Die Stadt Wien will bis 2040 klimaneutral werden. Der Smart-City-Plan bringt Aufträge für Unternehmen, aber auch einiges an Herausforderungen.
Seit zehn Jahren erforschen und testen die Stadt Wien und die Aspern Smart City Research GmbH (ASCR) in der Seestadt die neue Energiezukunft: CO2-freies Heizen, CO2-freie Mobilität und CO2-freie Produktion. Jetzt startet die heiße Phase der großräumigeren Umsetzung – vor allem mit Einbeziehung von Unternehmen, die sich der smarten Energiezukunft stellen wollen. „Wir suchen Betriebe, die mit uns gemeinsam diese Herausforderungen angehen“, sagt Peter Weinelt, Generaldirektor der Wiener Stadtwerke GmbH.
Denn noch sind bei weitem nicht alle Fragen gelöst. Die erneuerbare Energiewelt stellt vor allem die Wiener Netze noch vor beträchtliche Unsicherheiten. Wie sind die neuen Lastflüsse, die zum Beispiel von einem Großbetrieb, der auf Photovoltaik umstellt, zu bewerkstelligen? Welche Investitionen kommen auf das Niederspannungsnetz zu? Welche Digitalisierungsschritte müssen gesetzt werden?
Flexibilität als Zauberwort
Die große Neuerung für Betriebe in der klimaneutralen Welt heißt Flexibilität. Also: die Produktion so gestalten, dass die erneuerbaren Energien optimal genutzt werden und das Stromnetz wenig belastet wird. Oder: den elektrisch betriebenen Fuhrpark dann frisch „betanken“, wenn Stromüberschüsse vorhanden sind. Denn Stromspeicher stellen nach wie vor den großen Engpass der Energiewende dar. Mit „möglichst flexiblen Unternehmen“, die auch aktiv mitarbeiten, will die Stadt Wien das Stromnetz auf die Probe stellen. Nur so kann klar werden, wie viele Nieder- und Mittelspannungsnetze verstärkt werden müssen, wie viele Trafo-Stationen zusätzlich nötig sind, wie viel Software zur Steuerung der neuen Stromflüsse von Betrieben ins Netz und vom Netz zu den Betrieben gebraucht wird, wie viele zusätzliche Sensoren eingebaut werden müssen.
Allein für die Beforschung der Netzinfrastruktur in der Seestadt haben die Wiener Netze 24 Transformatoren, fünf Netzspeichersysteme und zwölf Netzstationen errichtet. „Denn die Versorgungssicherheit aller Verbraucher ist wesentlich. Dazu wird nur mit Digitalisierung der Netze, also Smart Grids, möglich sein“, ist Patricia Neumann, CEO von Siemens Österreich, überzeugt. Effizienz im Einsatz der Energien, Schonung von Ressourcen und Digitalisierung sind für Neumann die zentralen Themen der Energiewende. Das alles sei aber nur zu schaffen, wenn alle Unternehmen in diesem Bereich kooperierten. „Die Komplexität ist so hoch, dass das nur in Partnerschaften zu lösen ist“, betont die Siemens-Österreich-Chefin.
Vorteile für die Betriebe
Wiener-Stadtwerke-Generaldirektor Weinelt sieht den Weg zur Smart City Wien als Riesenchance für die Wiener Wirtschaft. Da würden Hunderte Millionen an Investitionen gebraucht. Beispiel Raumwärme: Bis 2040 wolle Wien „raus aus Erdgas“. Für die Raumwärme sollen zum einen die Fernheizkraftwerke sorgen, die dafür erneuerbare Energien und Müllverbrennung nutzen. Neue Verteiler in den Gebäuden, Leitungen, Installationen – ein Schub an Aufträgen für die Unternehmen. Zum anderen sollen Geothermie und Wärmepumpen die Konsumenten mit Wärme versorgen. Viel mehr Haushalte als derzeit würden Strom über Photovoltaikanlagen selbst erzeugen. „27.000 Einspeiser ins Wiener Stromnetz gibt es derzeit schon“, betont Weinelt. Die Zahl werde in den nächsten Jahren stark zunehmen. Neben „grüner“ Raumwärme und grünem Strom wird der Ausbau der E-Mobilität zum großen Thema. Neue Ladestationen, Verstärkung von Stromleitungen, um den zusätzlichen Anforderungen der Kunden gerecht zu werden, müssen errichtet werden – alles Impulse für Gewerbe und Bauwirtschaft. „Jeder Euro, den die Stadt für die Energiewende investiert, bringt vier Euro an Folgeinvestitionen für die Wirtschaft“, lautet die Rechnung der Stadt.
Die künftige Klimaneutralität bringe aber auch Vorteile für die Unternehmen selbst. „Betriebe, die auf erneuerbare Energien, E-Mobilität und saubere Produktion umstellen, entsprechen den Vorgaben des neuen EU-Lieferkettengesetzes“, hebt Weinelt hervor. Nachhaltige Unternehmen hätten Wettbewerbsvorteile.
Wasserstoff statt Erdgas
Unternehmen, die Gas in ihrer Produktion einsetzen, sollen dieses künftig durch Wasserstoff ersetzen. Wien errichtet dazu Großelektrolysen, in denen mittels grünem Strom H2O in H2 und O getrennt werden soll. Auch der Bereich Wasserstoff werde eine Auftragsflut auslösen, ist der Wiener-Stadtwerke-Chef überzeugt. Gebraucht würden neben der Elektrolyse Kompressoren, um den Wasserstoff in Tanks zu füllen. Oder neue Beschichtungen für die Leitungen, da H2 schnell durch die derzeitigen Gasleitungen zu rasch diffundieren würde. Auch neue Armaturen werden nötig sein. Wasserstoff wird zudem als Stromspeichermöglichkeit erprobt.
Smarte Stadt mit smarten Gebäuden
Zehn Jahre nach Start der Aspern Smart City Research in der Seestadt zieht Co-Geschäftsführer Matthias Gressel Bilanz: „In einer Stadt wie Wien wird der Fokus auf die Umrüstung der Gebäude auf erneuerbare Energien, Digitalisierung und Smart Grids gelegt werden müssen“. Das zeigen auch die fünf Schlüsselergebnisse aus der Forschung und den Testbetrieben der ASCR. Erstens werden aus den bisherigen Energiekonsumenten „Prosumer“. Sie beziehen nicht nur Strom aus dem Netz, sondern sie liefern auch Strom ins Netz. Um die Energieeffizienz in den Gebäuden zu verbessern, hat Siemens mit ASCR das Softwaresystem b.eos entwickelt. Allein damit könnten bis zu 20 Prozent Energie eingespart werden.
Die zweite Erkenntnis betrifft die Netze: Schutzkonzepte für das Stromnetz werden nötig sein. Dazu hat die ASCR ein Smart Grid Lab geschaffen, in dem Störungen simuliert werden, um sie rascher zu erkennen und zu beheben.
Spannend ist auch das dritte Forschungsergebnis: Für das Kraftwerk der Wien Energie in Trumau, das 17.400 Haushalte mit Wind- und Sonnenstrom versorgt, wurde ein Hybrid-Regler entworfen. Er steuert die PV- und Windkraftanlagen und optimiert die Nutzung des Stromnetzes.
Die vierte Erkenntnis betrifft die Digitalisierung. Dazu wurde für ein Bürogebäude der Wirtschaftsagentur Wien in der Seestadt ein digitaler Zwilling kreiert. Mit den gewonnenen Daten aus dem laufenden Betrieb wird die Smart Maintenance, die vorausschauende Wartung, verbessert. Die Erkenntnisse helfen, Wartungsthemen bei der Errichtung von Gebäuden bereits in der Planungsphase zu berücksichtigen.
Als fünfte Erkenntnis nennt Gressel die zusätzliche Attraktivität, die smarte Städte für Forscher und Unternehmen haben. „Das erhöht die Standortqualität“, sagt der Co-Geschäftsführer der ASCR.
Bild: Daniel Hawelka
Hintergrund: Die Aspern Smart City Research GmbH
Im Jahr 2013 gründeten Siemens Österreich, die Wiener Netze, die Wirtschaftsagentur Wien, Wiener Stadtwerke und Wien 3420 die Aspern Smart City Research GmbH (ASCR). Seither untersuchen die Forscher der ASCR die CO2-freie Energiezukunft von Städten. Im Fokus stehen dabei Digitalisierung, Stromnetze und Gebäude. Ziel ist es, Prototypen zu entwickeln, die eine saubere Energieversorgung erlauben, ohne die Versorgungssicherheit zu beeinträchtigen.
Alles smart
„Smart“ beschreibt das Vorhaben, das das Klima schützen und die fossilen Energieträger verdrängen soll. Smart werden die Stromnetze, Smart Grids heißen sie dann. Diese „intelligenten Netze“ können auf Basis zeitnahen und intensiven Datenaustausches zwischen dezentralen Stromerzeugern (z. B. PV-Anlagen auf Hausdächern), Kraftwerken, Stromspeichern und Verbrauchern die Stromverteilung optimal steuern. Das erhöht die Effizienz im Stromnetz, der Leitungsneubau kann minimiert werden.
„Smart“ werden auch die Gebäude. Sie produzieren Energie, speichern sie und tauschen mit anderen Gebäuden Energie aus. Das alles funktioniert mittels Steuerung über Software, die erkennt, wer wann wie viel Energie verbraucht und diese möglichst lokal effizient verteilt.
Damit Smart Grid, Smart Building und natürlich die Verbraucher gut zusammenspielen, sind smarte Informationstechnologien nötig. Die richtigen Daten müssen zur richtigen Zeit am richtigen Ort verfügbar sein. Das alles funktioniert nur dann, wenn sich auch die User smart verhalten. Sprich: Sie müssen die Optimierungspotenziale bei CO2-Einsparung und Energieeffizienz auch tatsächlich nutzen wollen. Damit sich die Forscher der ASCR ein genaues Bild über das Energieverbrauchsverhalten der Konsumenten machen können, wurden Daten über deren Gewohnheiten erhoben. Zum Beispiel: das Ladeverhalten von E-Auto-Nutzern. Damit kann ein intelligentes Lademanagement entwickelt werden. Untersucht wurde auch die Beleuchtung in Schulen. Wie soll diese gestaltet und wann eingeschaltet werden, damit sich Schülerinnen und Schüler wohlfühlen. Ebenso wurden Arbeitsumgebungen, etwa Büros, in Bezug auf Energiethemen analysiert und mit den Betroffenen diskutiert.
Millionen von Daten
Smart Grids können mit Hilfe von Sensoren die Energieflüsse steuern, die Netzbetreiber können aus den Daten, die die Sensoren liefern, Prognosen über den Energieeinsatz ableiten. Im Niederspannungsnetz ist dies allerdings noch kaum möglich. Hier sind die Netzbetreiber noch „im Blindflug“ unterwegs. In der Seestadt hat die ASCR mittels einer großen Menge von Sensoren in Gebäuden für die tägliche Praxis einen Überblick über den Zustand der Netze. In der zweiten Forschungsphase 2018/19–2024 wurden täglich bis zu zwei Millionen Datensätze erhoben. Mit Hilfe von Analytics-Methoden und Künstlicher Intelligenz wurden die Daten analysiert und digitale Modelle der Realität erstellt. Auf dieser Basis können Energiekonzepte verbessert werden. Die Daten könnten auch genutzt werden, um regulative Vorgaben für die Energiewende zu erstellen, damit der Weg zur CO2-Neutralität beschleunigt wird, heißt es im Forschungskonzept der ASCR.