Laut der E-Wirtschaft ist der Beitrag der Strompreise zur Inflation kaum mehr nennenswert. Auch wehrt sich die Branche gegen Behauptungen, Preiserhöhungen im Großhandel rascher an die Endkunden weiterzugeben als Senkungen.
Text: Klaus Fischer
Nicht zuletzt hinsichtlich der künftigen Preisbildung auf den Großhandelsmärkten für Strom könnten die kommenden Monate spannend werden. Wie der Präsident des Elektrizitätswirtschaftsverbands Oesterreichs Energie, Verbund-Generaldirektor Michael Strugl, jüngst erläuterte, ist die EU-Kommission mit dem Parlament und dem Rat dabei, das neue Strommarktdesign zu finalisieren. Geplant ist, dieses noch vor der EU-Parlamentswahl im kommenden Frühjahr zu beschließen – aller Voraussicht nach im ersten Quartal 2024. Auszugehen ist davon, dass die in den vergangenen Monaten immer wieder heftig kritisierte Merit Order als grundlegender Preisbildungsmechanismus erhalten bleibt.
Umfangreiche Untersuchungen schierer Legionen von Fachleuten hätten gezeigt, dass es schlicht und einfach keine bessere Alternative gibt. Vorgesehen ist laut Strugl aber eine Reihe flankierender Maßnahmen, um die Kunden gegen allzu dramatische Preisausschläge im Großhandel besser abzusichern. Dazu gehört etwa die stärkere Gewichtung langfristiger Lieferverträge (Power Purchase Agreements, PPAs). Für außerordentliche Krisensituationen sind nach derzeitigem Stand auch Marktinterventionen seitens der Politik geplant.
Strugl ergänzte, während der Krise habe die E-Wirtschaft die Frage gestellt, ob die seit Beginn der Liberalisierung bestens bewährte Merit Order in der geltenden Form für derartige Ausnahmesituationen tauglich sei. Als Möglichkeit, extremen Preisentwicklungen entgegenzuwirken, schlug sie eine zeitweilige Entkopplung des Strompreises vom Gaspreis vor: »Damit wären die hohen Preise nicht entstanden, und das hätte inflationsdämpfend gewirkt. Leider ist die Politik unserem Modell nicht nahegetreten, sondern hat statt dessen Gewinnabschöpfungen eingeführt.« Die gesamte Strombranche sei gleichsam »an den Pranger gestellt« worden, bedauerte Strugl. Mittlerweile habe sich die Lage stabilisiert. Weiterhin aber gebe es Diskussionen über den Beitrag der Strompreise zur Inflation: »Tatsächlich liegt dieser Beitrag mittlerweile bei der zweiten Kommastelle hinter der Null.«
Die E-Wirtschaft sehe sich daher zur Verteidigung gezwungen. Dem habe eine kürzlich veröffentlichte Studie des Unternehmensberaters und Energiemarktspezialisten Florian Haslauer gedient, die zeigte, dass die Branche die Endkundenpreise rasch wieder senkte, als die Großhandelspreise nachgaben. Entschieden verwahrte sich Strugl einmal mehr gegen die Behauptung, die Stromversorger gäben Preiserhöhungen im Großhandel rascher an die Endkunden weiter als Preisreduktionen: »Das stimmt einfach nicht. Und zumindest für mein Unternehmen kann ich das beweisen.«
Agieren ohne Rechtssicherheit
Bei allfälligen Preisanpassungen sind die Versorger laut Strugl mit der Herausforderung konfrontiert, die diesbezüglichen Schreiben an die Kunden juristisch korrekt zu formulieren: »Es gibt einfach keine Rechtsgrundlage, die vor Gericht zuverlässig hält.« Und das würde unter anderem von Rechtsanwälten mit Prozessfinanzierern im Hintergrund weidlich ausgenutzt. Daher ersuche die Branche den Gesetzgeber um die Schaffung einer sicheren Rechtsgrundlage – bis dato leider ohne Erfolg. Laut Strugl ist das eine »österreichische Besonderheit«. In anderen Ländern bestünden derartige Probleme nicht.
Die Vielzahl an laufenden Gerichtsverfahren – laut der Generalsekretärin von Oesterreichs Energie, Barbara Schmidt, sind es über 50 – habe bisher keine Rechtssicherheit gebracht, bedauerte Strugl. Fast jeder Richter urteile anders. Immerhin zeichne sich ab, dass an Großhandelsindizes gebundene Preisanpassungen nicht mehr möglich sind. Das aber bedeute: »Es wird möglicherweise zeitlich begrenzte Verträge geben. Wenn diese auslaufen, muss der Versorger mit den Kunden neue Verträge abschließen. Das ist komplizierter, aber offenbar geht es nicht anders.« Der Gesetzgeber werde sich entscheiden müssen.
»Perfekter Sturm«
Haslauer hatte in seiner Studie festgestellt, dass die Energiewirtschaft mit ihren Kunden in den Jahren 2021 und 2022 einen »perfekten Sturm« abwettern musste. Nach dem Abflauen der Coronapandemie zog die Nachfrage – keineswegs nur elektrischer – Energie massiv an. Hinzu kamen verringerte Gaslieferungen aus Russland im Umfeld des Kriegs in der Ukraine. Darüber hinaus war rund die Hälfte der französischen Kernkraftwerksflotte im Herbst 2022 aufgrund technischer Probleme zeitweilig außer Betrieb. Damit nicht genug, beeinträchtige das geringe Wasserdargebot im »Dürrejahr« 2022 die Stromerzeugung mittels Laufwasserkraftwerken.
»Diese Gemengelage führte im Stromgroßhandel in ganz Europa zu beispiellosen Preisspitzen. Preise von über 600 Euro pro Megawattstunde (MWh) waren dabei keine Seltenheit, das ist zehnmal so viel wie vor der Krise«, konstatiert Haslauer. Zeitverzögert wirkte sich das auch auf die Endkunden mit erheblichen Preisanstiegen aus. Doch diese bewegten sich Haslauer zufolge »im europäischen Vergleich im erwartbaren Bereich und lagen teilweise deutlich unter denen vergleichbarer Nachbarländer wie Deutschland, Italien oder Tschechien«.
Zu beachten ist dabei: Für ihre Bestandskunden kaufen die Versorger die benötigen Strommengen üblicherweise mit größeren Vorlaufzeiten ein als für Neukunden. Daher waren bei dieser Kundengruppe während der Krise geringere und langsamere Preiserhöhungen zu verzeichnen als bei Neukunden. Alternative Versorger, die Strom praktisch ausschließlich kurzfristig beschaffen, waren von den Entwicklungen im Großhandel stärker betroffen als die etablierten Unternehmen. Im Sinne ihres eigenen Geschäftserfolgs durchaus richtig, stellten sie daher kaum noch Angebote, manche von ihnen zogen sich vollständig vom Markt zurück. Die davon betroffenen über 100.000 Haushaltskunden mussten von der etablierten Energiewirtschaft »aufgefangen« werden.
Haslauer erläuterte, für alternative Anbieter mit kurzfristig orientierter Beschaffungsstrategie rechne es sich nur dann, Endkunden Angebote zu legen, wenn die Preise tendenziell sinken. In diesem Fall sind die vorab mit den Kunden vereinbarten Preise höher als jene, zu denen der Anbieter den Strom auf den Großhandelsmärkten beschafft. Steigen die Preise dagegen – zumal derart extrem wie 2022 –, funktioniert dieses Geschäftsmodell nicht. So gesehen, könne der Wettbewerb auf dem Strommarkt als »Schönwetterthema« betrachtet werden, meint Haslauer.
Großhandel als Erklärung
Wie ein Energieunternehmen die Großhandelspreise an die Endkunden weitergibt, hängt laut Haslauer von seiner Beschaffungsstrategie sowie von seinem Risikomanagement ab. Auch Versorger, die selbst Strom erzeugen, sind gezwungen, auf den Großhandelsmärkten zu agieren, um sich gegen Mengen- und Preisrisiken abzusichern. Das ergibt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, dass ihre aktuelle Stromerzeugung nicht zu jedem Zeitpunkt dem Bedarf der Kunden entspricht. Somit ist es notwendig, Abweichungen auszugleichen.
Insgesamt ist laut Haslauer klar: »Die Endkundenpreise sind im Wesentlichen durch die Preisentwicklungen im Großhandel mit Energie erklärbar.« Seit etwa Anfang 2023 habe sich die Lage wieder einigermaßen beruhigt. Spitzen, wie sie im berühmt-berüchtigten August 2022 mit 1.000 Euro pro MWh auftraten, wurden seither nicht mehr verzeichnet. Dennoch sind die Preise weiterhin etwa doppelt so hoch wie vor der Coronapandemie. Und ein Rückgang auf das Vorkrisenniveau ist laut Haslauer zumindest bis auf Weiteres nicht absehbar.
Auch Haslauer hält die Merit Order als Preisbildungsmechanismus im Großhandel für letztlich alternativlos. Ohnehin werde um diesen Begriff mutmaßlich zu viel Aufhebens gemacht: In der Konsequenz bedeute die Merit Order nichts anderes als das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage – das grundlegende Konzept eines jeden Marktes.
Potenzial zum Tiefgehen
Laut Felix Diwok, dem Gründer und Geschäftsführer der auf Energiemärkte und Energielieferverträge insbesondere für Großkunden spezialisierten Inercomp, ist nicht grundsätzlich auszuschließen, dass die Großhandelspreise für Strom mittel- bis längerfristig wieder das Vorkrisenniveau erreichen. »Der Strompreis hängt derzeit weitgehend vom Gaspreis und vom CO2-Preis ab. Und der Gaspreis hat durchaus das Potenzial, tiefer zu gehen«, stellt Diwok im Gespräch mit dem Energie Report fest. Der CO2-Preis wiederum verliere mit dem laufenden massiven Ausbau der erneuerbaren Energien in der Europäischen Union tendenziell an Bedeutung.
Was die Endkunden betrifft, ist nach dem Scheitern der Pläne des deutschen Wirtschaftsministers Robert Habeck, einen Industriestrompreis einzuführen, laut Diwok auch in Österreich nicht mit einer solchen Maßnahme zu rechnen. Es sei »immer schwierig, einen Industriepreis in einem einzelnen Land zu etablieren«. Denn das bringe unweigerlich Wettbewerbsverzerrungen mit sich. Die Herausforderung bestehe darin, mit den hohen Stromkosten für Industrie und Gewerbe zurande zu kommen. Und dabei gewinne für Industrie und Gewerbe die kurzfristige Optimierung des Strombezugs immer mehr an Bedeutung. Auch die Eigenerzeugung sei ein Thema, »wenn die Bedingungen am jeweiligen Standort stimmen«.
Die Ansicht, dass der Wettbewerb im Endkundengeschäft mit elektrischer Energie ein »Schönwetterthema« ist, teilt Diwok übrigens nicht. Er rät zu einer »differenzierten Betrachtung. Es gibt immer Chancen für Lieferanten, egal, ob die Preise im Großhandel tendenziell nach unten oder nach oben gehen«. Und die Antwort auf die Frage, warum ein Versorger auf einem bestimmten Markt tätig ist, hänge nicht nur von den lukrierbaren Preisen ab. Denn das könne im Rahmen der jeweiligen Unternehmensstrategie auch völlig andere Gründe haben.
Markt bleibt volatil
Von einem »weiterhin volatilen Markt« geht Roland Kuras aus, der Gründer und Geschäftsführer der Power Solution Energieberatung. Ihm zufolge kann es durch »statische Risikofaktoren« wie etwa Einschränkungen von Gaslieferungen, die verringerte Verfügbarkeit von Kraftwerkskapazitäten oder Extremwetterlagen »schnell zu Preissprüngen kommen. Ein Rückgang auf das Niveau von 2021/2022 ist derzeit nicht zu erkennen«. Im vergangenen Jahr sowie heuer seien die Preise für Spotmarktprodukte häufig niedriger gewesen als jene für Futures. Längerfristig betrachtet, habe sich in der Vergangenheit jedoch zumeist ein genau umgekehrtes Bild gezeigt. Für größere Unternehmen mit mehreren Gigawattstunden Strombedarf pro Jahr empfehle sich »ein vernünftiger«, also für deren jeweilige Bedürfnisse abgestimmter Mix aus Long- und Shortpositionen.
Auch die Eigenerzeugung elektrischer Energie könne für manche Unternehmen und Betriebe »eine sehr wichtige Rolle« spielen. Zunehmend Bedeutung erlangen laut Kuras ferner PPA-Modelle zur langfristigen Preisabsicherung. Und die seit Anfang Oktober mögliche Etablierung von Bürgerenergiegemeinschaft biete Unternehmen die Möglichkeit, ihren Stromverbrauch »an unterschiedlichen Standorten in Österreich optimiert zusammenfassen«.Was das Thema »Industriestrompreis« betrifft, stellt Kuras klar: »Es ist sicherlich wichtig, Industrie und Großgewerbe zu entlasten, um so den Standort Österreich als Produktionsstandort zu sichern. Dabei dürfen aber die Mechanismen des freien Energiemarktes nicht eingeschränkt werden.«