Sonntag, Dezember 22, 2024

Für Alstom wird es zum lohnenden Geschäft, alte Kraftwerke leistungsfähiger zu machen – dabei werden nicht nur die eigenen, sondern auch Technologien der Konkurrenz bedient. Parallel zur Verbesserung alter Kohletechnologie wird auf Erneuerbare gesetzt – etwa das größte Windrad der Welt.

Von Stefan Mey aus Rostock

Der 140 Meter hohe Kühlturm des Kraftwerks Rostock, aus dem imposant weißer Dampf aufsteigt, ist bereits aus weiter Ferne sichtbar. Das seit dem Jahr 1994 betriebene Kohlekraftwerk hat eine optimale Lage – denn die Steinkohle, die hauptsächlich aus Russ­land und Polen importiert wird, wird im Hafen der Hansestadt entladen und gelangt auf direktem Weg zum Kraftwerk; 300.000 Tonnen können vor Ort gelagert werden, was im Fall einer Versorgungskrise drei Monate lang weiter den Betrieb garantiert. Sorgen macht sich Axel Becker, Geschäftsführer des Kraftwerks, aber wegen der »Solardecke«: Photovoltaik-Einspeisungen während des Tages führen zu schwankenden Strompreisen – und das zwingt den Kraftwerksbetreiber, in Extremfällen die Produktion zwei Mal pro Tag hoch- und runterzufahren. Und das blieb nicht ohne Konsequenz. Denn im Jahr 2009 stellten die Betreiber kleine Risse in den Flügeln der Turbine fest – um Gröberes zu vermeiden, musste gehandelt werden. Das Management musste also entscheiden, ob lediglich Reparaturen durchgeführt werden – oder ob im Rahmen eines sogenannten »Retrofit« das System verbessert und somit gleich die Effizienz erhöht wird. Das rief das Unternehmen Alstom auf den Plan: In 45 Tagen wurde die Technologie verbessert, mit einem Budget von rund 15 Millionen Euro. »Als Betreiber wollten wir zuerst bloß reparieren, da es billiger gewesen wäre«, sagt Becker: »Aber nun können wir den Leistungsanforderungen besser folgen.« Denn bei unveränderter Leistung des Dampferzeugers ist die Leistung des Kraftwerks nun von 551 MW im August 2013 auf 558 MW im Jänner 2014 gestiegen; die nächste Revision wird erst 2025 fällig.

Verbesserung

Für Alstom gewinnt das Thema Kraftwerkservice immer mehr an Bedeutung: »Wir machen alles, was dazugehört, damit das Kraftwerk funktioniert,« sagt Alf Henryk Wulf, Vorstandsvorsitzender von Alstom Deutschland: »Und zwar nicht nur an den eigenen Anlagen, sondern auch an denen unserer Mitbewerber.« Diese Entscheidung sei vor ein paar Jahren gefällt worden; man musste zwar viel dazu lernen, doch im Endeffekt hat es sich rentiert. Das zeigt sich nicht nur in Europa, sondern auch in Ländern wie Südafrika: Von dem staatlichen südafrikanischen Energieversorgungsunternehmen ESKOM erhielt das Unternehmen einen Auftrag über die Lieferung von modular austauschbaren Turbinen und Generator-Komponenten in konventionell kohlegefeuerten Kraftwerken; Alstom betreut zirka 80-85 % der südafrikanischen Stromerzeugungsanlagen. »Südafrika hat einen Energieengpass, weil die Produktion nicht mit dem Wachstum mithalten kann«, sagt Wulf. Bedenken von Umweltschützern zum Trotz sind die konventionellen kalorischen Kraftwerke daher unerlässlich, um den Energiehunger des Wachstumsmarktes zu decken.

Doch auch in Deutschland sieht Wulf noch Potenzial. Im Kohlekraftwerk Herne wurde etwa die Hochdruck-Teilturbine ausgetauscht; nun ist das Kraftwerk flexibler und effizienter, der CO2-Ausstoß wurde reduziert. Im Kraftwerk Heyden nahm sich Alstom das 28 Jahre alte Dampfkraftwerk von Siemens mit einer Leistung von 865 MW vor; der Basisauftrag hatte ein Volumen von 600.000 Euro. »Und im Altersportfolio dieser Kraftwerke gibt es noch jede Menge Kraftwerke in Deutschland«, freut sich der Vorstandsvorsitzende über glänzende Zukunftsperspektiven.

Frage der Akzeptanz

Die Verbesserung bestehender Kohlekraftwerke sind Teil eines »Energietrilemmas«, welches Frank Umbach, Associate Director des in London angesiedelten Europäischen Zentrums für Energie- und Ressourcensicherheit (EUCERS), erläutert: Der Staat muss ein Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit, Versorgungssicherheit und nachhaltiger Umwelt- und Klimapolitik schaffen. »Problematisch wird das, wenn der Faktor ›Öffentliche Akzeptanz‹ hinzu kommt«, erklärt der Wissenschaftler: In Deutschland sei mittlerweile jede große Infrastruktur umstritten; Phänomene wie die Proteste gegen Stuttgart21 zeigen, dass sich oft lokale Bewegungen formieren, deren Anliegen in ihrer eigenen Perspektive zwar berechtigt sind – das führe aber dazu, dass jeder nur an sich selbst denke, während der Blick für das große Ganze fehlt. »Früher richtete sich die Akzeptanzfrage im Energiebereich allein gegen Gas- und Kohlekraftwerke«, erläutert Umbach: »Nun demonstrieren die Leute auch schon gegen Windparks und Stromnetze.« Allerdings werden neue und effizientere Formen der Energieproduktion global nötig sein, um die Nachfrage zu decken: Weltweit sieht Umbach den Bedarf an Energie bis 2035 nochmal um ein Drittel steigen. Am meisten wird die Nachfrage nach Gas wachsen, das unter den fossilen Energieträgern umwelttechnisch der beste Kompromiss ist. In der Vergangenheit wuchs – vor allem durch China getrieben – am stärksten die Nachfrage nach Kohle. Selbst Ende 2035 werden laut Umbach die fossilen Energieträger noch immer über 60 Prozent des globalen Energiemixes ausmachen. »Die Frage ist, ob wir dann saubere Kohletechnologien entwickeln und exportieren werden«, sagt er. Stichwort: Carbon Capture and Storage (CCS).

Wettbewerbsfaktor

Potenzial sieht Umbach in diesem Kontext auch in der vielfach umstrittenen Schiefergasförderung: »Deutschland könnte 25 % der Importe durch Schiefergas ersetzen«, sagt er. Es ist ein Faktum, dass die Gaspreise in der EU gestiegen sind, während sie in den USA fielen; schon heute verschieben sich laut Umbach energieintensive Industrien in die USA; der Export energieintensiver Güter aus der EU wird bis 2035 um zehn Prozent einbrechen, so die Prognose. Zwar werde Schiefergas in Deutschland teurer sein als in den USA, weil die Ressourcen tiefer liegen - billiger als der Import von russischem Gas sei es aber allemal. Doch auch hier gibt es Proteste in der Bevölkerung. »Die Gemeinwohlorientierung geht zunehmend zugunsten von Partikularinteressen verloren«, schließt Umbach: Es drohe eine De-Industrialisierung.

Energie aus dem Meer

Wo soll also die Energie her kommen, wenn Menschen ungern ein Kraftwerk oder eine Schiefergasförderung in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft haben wollen? Wulf sieht Wachstumspotenzial des Konzerns neben der bereits erwähnten Verbesserung bestehender Anlagen auch auf der Seite der Energieproduktionsseite, vor allem im Bereich der Windkraft – und hier spielt Offshore, also Windkraftanlagen im Meer, eine wichtige Rolle. Das Unternehmen, das 30 Jahre Erfahrung mit der Gewinnung von Strom aus Wind gesammelt hat, hat für die neuen großen Anforderungen der Energiewende den technologischen Beitrag bereits bis zur Einsatzreife entwickelt: Die Windturbine Haliade 150-6MW erzeugt mit drei Rotorblättern von 73,5 Metern Länge eine Stromleistung von sechs Megawatt. In ihrer Größe und Leistung ist sie bisher einzigartig.

»Für die Onshore-Anwendung ist die Haliade vor allem aus Lärmgründen nicht geeignet«, erläutert Markus Rieck, Geschäftsführer der Alstom Renewable Germany GmbH. Daher geht die Technologie ins Meer: Ein erster Prototyp wurde im März 2012 noch an Land, in Frankreich, errichtet; die erste Offshore-Anlage im tiefen Wasser (35 Meter) in der Nordsee wurde anschließend im November 2013 im Windpark Belwind, 46 Kilometer vor der belgischen Küste, aufgestellt. Geschützt vor Wind und Wetter im neuen Umfeld ist die Haliade durch eine entsprechende Technologie: Das Rotoraufnahmekonzept »Pure Torque« schützt den Antriebsstrang vor Biegebeanspruchung. Der Serienstart der Haliade 150 ist für 2015 vorgesehen.

Breite Streuung hilft

Der Vorteil von Alstom in diesen ungewissen Zeiten ist die breite Aufstellung des Konzerns. Die Stärken des Konzerns sieht Wulf im Bereich der Hochgeschwindigkeits- und Regionalzüge; im Energiebereich punktet man durch die Offshore-Erfahrung der letzten Jahre, sowie durch komplexe Fähigkeiten im Servicebereich – auch an Maschinen, die eigentlich von der Konkurrenz stammen.

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