Die CO2-Ziele, die Harmonisierung der Politik sowie die Marktausgestaltung beleben die Debatte in der europäischen Energiewirtschaft. Experten der "Power-Gen Europe" diskutieren die strategischen Herausforderungen für die Branche. Fazit: Die E-Wirtschaft ist in einem Alltag vieler anderer Wirtschaftszweige angekommen, in dem die Marktsicherheit für langfristige Investitionen fehlt.
Vom 4. bis 6. Juni tagt einer der weltweit größten Technologiemessen, die "Power Gen Europe 2013" in Wien. Die Mitglieder des Messebeirates betrachten dabei die strategischen Herausforderungen und Hürden für die Branche. Es diskutieren Thomas Dalsgaard, Executive Vice President Dong Energy, Energie- und Maschinenberater Jacob Klimstra, Nicolas Kraus, Policy Officer bei The European Power Plant Suppliers Association (EPPSA) und Peter Ramm, COO Europa bei Advanced Power (UK) Ltd.
Der ENEL-Präsident Fulvio Conti hat kürzlich den Energiesektor als „uninvestierbar“ beschrieben: Stimmen Sie dieser Aussage zu? Und wie müssen sich Regulierung und Marktausgestaltung entwickeln, um Investitionen und Innovation zu fördern?
Nicolas Kraus: Die derzeitigen regulatorischen Signale, die von europäischen und nationalen Politikern ausgehen, erschweren es Kapitalanlegern, eine langfristige Anlagenrendite zu erkennen, weshalb der Markt stagniert. Grüne Technologien müssen vorangebracht werden, um die 20-20-20-Ziele der Europäischen Union zu erreichen. Eine langfristige Planung ist jedoch nicht möglich, da sich die vereinbarten politischen Rahmenbedingungen immer wieder ändern. Ein gutes Beispiel dafür ist das Zurücknehmen von Zertifikaten durch die Europäische Kommission mit dem Ziel, die CO2-Preise zu erhöhen.
Jacob Klimstra: Die Wachstumsvorhersagen für die europäische Energiewirtschaft sind enttäuschend. Durchschnittlich wird laut den jüngsten Zahlen von Eurelectric (dem Branchenverband der europäischen Elektrizitätswirtschaft) mit einem jährlichen Wachstum des Energiesektors um 0 bis 2 % gerechnet. Der größte Teil davon wird in den Bereich erneuerbare Energien fallen, die nicht kontinuierlich verfügbar sind und daher Reserven erforderlich machen. Trotzdem gibt es nur wenig Anreize, in solche Reserveanlagen zu investieren. Daher stimme ich vollkommen mit der Einschätzung von Fulvio Conti überein.
Thomas Dalsgaard: Derzeit besteht eine komplizierte Investitionssituation. Einerseits gibt es ein Flickwerk aus nationalen Initiativen und Subventionen, die hauptsächlich Energie aus erneuerbaren Quellen fördern. Anderseits existieren keine finanziellen Anreize für eine marktbasierte Energieerzeugung – z.B. Kombikraftwerke, Kohle/Gaskraftwerke und traditionelle Wärmekraftwerke. Mittlerweile ist das CO2-Programm kollabiert und die Preise befinden sich auf einem Niveau, auf dem sie wenige Investitionen vorantreiben.
Peter Ramm: Wenn Sie als Kapitalanleger langfristig in den Bau und Betrieb von Energieversorgungsanlagen investieren wollen, ist ein vernünftiges Maß an Rechts- und Marktsicherheit erforderlich, so dass eine Investition auch nach über 30 Jahren noch eine Rendite abwirft. Was wir brauchen, ist eine Rückkehr zur Nachfragesteigerung. Die derzeitigen Investitionen in Energie aus erneuerbaren Quellen sind größtenteils das Ergebnis der regulatorischen Rahmenbedingungen und sind entweder nicht kontinuierlich verfügbar oder nicht regelbar. Diese Anlagen ersetzen zunehmend die vorhandenen Wärmekraftwerke. Mit steigender Nachfrage gibt es Bedarf an Investitionen in zusätzliche Wärmekraftwerke oder regelbare Kraftwerke, die dann Strom erzeugen, wenn dies notwendig ist, um der Nachfrage zu entsprechen.
Welche Fortschritte sind im Verlauf der vergangenen zwölf Monate hinsichtlich der Schaffung eines offenen, vernetzten und integrierten europäischen Elektrizitätsmarkts gemacht worden? Kann dieses Ziel mit den vorhandenen Mechanismen erreicht und vom Markt geregelt werden oder ist mehr Intervention notwendig?
Ramm: Ich glaube nicht, dass viele Fortschritte gemacht worden sind, da jedes EU-Land dazu neigt, sich dem Elektrizitätsmarkt auf eine andere Art und Weise zu nähern. Es gibt eindeutige Bemühungen in Richtung einer Harmonisierung; eine endgültige Realisation wird allerdings noch einige Zeit dauern. Mittlerweile wurden schon zahlreiche Fortschritte hinsichtlich Übertragung und Vernetzung gemacht, komplexe Projekte gehen allerdings immer langsam voran. Schauen Sie sich an, wie lange es gedauert hat, bis der Bau der Verbindung zwischen Spanien und Frankreich in Angriff genommen wurde.
Dalsgaard: Man kann schon sagen, dass wir derzeit keinen EU-weiten Binnenmarkt für Strom haben. Das größte Problem ist, dass es keine Übertragungsinfrastruktur für physische Interkonnektivität gibt. Ich glaube, dass dies auch eines der größten Hindernisse zur Schaffung eines effizienteren Marktes und besserer Investitionssignale ist. Ohne diese notwendigen Verbindungen zwischen den Ländern wird der schnelle Ausbau von nicht kontinuierlich liefernden Anlagen zur Energieerzeugung auf lange Sicht in einigen Staaten nicht nachhaltig sein.
Kraus: Um eine angemessene Stromerzeugung sicherzustellen, müssen moderne Anlagen auf flexible Weise die Erzeugung aus unbeständigen Ressourcen wie Wind und Sonne ergänzen. Dies ist nötig, um sicherzustellen, dass genügend Kapazitäten zur Verfügung stehen, um die Nachfrage zu befriedigen – verbunden mit einem Beitrag zur Energieeffizienz und unter Beteiligung der Nachfrageseite. Die Mitgliedsstaaten haben vereinbart, dass im Jahr 2014 der Energiebinnenmarkt als ein Schlüsselinstrument für Wirtschaftswachstum voll funktionsfähig sein soll. Diese Vereinbarung legt auch dar, dass der Markt sein Potenzial mit Hilfe von Interventionen ausschöpft, die europaweit gut geplant und effektiv sind. Allerdings spielen auch die nationalen Strukturen, die sich über die vergangenen Jahrzehnte hinweg entwickelt haben, eine Rolle. In einem gut funktionierenden Binnenmarkt müssten Investitionen dort getätigt werden, wo sie am kostengünstigsten sind.
Klimstra: Strom und Energie sind die Antriebskräfte der Wirtschaft und müssen so billig wie möglich sein. Aber ich habe bisher noch keinen Beweis dafür gesehen, dass ein freier Markt zu einem echten Preisrückgang führt. Daher glaube ich nicht, dass ein freier Markt der richtige Mechanismus ist. Es wäre besser, dem traditionellen Modell zu folgen, wobei nationale Energieunternehmen vom Staat kontrolliert und durch langfristige Investitionen unterstützt werden, um sicherzustellen, dass die Bürger Zugang zu einer zuverlässigen und billigen Stromversorgung haben.
Welche Auswirkungen haben die 2050-Ziele für kohlenstoffarme Energieerzeugung auf die physische Vernetzung, die notwendig ist, damit der Markt funktioniert?
Dalsgaard: Es reicht nicht aus, Ziele zu setzen. Sie brauchen einen wesentlich vorausschauenderen und entscheidungsorientierteren Ansatz, um die notwendigen Investitionen in Verbindungsleitungen und die dazugehörige Infrastruktur auszulösen. Das Problem der aktuellen Situation – Zurückhaltung bei den Investitionen – liegt darin, dass der politische Schwerpunkt auf Energien aus erneuerbaren Quellen und die Einhaltung bestimmter Ziele gelegt wurde, wobei die dafür notwendige unterstützende Infrastruktur vernachlässigt worden ist. Dies zeigt sich ganz offenkundig durch den Druck, der auf dem inneren Gleichgewicht in einzelnen Ländern liegt. Die Lage wird noch ernster, wenn Strom eingespeist wird, der nicht kontinuierlich verfügbar ist.
Ramm: Das derzeitige Übertragungssystem ist so ausgelegt, dass sich an bestimmten Standorten große Kraftwerke befinden und der Strom von diesen Kraftwerken in die Ballungszentren und Industriegebiete übertragen wird. Einhergehend mit den CO2-Zielen werden neue Elektrizitätswerke vor den Küsten gebaut werden und Solaranlagen sowie kleinere Wärmekraftwerke dezentral verstreut sein. Daher besteht Bedarf, das Gleichgewicht des Übertragungssystems wiederherzustellen, um diesen Änderungen gerecht zu werden. Die Energiewirtschaft ist sich dieser Herausforderung bewusst, hat aber die notwendigen Änderungen für ein Übertragungssystem kohlenstoffarm erzeugter Energie noch nicht vorgenommen.
Klimstra: Wie bei der Erzeugung erneuerbaren Quellen bedeutet auch die Erzeugung kohlenstoffarmer Energie mehr Unbeständigkeit in Bezug auf die Versorgung, weshalb Reserven für die Stromerzeugung benötigt werden. Außerdem gibt es nicht genügend Wasserkraftressourcen. Technologien wie zum Beispiel die Wasserstoffspeicherung sind zu gefährlich, zu teuer und zu ineffizient. Atomkraft ist eine realisierbare Option, wird aber von einigen Ländern allmählich abgeschafft und der Winter in Europa ist zu dunkel, als dass wir uns auf Photovoltaik verlassen könnten. Ich denke daher, dass es sinnvoll ist, für die Tage an denen keine Sonne scheint, Sonne zu speichern und ein realistischeres CO2-Ziel von circa 80 % kohlenstofffrei erzeugter Elektrizität im Jahr 2050 anzustreben.
Kraus: Die Einspeisung von Elektrizität, die nicht kontinuierlich verfügbar ist und das in Regionen, in denen kein Verbrauch stattfindet, bedeutet, dass herkömmliche Kraftwerke die meiste Zeit über nicht mehr mit voller Last betrieben werden. Ein Betrieb mit Teillast liegt weit unter der eigentlichen Effizienz der Kraftwerke und ist letztlich unwirtschaftlich. Ob das EU-weite Energienetz zu einem Drehkreuz werden kann, hängt nicht zuletzt ab von einem vernünftigen Mix aus Energie auf Basis regenerativer Energieerzeugung und aus konventionellen Regelkraftwerken, die für Netzstabilität benötigt werden.
Was sind die wichtigsten Schritte, die für ein geschlosseneres Vorgehen bei der Entscheidungsfindung auf den nationalen Ebenen wie auch auf EU-Ebene nötig sind?
Klimstra: Heute wird die Branche von Intressenvertretern beherrscht, die glauben, alles sei eine Frage der Meinung und keine Frage wissenschaftlicher Tatsachen. Es müssen mehr Wissenschaftler und Ingenieure direkt in den Entscheidungsfindungsprozess eingebunden werden. In den USA zum Beispiel ist es üblich, Komitees einzusetzen, in denen Vertreter von Verbrauchern, Lieferanten und Herstellern sowie Akademiker sitzen. Indem die richtigen Experten ausfindig gemacht werden, wird auch die richtige Lösung gefunden – dies wurde bei der Gasqualität in den USA erreicht. Der derzeitige Streit über die Verschlechterung der Gasqualität in Europa ist ein Beispiel dafür, wie die EU-Entscheidungsfindung durch Bürokratie und Lobbyismus behindert wird.
Kraus: Historisch betrachtet, hatte die EU keine spezielle Zuständigkeit in Energiefragen. Die einzige Möglichkeit für ein geschlossenes Vorgehen bei der Entscheidungsfindung bestand indirekt durch die Umweltbefugnisse der Europäischen Kommission. Der Artikel 194 des Vertrags von Lissabon gibt der EU bei Energiefragen zwar einige gemeinsame Befugnisse mit den Mitgliedsstaaten, doch das ist nicht genug! Die Mitgliedsstaaten treffen immer noch selbständig die endgültige Entscheidung über die Art der Technologie, die sie nutzen (d. h. erneuerbare Energiequellen, Atomenergie, konventionelle Energieerzeugung), wodurch es für die EU schwierig wird, die interne Energiepolitik der Mitgliedsstaaten zu „europäisieren“.
Dalsgaard: Es muss auf EU-Ebene eine Entscheidung zur Erhöhung des CO2-Preises getroffen werden. Ich denke auch, dass Netzbetreiber und politische Entscheidungsträger enger zusammenarbeiten sollten, um die wichtigen Netzverbindungen zwischen den Ländern voranzubringen und dabei vorausschauender vorzugehen. Ein größeres physisches Vernetzungssystem würde möglicherweise auch dafür sorgen, dass der politische Schwerpunkt auf eine gegenseitige Anpassung der fragmentierten Subventionsregelungen und -systeme der europäischen Staaten gelegt wird.
Ramm: Letztlich besteht Bedarf an einer Harmonisierung über alle Mitgliedstaaten hinweg, sodass es nur noch ein Regelwerk für Energiesysteme gibt. Wenn man sich beispielsweise die Subventionen für Energie aus erneuerbaren Quellen ansieht, fällt auf, dass in einigen Ländern Anlagen gebaut werden, in anderen nicht. Wir müssen also etwas gegen die nationalen Ungleichheiten unternehmen. Ich denke, die derzeitigen Mechanismen sind ungeeignet und die Subventionen sollten in allen Ländern gleich sein. Die Kapitalanleger würden dann die Kraftwerke an den Orten bauen, wo es wirtschaftlich am sinnvollsten ist.
Welche Herausforderungen müssen noch in Angriff genommen werden – besonders im Hinblick auf außereuropäische Faktoren wie etwa die „US-Energiepreisdifferenz“?
Kraus: Es ist kein Geheimnis, dass die EU nicht gegen globale Aktivitäten immun ist. Aber die wesentliche Herausforderung besteht darin, eine Einigung darüber zu erzielen, inwieweit die EU die Belastungen, die mit dem globalen Klimawandel einhergehen, allein tragen kann, ohne dass es ein bindendes globales Abkommen über die CO2-Reduktion gibt. Die Frage ist, ob Europa mit seinen steigenden Energiepreisen konkurrenzfähig bleiben kann, während die Preise in anderen Weltregionen gesenkt werden – besonders, wenn die „grüne Wirtschaft“ sich nicht so entwickelt, wie man gehofft hatte.
Ramm: Die Reduzierung des CO2-Ausstoßes in dem Maße, wie es im 2050-Ziel der EU vorgeschlagen wird, bedeutet eine erhebliche Kostensteigerung. Diese Kosten werden an die Verbraucher weitergegeben. Dadurch wird Europa künftig weniger konkurrenzfähig sein. Und es wächst das Risiko der Abwanderung von Industrieunternehmen in Staaten wie zum Beispiel die USA, wo es derzeit sehr preiswertes Erdgas gibt.
Klimstra: Die Industrie leidet, wenn die Strompreise zu hoch sind. Die Globalisierung erfordert, dass multinationale Unternehmen sich dort ansiedeln, wo sie die am besten ausgebildeten Mitarbeiter finden und die Kosten für Arbeitskräfte und Energie am konkurrenzfähigsten sind. Wir müssen uns mehr darauf konzentrieren, die Maschine am Laufen zu halten, die Europas Wohlstand erzeugt – d. h. die Energiewirtschaft. Dies wiederum bedeutet sicherzustellen, dass wir die nächste Generation von Arbeitskräften mit den Fähigkeiten und technischen Kompetenzen ausstatten, die sie brauchen, damit Europa in einer globalisierten Welt konkurrenzfähig bleibt.
Dalsgaard: Europa hat sich zum Ziel gesetzt, seinen Energiemarkt durch eine klimafreundlichere Gesetzgebung und eine höhere Nutzung von erneuerbaren Energien zu transformieren. Dabei wurden allerdings nicht die Schritte unternommen, die nötig gewesen wären, um dies auf kostengünstige Art und Weise zu realisieren. Dafür brauchen wir einen angemessenen CO2-Preis und einen integrierten Binnenmarkt, durch gewollte Interkonnektivität und Harmonisierung von Förderprogrammen.
Der Inhalt dieses Podiumsgespräch wurde von Power-Gen Europe zu Verfügung gestellt.