monitoring-Blogs Inside Facebook zufolge in den USA sechs Millionen Nutzer ihr Konto gekündigt haben, und in der Liste der meistgehassten US-Firmen des American Customer Satisfaction Index steht Facebook inzwischen auf Platz zehn. Es könnte durchaus sein, dass Facebook just vor dem immer wieder fantasierten Börsegang das Schicksal von MySpace bevorsteht – das ironischerweise wiederum von Facebook in die Bedeutungslosigkeit gedrängt wurde.
Google+ setzt geschickt an den Schwachstellen des großen Rivalen an: Das bei Facebook traditionell sehr klein gedruckte und schwer administrierbare Privatsphärenmanagement wird vorbildlich vereinfacht und offengelegt. Das »Opt-in« soll Facebooks immer wieder scharf kritisierte »Opt-out«-Politik ersetzen: Zusätzliche Features sollen vom Nutzer aktiviert werden, anstatt wie bei Facebook allen Nutzern per Default aufgezwungen zu werden. Die Strukturierung der sozialen Kontakte in eigene »Circles« soll ein Differenzieren des jeweiligen Öffentlichkeitsgrades ermöglichen, sodass zum Beispiel die Firmenkollegen andere Inhalte zu sehen bekommen als Saunarunde oder Familie – ein Feature, das Mark Zuckerbergs oft und großspurig vertretener Ideologie, dass das Zeitalter der Privatsphäre vorbei sei, zumindest oberflächlich betrachtet erholsam Paroli bietet.
Ein Hauptargument für den Erfolg von Google+ ist aber Google selbst: Der Suchmaschinengigant hat inzwischen unzählige gern genutzte Gratisdienste für beinahe jeden Zweck im Portfolio: Freemail, Kalender, Online-Textverarbeitung, Google Earth/Maps, Online-Bildbearbeitung und -Speicher sowie nicht zu vergessen das in diese Services fast nahtlos integrierte, rasant an Marktanteilen gewinnende mobile Betriebssystem Android bieten ein ständig wachsendes, laufend weiterentwickeltes Online-Gesamtpaket, neben dem Facebook wie eine proprietäre Insellösung aussieht. Im Vergleich zum bekannt innovativ und oft auch ideologisch oder gar politisch agierenden Google – man erinnere sich an die letztjährige Weigerung, mit der chinesischen Regierung weiterhin in Sachen Zensur zu kooperieren – erscheinen Facebooks Versuche, per Webschnittstellen und »Gefällt mir«-Buttons das gesamte Web von Facebook aus zu erobern, beinahe unbeholfen. Um im Bild zu bleiben: Während Facebook eine Insel im Meer des Internets ist, ist Google längst ein eigener Kontinent.
Diese Ausnahmestellung birgt aber auch reale Gefahren, die mit dem absehbaren Erfolg von Google+ eher wachsen werden. Googles blauäugiges Motto »Don’t be evil« ist nur ein schwacher Trost für Kritiker des täglich in verschiedenste Richtungen ausufernden Imperiums. Denn klarerweise ist auch und gerade Google ein Daten sammelndes und diese analysierendes Unternehmen, das letztlich auf Profit aus ist – welche Daten die Nutzer dem neuen Social-Network-Spielplatz und damit dem unsterblichen Gedächtnis des Internets letztlich freiwillig zur Verfügung stellen wollen, bleibt wie bisher jedem selbst überlassen.