Dennis Meadows, MIT-Professor und Mitautor des 1972 erschienen Club-of-Rome-Berichts »Die Grenzen des Wachstums«, spricht wieder aus, was andere nicht hören wollen: »Peak Oil«, also jener Zeitpunkt, ab dem das Maximum konventioneller Ölförderung überschritten ist, liegt bereits hinter uns. Meadows’ Analysen zufolge wurde jener schicksalhafte Tag bereits vor fünf Jahren, 2006, erreicht. Höchste Zeit also, dem wachsenden Energiehunger der Erdbevölkerung mit innovativen Ideen zur Energiegewinnung aus erneuerbaren Quellen zu begegnen – das Zeitalter der billigen fossilen Energie neigt sich unerbittlich dem Ende zu.
Strom aus Ebbe und Flut
Ein Glück, dass der blaue Planet neben Wasserkraft, Sonnen- und Windenergie im Überfluss noch eine weitere potenziell unerschöpfliche Energiequelle aufzubieten hat: Mehr als zwei Drittel unseres Planeten sind von Ozeanen bedeckt, deren durchschnittliche Tiefe über 3.000 Meter beträgt. Es ist beinahe schon Allgemeingut, dass dieser enorme Lebensraum vom Landwesen Homo sapiens weniger gut erforscht ist als die Oberfläche des fernen Mondes, doch neben Biologen und Naturwissenschaftern nehmen nun auch vermehrt Ingenieure das atemberaubende Potenzial der Meere unter die Lupe.
Bereits Anfang der 60er-Jahre wurde in den Niederlanden das bis vor kurzem größte Gezeitenkraftwerk der Welt errichtet; exakt 50 Jahre später, im Frühjahr des heurigen Jahres, löste das südkoreanische Gezeitenkraftwerk Shiwa-ho mit einer Leistung von insgesamt 254 MW den holländischen Urgroßvater als größtes Kraftwerk seiner Art ab. Drei weitere ähnliche südkoreanische Projekte sollen insgesamt bei Projektende innerhalb der nächsten zehn Jahre zusammen 2.400 MW sauberen Strom aus dem Meer gewinnen.
Ein bereits im 19. Jahrhundert erdachtes und im Jahr 2010 erneut auf Eis gelegtes Megaprojekt in Großbritannien, die sogenannte Severn Barrage zwischen Bristol und Cardiff, wollte konzeptuell nochmals in gänzlich andere Dimensionen vorstoßen und versprach, stolze 8.500 MW sauberen Strom aus der Bewegung der Gezeiten zu liefern – dies entspricht in etwa 5 % der in Großbritannien verbrauchten Gesamtenergie. Der Baustopp dieses auf über 34 Milliarden Pfund geschätzten Projekts und die allgemein verhältnismäßig geringe Verbreitung von Kraftwerken dieses Typs sind allerdings auf einige Grundprobleme zurückzuführen: Große Auswirkungen auf die Umwelt, teure Wartungen und unregelmäßige Gezeiten machen Gezeitenkraftwerke herkömmlichen Typs bisher zu Energielieferanten zweiter Wahl.
Neue Ansätze
In Zeiten schwindender fossiler Rohstoffe wenden sich aber nun vermehrt findige Ingenieure dem ungenutzten blauen Riesen zu. Über 100 Firmen weltweit widmen sich einer Bestandsaufnahme des European Marine Energy Centres EMEC der Zukunft der hydrokinetischen Energiegewinnung, und der Markt und seine meist jungen Teilnehmer sind sichtlich im Aufbruch. Eine Studie des von der britischen Regierung finanzierten Carbon Trust errechnete für das Jahr 2050 die schwindelerregende potenzielle Gesamtenergieleistung von 190 GW aus Meeresenergie. Kein Wunder also, dass sich eine wachsende Zahl an Firmen für das noch nicht völlig abgesteckte neue Energiebusiness mit Megapotenzial interessiert – vor allem, weil sich im Wettkampf der Prototypen zur Energiegewinnung bislang noch keines der originellen Konzepte vollständig behaupten konnte.
Erst im August listete das einflussreiche Periodikum New Scientist die chancenreichsten Innovationen und Prototypen auf diesem technischen Neuland auf. Im Wissen um die durchwachsene Erfolgsgeschichte herkömmlicher Gezeitenkraftwerke, die vor allem durch ihre gewaltigen Ausmaße Financiers und Umweltschützer auf die Barrikaden treiben, sehen die meisten Innovatoren die Zukunft der hydrokinetischen Energiegewinnung in kompakteren, mobilen Kleinkraftwerken, die im Verbund die unablässige Bewegung der Wassermassen zur Stromerzeugung nutzen sollen.
Noch ist der Stein der Weisen nicht ganz gefunden, obwohl einige Prototypen, etwa ein OWC-Kraftwerk in Murtiku, Spanien, bereits Energie ins Netz einspeisen. Bei dieser Technologie komprimiert Wellenkraft Luft in Kammern, durch die Turbinen betrieben werden. Andere Prototypen tanzen wie Bojen auf den Wellen oder schlängeln sich als meterlange hohle Stahlketten durch die Brandung. Wellenenergie eignet sich als Energielieferant so gesehen fast besser als die momentan überall zum Einsatz kommende Windkraft: Einerseits ist hydrokinetische Energie weniger Schwankungen unterworfen als der Wind, was diese Form der Energiegewinnung zum verlässlicheren Energielieferanten in Zeiten der Windstille werden lässt. Andererseits liefert das Auf und Ab der Wellen bei gleicher Geschwindigkeit mehr als die 40-fache Energiemenge im Vergleich zur Windenergie. Auch Ästheten wird’s freuen: Auf das Auge beleidigende Riesenwindparks könnte mit Hilfe dieser neuen Energiequelle vielleicht auch bald wieder verzichtet werden.