Montag, November 25, 2024
»Im Stromnetz gibt es noch große Reserven«
Sabine Erlinghagen, CEO Grid Software bei Siemens. (Credit: Siemens)

Sabine Erlinghagen, CEO Grid Software bei Siemens, über die Energiewende, Digitalisierung des Stromnetzes, versteckte Kapazitäten und eine neue Lösung für effiziente Netzinfrastruktur.

Zur Person

Sabine Erlinghagen ist seit Jänner 2022 bei Siemens Smart Infrastructure für das Global Grid Software Business verantwortlich. Sie ist anerkannte Expertin in der Energiewirtschaft, hält einen Studienabschluss in Business Administration, ein Diplom der Grande Ecole der ESCP Europe. Darüber hinaus hat sie ein Doktorat an der ETG Zürich abgeschlossen. Ihr Schwerpunkt: Das Internet der Dinge und Software-as-a-Service.


Wer sind die Kunden, die die neue Software verwenden sollen?

Sabine Erlinghagen: LV Insights X richtet sich an Netzbetreiber, vor allem an die Verteilnetzbetreiber. Sie sind aufgrund der Energiewende besonderen Herausforderungen ausgesetzt. Alle neuen dezentralen Energieressourcen, also Wärmepumpen, Photovoltaik oder Ladesäulen der E-Autos, werden an die Verteilnetze angeschlossen. Dieser Niederspannungsbereich wird bisher nicht aktiv gemanagt, wir haben gar keine Transparenz. 

Aber hat sich die Transparenz nicht mit den Smart Metern verbessert?

Erlinghagen: Damit wird vor allem der Energieverbrauch von Haushalten transparent und genauer abgerechnet. Die Daten von den Smart Metern werden bisher aber noch nicht für den Netzbetrieb genutzt. Es geht also darum, in der Aggregation der Daten sagen zu können, wie sehr gewisse Netzteile ausgelastet sind oder ob man dort ein Problem hat. Oder: Wie viele Photovoltaikanlagen kann ich noch anschließen?

Netzbetreiber können doch auch jetzt schon sagen, ob sie weitere Photovoltaikanlagen anschließen können. Was bringen also die zusätzlichen Daten?

Erlinghagen: Sie hatten meistens nur einzelne Messwerte aus den Zählern, haben sie aber nicht genutzt, weil es wahnsinnig schwierig ist, diese Daten zu interpretieren. LV Insights X macht genau das: Es interpretiert diese Daten aufgrund eines digitalen, elektrischen Modells. Das ist neu. Bisher wussten die Netzbetreiber, wo die Zähler sind, wie hoch der Verbrauch ist, aber die Daten wurden nicht mit der Topologie des Netzes zusammengebracht.

Anschlüsse von neuen Photovoltaikanlagen wurden in manchen Fällen in Österreich untersagt. Auf welcher Basis geschah das, wenn, wie Sie sagen, die Transparenz fehlte?

Erlinghagen: Die Netzbetreiber machen das auf Basis von Annahmen über typische Stromverbräuche. Das sind nur Wahrscheinlichkeiten. Daher müssen die Netzbetreiber viel mehr Spielraum im Netz einplanen, damit es nicht zu einem Stromausfall kommt. Mit der neuen Software wissen die Netzbetreiber dann ganz exakt, was verbraucht wird. Sie müssen sich nicht auf Vermutungen verlassen. 

Welche Vorteile bringen exakte Daten?

Erlinghagen: Das ist vorteilhaft für die Planung neuer Netze, für Investitionen und für den Betrieb. Sie können Netzausfälle ganz genau orten, können also die Servicemitarbeiter rasch an den richtigen Ort schicken. Bisher wusste man nur ungefähr, wo ein Ausfall passiert ist, die Mitarbeiter mussten dann lange suchen. Das geht alles dank der Tatsache, dass man echte Daten hat und nicht auf Basis von Schätzungen arbeitet. 

Kann die Software die Transformation der Energiewelt positiv beeinflussen?

Erlinghagen: Wenn wir in manchen Gegenden davon ausgehen, dass wir die elektrischen Kapazitäten in den nächsten sieben Jahren wahrscheinlich verdoppeln werden, weil alles, was Gas und Öl ist, elektrisch werden soll, brauchen wir viel mehr Netzkapazität. Aber diese mit Hardware, etwa mit neuen Kupferkabeln, zu errichten, dauert viel zu lange und man hat keine Fachkräfte dafür. Mit der Software können wir das bestehende Netz besser nutzen. 

Gibt es da eine Abschätzung, wie viel aus dem bestehenden Netz noch herausgeholt werden kann?

Erlinghagen: Ich glaube, das sind zweistellige Prozentwerte, die man realisieren kann. Eine typischer Ortsstation hat zum Teil 50 bis 60 Prozent Reserve. Diese Reserve bleibt heute frei, um jeden Ausfall zu vermeiden. Ich glaube schon, dass wir in Zukunft über Szenarien sprechen, wo die Auslastung bei 80 Prozent liegen wird. Das heißt, ich kann sehr, sehr große Potenziale heben, ohne neue Infrastruktur bauen zu müssen. Das ist genau der Wert von LV Insights X. 

Netzbetreiber ersparen sich also große Investitionen?

Erlinghagen: Korrekt. Die Software reduziert den Materialeinsatz, die Arbeit an der Infrastruktur.

Damit können auch Netzkosten sinken?

Erlinghagen: Wenn ich einen Wunsch an den Regulator äußern dürfte, wäre das, die Investitionen in Software zu belohnen. Im Moment werden Investitionen in den Netzausbau belohnt, jene in Software weniger. Und das, obwohl Software garantiert den schnelleren Weg zu mehr Netzkapazität liefern kann. Die Softwareinvestitionen sind weniger ressourcenintensiv und für die Netzentgelte daher die bessere und die konsumentenfreundlichere Lösung. 

Ist die Energiewende ohne Softwarelösungen denkbar?

Erlinghagen: Software ist für die Energiewende unersetzlich. Aber wenn wir in Europa über Digitalisierung im Strombereich reden, denken wir nur an Smart Meter. Das greift aber viel zu kurz. Es geht ja darum, Netze besser zu planen, zu betreiben und die Wartung effizienter zu gestalten. Darin liegt die eigentliche Digitalisierung. Man muss möglichst viel aus der bestehenden Infrastruktur herausholen. Zum Beispiel: Wir können mit den Mitteln von Software mindestens einen Prozentpunkt an technischen Verlusten reduzieren. Auf Europa umgelegt, sind das zehn mittlere Kraftwerke, die man nicht bauen muss. Und wenn ich die Reserven im Netz weiter reduziere, spare ich noch mehr. Ich denke, wir unterschätzen das. 

Die Software kann für Netzplanung, -wartung und -betrieb eingesetzt werden?

Erlinghagen: Bisher sind das sehr getrennte Bereiche. Aber wir glauben, dass die Abteilungen zusammenwachsen bzw. besser zusammenarbeiten müssen, weil wir immer öfter Netzzustände simulieren müssen. Und diese Simulationen müssen im Betrieb besser genutzt werden. 

Rascher und kostengünstiger zur Energiewende – ist das ein Ziel der Software?

Erlinghagen: Ja genau. Mangels Daten können derzeit zum Beispiel Photovoltaikanlagen nicht ans Netz oder Industriebtriebe ihre Elektrifizierung nicht vorantreiben. Das führt nicht nur zu Frustrationen, sondern auch zu wirtschaftlichen Nachteilen. Aber wir haben einen unglaublichen Druck, von Öl und Gas wegzukommen. Ein Merkmal der Lösung, die wir anbieten, ist Geschwindigkeit. In der Vergangenheit haben Infrastrukturprojekte sehr lange gedauert, auch Softwareprojekte brauchten viel Zeit. Mit LV Insights X generieren wir das in wenigen Wochen. Wir haben das mit vielen Netzbetreibern zusammen entwickelt, auch mit österreichischen, damit sie schnell integrierbar ist. Das Verständnis, dass es nur gemeinsam geht, ist in der Branche enorm gewachsen.

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