Siemens-Generaldirektor Wolfgang Hesoun erwartet für heuer Maßnahmen, damit die öffentliche Hand wieder auf einen Investitionspfad zurückfindet. Auch Siemens will mit anpacken und setzt auf große Zukunftsthemen.
(+) plus: Herr Hesoun, wie ist das Geschäftsjahr 2012 für Siemens gelaufen? Wie zufrieden sind Sie damit?
Wolfgang Hesoun: Ich bin mit unserem Ergebnis durchaus zufrieden, vor allem wenn man die schwierigen wirtschaftlichen Begleitumstände berücksichtigt. In dieser Situation haben sich die zu unserem Geschäftsverantwortungsbereich zählenden Länder Mittel- und Südosteuropas als interessante Märkte mit fortlaufendem realen Investitionspotenzial erwiesen. In CEE war, im Vergleich zu anderen Regionen Europas, die in der Krise doch massiv eingebrochen sind, ein höheres Potenzial für Siemens-Produkte und -Lösungen, speziell im Infrastruktur-, Industrie- und Energiebereich, festzustellen. Wir versuchen dort weiterhin unsere Produkte, hauptsächlich in den Gebieten öffentlicher Verkehr und Energie – mit Schwerpunkt im Übertragungsbereich –, am Markt entsprechend zu platzieren. Erfolgsbeispiele für Siemens Österreich sind etwa der Auftrag für die sieben Railjets für die Tschechische Bahn oder das Gleichstromübertragungsprojekt zwischen Georgien und der Türkei, das letztes Jahr fertiggestellt wurde. Auch sonst haben wir mit den Aufträgen für die neue Straßenbahngeneration Avenio für Den Haag und Katar, die in Wien-Simmering produziert und mit Fahrgestellen aus unserem Werk in Graz ausgestattet werden, oder dem Auftrag für unser Mautkompetenzzentrum aus Frankreich schöne Geschäftserfolge im Geschäftsjahr 2012 vorzuweisen.
(+) plus: Wie sieht das Investitionsverhalten bei den Kunden von Siemens-Sparten wie Infrastructure & Cities, Energy sowie Industry aus? Wie ist die Stimmung zur Konjunkturentwicklung in Europa generell?
Hesoun: Das geringe Wirtschaftswachstum und die europäische Staatsschuldenkrise führen zu einer Verunsicherung der wirtschaftlichen Akteure, was eine Zurückhaltung bei den Investitionstätigkeiten bewirkt, sodass Neu-, Ersatz- und Erweiterungsinvestitionen oftmals aufgeschoben werden. Das ist die Situation. Und aufgrund unseres breiten Komplettlösungsangebots im Infrastrukturbereich für Ballungsräume ist die Investitionstätigkeit der öffentlichen Hand natürlich von besonderem Interesse für uns. In dieser Hinsicht wird in diesem Jahr entscheidend sein, wie die europäischen Finanzprobleme gelöst werden können und wie schnell der öffentliche Bereich auf einen Investitionspfad zurückfindet. Für CEE erwarte ich eine einigermaßen flache Entwicklung. Die große Herausforderung wird sein, Möglichkeiten zu finden, um den real gegebenen Investitionsbedarf mit praktikablen und finanzierbaren Lösungen in Einklang zu bringen. Wir konzentrieren uns daher neben der Befriedigung von Markt- und Kundenerfordernissen durch ganzheitliche innovative Lösungen und maßgeschneiderte Komplettpakete, die die Produktivität erhöhen und zu profitablem und umweltfreundlichem Wachstum führen, bewusst auch auf unser umfassendes Finanzierungs-Know-how, auch im Bereich internationaler oder europäischer Finanzhilfen, das wir unseren Kunden anbieten.
(+) plus: Was sind aus Ihrer Sicht die Stärken, was die Schwächen des Wirtschaftsstandortes Österreich und welche Herausforderungen sehen Sie?
Hesoun: Zu den Stärken zählt sicherlich die große Innovationskraft, die auch durch eine entsprechende öffentliche Förderkulisse begünstigt wird und die auch große Exportchancen mit sich bringt. Wir sind international gesehen als Standort eher teurer und ein Ansatzpunkt, das auszugleichen, ist, innovativ zu sein – dabei hilft uns auch die Kleinheit des Landes, weil wir zum Beispiel intelligente Technologien, etwa im Bereich intelligente Stromnetze, leichter und früher installieren und testen können als größere Länder. Zur Förderung von Innovation braucht es ein entsprechendes Augenmerk auf Ausbildung sowie Forschung und Entwicklung. Das große Zukunftsfeld ist für mich der Bereich der umweltfreundlichen Technologien. Auf diesem Gebiet können wir Wertschöpfung im Land generieren, den Forschungs- und Wirtschaftsstandort stärken und darüber hinaus im Ausland die Nachfrage nach klimafreundlichen Zukunftstechnologien erhöhen.
Verbesserungspotenzial am Wirtschaftsstandort sehe ich in der Effizienzsteigerung der Verwaltung. Die großen Herausforderungen liegen für mich in der Aufrechterhaltung und Forcierung der verarbeitenden Industrie und der Produktion als Quelle von Wertschöpfung und Beschäftigung sowie als Standortqualitätsmerkmal für internationale Investoren und in der Umgestaltung des Energiesystems hin zu mehr Effizienz und weniger Emissionen bei gleichzeitiger Versorgungssicherheit und Leistbarkeit. Stichwort Leistbarkeit: Die Energiekosten sind in Europa mittlerweile nach den Arbeitskosten der größte Kostenfaktor in Industrieunternehmen. Die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie ist also in zunehmendem Maße von Energiekosten abhängig.
(+) plus: Um einen der vielen Schwerpunkte, die Sie begleiten, hervorzukehren – die moderne, vernetzte Stadt der Zukunft: Wie sieht diese Vision bei Siemens aus? Welche Schritte dazu werden in naher Zukunft in den österreichischen Städten zu spüren sein?
Hesoun: Prognosen zufolge wird in den nächsten Jahrzehnten weit mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in urbanen Ballungsräumen wohnen. Städte stehen daher vor großen Herausforderungen und wir haben ein Produkt- und Lösungsangebot, von der Energieverteilung über Verkehr bis hin zu Gesundheitsleistungen, das Städten dabei helfen kann, möglichst reibungslos und mit geringstmöglichem Ressourcenverbrauch zu funktionieren. Siemens Österreich hilft ja bereits jetzt österreichischen Städten bei der Bewältigung von Herausforderungen der modernen Zeit, sei es durch weniger Emissionen für Graz aufgrund des neuen, hocheffizienten Gas- und Dampfturbinenkraftwerks in Mellach oder einen flüssigeren Verkehrsfluss in Wien durch den Verkehrsrechner.
In einer vernetzten und systematischen Form engagieren wir uns ab diesem Jahr konkret im Stadtentwicklungsgebiet Aspern in Wien. Eine gemeinsame Forschungsgesellschaft zwischen der Stadt Wien und Siemens wird in der Seestadt ein sogenanntes »Smart Living Lab«, also eine Art lebendes Labor installieren, in dem Zukunftstechnologien in einem realen Umfeld erforscht werden können. Das Stadtentwicklungsgebiet bietet die Chance, erstmals in großem Maßstab intelligente Energieversorgungsinfrastrukturen, Gebäudetechnologien und Mobilitätskonzepte – Stichwort Elektromobilität – im Rahmen einer interdisziplinären Forschungskooperation zum Einsatz zu bringen und diese als internationales Benchmark-Projekt zu positionieren.