Privatsphäre und Bürgerrechte werden zunehmend von privatwirtschaftlicher und staatlicher Überwachung ausgehöhlt. Von Rainer Sigl.
Agententhriller in den Schlagzeilen: Kaum ein Mensch, der das jungenhafte Gesicht des NSA-Aufdeckers und in Russland gestrandeten Whistleblowers Edward Snowden nicht kennt. Wer bis vor kurzem in der Öffentlichkeit behauptet hatte, dass diverse Geheimdienste so gut wie jede Internetkommunikation überwachen würden, hätte als paranoider Verschwörungstheoretiker gegolten.
Das ist ab sofort anders, doch dafür macht sich in der erstaunlich wenig alarmierten Weltöffentlichkeit jetzt eine fast zynische Abgeklärtheit breit: Die Totalüberwachung, die nun von der abenteuerlichen Verschwörungstheorie zur nüchternen Realität geworden ist, sei eben der Preis der Sicherheit, jeder denkende Mensch hätte ohnedies mit ihr rechnen müssen und überhaupt, als Klassiker der achselzuckenden Ignoranz: Wer nichts zu verbergen habe, habe auch nichts zu befürchten. Von Politikerseite hörte man auch erst dann einen zaghaften Aufschrei, als bekannt wurde, dass nicht nur das gemeine Stimmvolk, sondern auch die politische Kaste ins Visier der Spähkommandos genommen worden war.
Tatsächlich verschwinden im Zangenangriff von Nachrichtendiensten und privatwirtschaftlicher Datensammelwut zunehmend Bürgerrechte, die bis vor kurzem zumindest auf dem Papier noch selbstverständliche Gültigkeit hatten. Das Recht auf Privatsphäre etwa wird aber nicht nur von den nimmersatten Geheimdiensten mit Füßen getreten, sondern von den meist ahnungslosen Konsumenten oft zugunsten angeblicher Bequemlichkeit leichtsinnig aufgegeben. Was die Geheimdienste sammeln, verblasst dabei angesichts der unfassbaren Datenberge, die von immer mehr Firmen über ihre potenziellen Kunden angesammelt werden.
Gläserne Kunden, gläserne Bürger
Denn nicht nur auf Facebook, sondern auch bei Kundenkartenprogrammen werden fast automatisch Nutzerprofile generiert, die jeden Stasi-Beamten begeistert hätten. Beim Online-Einkauf werden ohnedies alle Kundenschritte gespeichert, analysiert und verwertet, aber auch im Supermarkt an der Ecke analysieren zunehmend mit Video-Augen, WLAN-Sensoren und NFC-Kassen ausgestattete Systeme unser ganz analoges Shoppingverhalten. So sammeln die sich in einigen internationalen Ladenketten im Testlauf befindlichen Überwachungssysteme nicht nur Daten darüber, wer wann was einkauft, sondern auch, vor welchen Regalen man besonders lange verweilt, was man eventuell wieder ins Regal zurückstellt und welchen Gesichtsausdruck man dabei macht – alles Daten, die zwecks Absatzoptimierung gesammelt, nach Möglichkeit personalisiert und verwertet werden. Auf den Straßen vor den Geschäften erledigt ähnliche Software mit anderen Parametern eine vergleichbare Aufgabe: EU-Projekte wie INDECT oder das vor kurzem von Wikileaks enthüllte US-Programm »Trapwire« sollen per Videoüberwachung im öffentlichen Raum »verdächtiges« Verhalten erkennen – eine Totalüberwachung, wie sie sich George Orwell nicht drastischer vorstellen hätte können.
Auch vor den Wohnungstüren macht diese Neugier nicht mehr Halt: Zum Patent angemeldete TV-Systeme, aber auch ganz konkret Microsofts vor kurzem angekündigte neue XBox-One-Konsole werden ihre Nutzer per nicht ausschaltbarem Mikro und Kinect-Kamera konstant aufzeichnen und automatisch analysieren, wie viele Menschen sich vor dem TV versammeln, wer sich gerade im Raum befindet oder auch bis zu einem gewissen Grad, welche Tätigkeit die Anwesenden gerade ausführen – alles »Features« des neuen Wohnzimmeraltars, die den Kunden ein zusätzliches Maß an Bequemlichkeit, für Microsoft und seine potenziellen Werbekunden aber mächtige Instrumente zur Analyse der Nutzer in ihren eigenen Wohnzimmern bringen sollen.
Es scheint fast zu spät, vor einer Konvergenz beider Trends zu warnen, denn diese ist bereits Realität: Wie der NSA-Aufdecker Snowden auch zu Protokoll gegeben hat, kooperieren jene Firmen, die ihre Kunden im Namen höherer Umsätze zunehmend lückenlos überwachen, schon längst standardmäßig mit den Nachrichtendiensten. Sowohl als Kunde wie auch als Bürger steht man somit ständig unter Überwachung – im Namen des Profits auf der einen, in jenem der »Sicherheit« auf der anderen Seite. Höchste Zeit, dass dieses Thema auf breiter gesellschaftlicher Basis diskutiert wird.