Montag, Dezember 23, 2024
Der Mensch als komplexestes System

Technologieprojekte, Methoden und Veränderungen: Thomas Riedl steht dem neu geformten Geschäftsbereich Business Excellence Transformation & Consulting des Digitalisierungsexperten Nagarro vor. 

Wie hat sich die Sicht auf Technologieprojekte in Unternehmen verändert?

Thomas Riedl: Die erste Marktphase, die ich erlebt habe, war stark technologiezentriert – mit dem Fokus auf Fortschritt, beste Technologien und die Implementierung modernster Lösungen. Das wurde in den Jahren darauf mit Methodiken angereichert, bis hin zu agilen Vorgehensmodellen. Aus meiner Sicht sind beide Themenfelder ­– Technologie und Methoden – heute etwas, worüber sich Dienstleistungspartner kaum noch differenzieren können. Relativ frisch ist aber die Herausforderung, künftig die Persönlichkeit, individuell die Nutzer*innen in den Mittelpunkt zu stellen. Den digitalen Humanismus in der IT werden wir sowohl nach außen in der Zusammenarbeit mit den Kund*innen sehen, als auch stark im Inneren von Organisationen, bei Systemen und Services für die eigenen Mitarbeiter*innen. Ich denke, es wird in einer gewissen Qualitätsstufe wahrscheinlich unmöglich sein, dem Prinzip des digitalen Humanismus nach außen hin zu folgen, ohne diesen im Innen bereits glaubhaft umgesetzt zu haben.

Menschen in den Vordergrund zu stellen – das klingt nach einem Versprechen, das in der Vergangenheit von der IT-Industrie in der Praxis oft nicht eingelöst worden ist. Was soll sich jetzt ändern?

Wir diskutieren in Projekten mit den Kunden weiterhin über Technologien und Methodiken in der Entwicklung und Umsetzung. Aber wir sprechen aktiv auch die Unternehmenskultur und die Werte an, die im Unternehmen gelebt werden. Dazu gehören auch mögliche negative Auswirkungen durch Technologie und auch, wie Menschen in den Teams zusammenarbeiten. Welche unserer Kolleg*innen passen auch kulturell zum Kunden? Das in einer Zusammenarbeit die Chemie wichtig ist, hat man früher schon gewusst – sie hat aber bei einer Teambesetzung praktisch keine Rolle gespielt. Das hat bei uns  hohe Priorität und ebenso bei unseren Unternehmenskunden. Vielen ist mittlerweile klar, dass der Erfolg eines Projekts nicht auf einer bestimmten Technik oder einer Methodik fußt, sondern auf den Persönlichkeiten, die involviert sind.

Was sind die wichtigsten Punkte, die bei der Zielsetzung von "Human-centric Design" von Services und Produkten zu beachten sind?

Zum einen hat die IT-Industrie einen großen Nachholbedarf, auf bereits bestehendes Wissen bei der Entwicklung von Services zurückzugreifen. So gibt es bereits wissenschaftliche Erkenntnisse in der Psychologie, wie Prozesse aussehen und ablaufen sollten, damit diese gerne genutzt werden. Man kennt das optimale Design der Schnittstelle Mensch und Maschine. Trotzdem hat man sich in der Vergangenheit oft auf Ansichten der Silicon Valley Community, die stark technologiegetrieben ist, beschränkt.

Wir empfehlen, zu Beginn eines Projekts im Anforderungsmanagement noch genauer auf den Kunden zu hören. Oft sind es die menschlichen Zwischentöne in der Diskussion eines Anforderungskatalogs, die wesentlich sind. Die Zeiten des überkompetenten, besserwissenden Beratertyps sind vorüber. Es braucht Typen, die partnerschaftlich agieren und auch auf einer persönlichen Ebene teamfähig sind und gut zusammenarbeiten können. Ein guter Lösungspartner ermöglicht stets auch den Blick über den Tellerrand. Ich vergleiche das mit einer Lieblingsspeise: Man weiß, was einem schmeckt – kann sich aber nicht vorstellen, was es darüber hinaus Besseres geben könnte. Betrete ich mit dem Unternehmenskunden dann für ihn unbekanntes Terrain, dann entstehen daraus mitunter exzeptionelle Lösungen.

Was wird im Design und auch in der Projektarbeit oft auch falsch gemacht?

In der IT agieren viele immer noch auf der Basis des „Homo oeconomicus“. Von diesem stark rationalen, stets auf Nutzermaximierung ausgerichteten Modell hat sich die gesamte Wissenschaft schon lange verabschiedet. Auch in der Arbeitswelt sind wir Menschen in einem gewissen Maß von Irrationalität und Gefühlen getrieben. Das hat bislang in der IT-Arbeit aber keine Rolle gespielt – ein Riesenfehler.

Was sind für Sie gute Beispiele für IT-Projekte, in denen der Mensch zentral eine Rolle spielt?

Ein gutes Beispiel dazu ist unser Smart-Glass-Projekt bei ÖBB Postbus. Dabei werden seit 2019 Smart Glasses mit Assisted-Reality-Funktion zur technischen Abnahme von Bussen eingesetzt. Das bedeutet eine Arbeitserleichterung für die Mitarbeiter*innen, Mängel werden direkt mittels Audio, Foto oder Video über diese neue Technologie erfasst. Dafür muss man aber zuerst gut zuhören, beobachten, die Menschen, die da arbeiten wahrnehmen. Das gemeinsame Projekt wurde auch mehrfach ausgezeichnet und ist ein Beispiel für eine Umsetzung, die in dieser Form nicht von Anfang an geplant war.

Was wurde in der Zusammenarbeit mit Postbus nachträglich erkannt und umgesetzt?

Ursprünglich war einfach geplant, die technische Abnahme von Bussen zu automatisieren. Am Ende stand eine Lösung, die eigentlich als intelligenter Partner beim Abnahmeprozess bereitsteht. Mit dem fortlaufenden Projekt wurden Beauftragungs- und Arbeitsverteilungsprozess optimiert und völlig neue Features integriert. Das ist zum Beispiel die automatische Protokollierung von Ansagen während der Abnahme mit „Speech to Text“. Zunächst gar nicht Gegenstand der Projektanforderungen, war das am Ende für gut 80 % der Kosten und Zeitersparnis für die Mitarbeitenden verantwortlich.

Für uns sind das Maß des Erfolgs unserer Arbeit immer die positiven Veränderungen für die Menschen – viel mehr als die technischen Implementierungen. Andere Beispiele sind ein weiteres Smart-Glass-Projekt für die Energie Burgenland oder MentorMe, ein Mentoring-Programm für Frauen. In einem aktuellen Kundenprojekt wurden wir eingeladen, den IT-Wandel in die Cloud technisch zu begleiten. Mittlerweile geht es dort um viel mehr, als um eine Cloud-Implementierung. Es geht um die Kultur in den betroffenen Teams und um Organisationsänderungen. Das ist genau der Weg, den wir als Digitalisierungspartner einschlagen wollen. In dem Triumvirat Technik, Methoden und Menschen ist der Mensch das mit Abstand komplexeste System. Deshalb verdient er auch den größten Fokus und die meiste Energie.

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