Selbst wenn es gelänge, in ausreichendem Maß andere Gaslieferanten als Russland zu finden, gäbe es bis auf Weiteres nicht genug Importkapazität auf den Leitungen. Sinnvoll wäre mutmaßlich eine »strategische Gastransportreserve«, die der Staat längerfristig buchen müsste.
Zurzeit ist die österreichische Infrastruktur zur Erdgasversorgung im Wesentlichen auf Importe aus Russland ausgerichtet. Wenn es nach Energieministerin Leonore Gewessler geht, soll das Gas jedoch bereits ab 2027 nur noch aus anderen Ländern kommen. »Russland ist kein verlässlicher Partner mehr. Es gibt kein Zurück zum billigen russischen Gas«, wird die Ministerin nicht müde, in geringfügig modifizierten »Wordings« bei jeder Gelegenheit zu verlautbaren. Wieso beispielsweise der von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hofierte aserbaidschanische Präsident Ilham Aliew, der nach alter Gewohnheit erst kürzlich wieder das benachbarte Armenien überfiel, oder der Emir von Katar, Seine Hoheit Tamin bin Hamad al Thani, der erst kürzlich zugab, in Sachen LNG nur allzu begrenzt lieferfähig zu sein, »zuverlässigere Partner« wären, ließ die Ministerin bis dato offen. Aber selbst wenn: Wie sieht es mit der Infrastruktur für Importe aus anderen Gegenden als Russland aus?
Laut Carola Millgramm, der Leiterin der Abteilung Gas der E-Control, könnte Österreich maximal sechs Milliarden Kubikmeter (bcm) Gas pro Jahr über die Trans-Austria-Gasleitung (TAG) importieren, also über Italien. Rechnerisch ließen sich damit fast drei Viertel des heimischen Jahresbedarfs von etwa acht bcm decken. Die entsprechende Kapazität auf der TAG ist Millgramm zufolge zwar zum Teil schon gebucht und wird auch bereits genutzt. Aber es gebe noch freie Kapazitäten, und das auch kurzfristig.
Hinsichtlich der verbleibenden etwa zwei bcm sieht die Lage indessen deutlich schlechter aus. Zwar meldete die OMV Mitte Juli, sie habe mittels Auktionen eine Kapazität von insgesamt rund 40 Terawattstunden (TWh) oder 3,6 bcm an den Grenzkopplungspunkten Arnoldstein an der Grenze mit Italien und Oberkappel an der deutsch-österreichischen Grenze erworben. »Das ist ein entscheidender Meilenstein in der Diversifizierung der Erdgasversorgung. Denn damit können wir das in Norwegen von uns selbst produzierte Gas, aber auch zugekaufte LNG-Mengen im Bedarfsfall nach Österreich bringen und unsere Kunden zuverlässig versorgen«, flötete Generaldirektor Alfred Stern. Das Problem: Laut Millgramm gibt es keine zusätzliche freie Kapazität in Oberkappel, die Versorger zur Belieferung von Kunden in Österreich auf längere Zeit gesichert nutzen könnten. Daher besteht bei jeder neuen Jahresauktion das Risiko, nicht zum Zug zu kommen oder eine deutlichen Aufschlag zahlen zu müssen. Und die Schaffung zusätzlicher Kapazität sei alles andere als einfach: »Dazu bräuchte man im deutschen Netz eine Druckanpassung oder einen Ausbau.«
Eher unrealistisch
Zumindest bis auf Weiteres eher unrealistisch ist Millgramm zufolge, Gas über den LNG-Terminal Omisalj auf der Adriainsel Krk nach Österreich zu bringen. Die Schaffung der diesbezüglichen Kapazität am Netzknoten Murfeld zwischen Österreich und Slowenien gilt dabei noch als das geringste Problem: »Es gibt keine ausreichende Kapazität zwischen Kroatien und Slowenien und in Slowenien. Und diese auszubauen oder zu verstärken, wäre teuer.« Millgramm zufolge müssten mehr als 100 Millionen Euro allein auf österreichischer Seite veranschlagt werden. Außerdem ist der LNG-Terminal in Kroatien zurzeit ohnehin ausgelastet. Zwar bestehen Überlegungen, seine Kapazität von zwei auf sechs bcm pro Jahr zu verdreifachen, aber, konstatiert Millgramm, »wir haben dieses Projekt schon mehrmals diskutiert. Bisher war das Interesse vom Markt nicht vorhanden. Zusätzliche Kapazitäten für Importe über Deutschland oder Italien ermöglichen den Zugang zu den bestehenden und geplanten Terminals an der Nord- und Ostsee und dem Mittelmeer sowie eine bessere Verbindung mit den norwegischen Gasfeldern und nordafrikanischen Anbietern. Das wäre viel attraktiver.« Gas aus den in Erschließung befindlichen Feldern in der Levante über Omisalj nach Österreich zu bekommen, hält Millgramm für unrealistisch. Bekanntlich sollten diese Felder mit dem israelischen Festland verbunden werden. Von dort aus ist der Transport unter anderem nach Ägypten vorgesehen. Erst in der Folge könnte Gas als LNG nach Europa gelangen, zum Großteil über italienische LNG-Terminals. Laut Millgramm hätte das ohnehin einen Vorteil: »Das Gas müsste nur durch ein Transitland, Italien, fließen. Bei LNG-Importen über Omisalj dagegen wären Slowenien und Kroatien zu durchqueren.«
»Teleskopartige« Leitungen
Laut Michael Woltran, dem Vorstandsdirektor der Austrian Gas Grid Management AG (AGGM), gibt es bereits derzeit Nominierungen auf der TAG für Gasimporte aus Italien. Physikalisch erfolgten laut Woltran bis dato allerdings keine Gasimporte via Arnoldstein: »Der Gasfluss auf der TAG wurde bisher noch nie umgedreht. Aber technisch wäre das machbar.«
Grundsätzlich lässt sich Woltran zufolge jede Verdichterstation auf einer Gasleitung in beiden Richtungen betreiben, sofern eine entsprechende Verschaltmöglichkeit verfügbar ist. Die Installation der notwendigen Verrohrungen samt Schieberstationen und entsprechenden Ventilen wird als Auskreuzen bezeichnet. »Das ist eine normale Technik, mit der viele Verdichterstationen von Haus aus ausgerüstet sind«, erläutert Woltran. Eine Herausforderung für den Betrieb von Pipelines gegen die übliche Flussrichtung (reverse-flow) ist ihm zufolge, dass manche Leitungen in der Vergangenheit »teleskopartig« gebaut wurden. Das heißt: Am Anfangspunkt der Pipeline wurden Rohre mit großem Durchmesser verlegt, die für Gasflüsse mit hohem Druck geeignet waren. Im Verlauf der Trasse verringerten sich der Rohrdurchmesser und der Betriebsdruck. Derartige Pipelines im Reverse-flow-Modus zu betreiben, ist nicht sinnvoll: »Man würde sozusagen am ›dünnen Ende‹ der Leitung mit geringem Druck Gas einspeisen. Und im Zuge des Transports würde sich dieser ohnehin schon niedrige Druck immer weiter vermindern.«
Strategische Transportreserve
Sehr wohl sinnvoll sein könnte laut Woltran dagegen die Einführung einer »strategischen Transportreserve« für Erdgas. Dabei müsste sich der Bund als Garantiegeber dazu verpflichten, Leitungskapazität an einem Grenzkopplungspunkt wie Oberkappel in einem bestimmten Umfang über eine mehrjährige Laufzeit hinweg zu buchen. In der Folge könnten Projekte zur Ertüchtigung der betreffenden Leitung(en) im Rahmen der gültigen Regeln für den Netzausbau in Österreich entwickelt und umgesetzt werden. Im Normalfall würde diese Kapazität wie jede andere vermarktet. Im Krisenfall stünde sie für Gastransporte im Rahmen der Energielenkung zur Verfügung. Diese gewissermaßen staatlich abgesicherte weitere Ertüchtigung des Gasnetzes würde auch die Schaffung entsprechender Transportkapazitäten im »hinter« dem Grenzkopplungspunkt gelegenen Nachbarland Österreichs und damit letztlich die Verbesserung der gesamteuropäischen Infrastruktur zur Gasversorgung anregen.
Woltran zufolge würde das helfen, eine grundsätzliche energiepolitische Herausforderung zu meistern: Jeder Versorger habe Kundenverträge und Einkaufsverträge zu deren Bedeckung. Darüber hinaus einfach »auf Vorrat« Gas einzukaufen und entsprechende Transportkapazitäten zu buchen, halte auch die Bilanz großer Versorger nicht aus – zumal unter den derzeitigen Umständen extremer Preisschwankungen im Großhandel. Damit sei auch die Schaffung einer »strategischen Transportreserve« auf rein marktwirtschaftlicher Basis nicht möglich.
Anschluss gewünscht: Der Speicher Haidach soll mit dem österreichischen Leitungsnetz verbunden werden.
Anschluss für Haidach
Intensiv diskutiert wurde in den vergangenen Monaten die Anbindung des Gasspeichers Haidach im salzburgisch-oberösterreichischen Grenzgebiet an das österreichische Leitungsnetz. Laut AGGM-Vorstand Michael Woltran gibt es diesbezüglich zwei Vorhaben. Erstens arbeitet der Betreiber von Haidach, die RAG, an einer gleichsam unternehmensinternen Lösung, um Haidach über die bestehende Anbindung des Speichers Seven Fields mit dem Fernleitungssystem zu verbinden. Dies könnte eventuell noch im Laufe des heurigen Jahres erfolgen. Zweitens bestehen Überlegungen, Haidach an das Verteilernetz anzuschließen. Damit wären die in dem Speicher eingelagerten Teile der strategischen Gasreserve über das Verteilernetz zugänglich. In die diesbezüglichen Überlegungen eingebunden sind neben der AGGM die RAG und die Netz Oberösterreich sowie die Regulierungsbehörde E-Control. Und wie bei Netzausbauprojekten üblich, wäre es laut Woltran die E-Control, die den diesbezüglichen Auftrag zu erteilen hätte. Ihm zufolge würde diese Infrastruktur ausschließlich im Fall einer Notbewirtschaftung verwendet. Die Realisierung würde nach Auftragserteilung etwa zwei bis drei Jahre in Anspruch nehmen.
Bilder: Gazprom, Steve Haider