Sonntag, Juni 30, 2024
Auf der sicheren Seite
Foto: Peri

Jeder Unfall ist einer zu viel. Gerade bei Gerüstbauarbeiten haben Arbeitsunfälle oft gravierende Folgen. Dabei gäbe es einige Stellschrauben, an denen man leicht drehen könnte.


Gerüste sind auf Baustellen eine große Gefahrenquelle. Bei unseren Nachbarn in Deutschland wurde deshalb im Jahr 2019 die überarbeitete Version der Technischen Regeln für Betriebssicherheit TRBS 2121 Teil 1 »Gefährdungen von Personen durch Absturz – Bereitstellung und Benutzung von Gerüsten« veröffentlicht. Die wichtigste Änderung darin ist die Anwendung des TOP-Prinzips. Das bedeutet, technische Schutzmaßnahmen haben Vorrang vor den organisatorischen und persönlichen.

In Österreich ist man in Sachen Vorschriften noch nicht so weit. Ein Umstand, den Gerüsthersteller Peri nicht nachvollziehen kann. »Die Hersteller haben ihre Hausaufgaben längst gemacht«, betont Christian Wagner, der bei Peri Österreich den Geschäftsbereich Gerüst verantwortet. Mitwachsende Fassadengerüste, vorlaufender Seitenschutz, Montage-Sicherungsgeländer oder Fanggerüste – das Angebot der Hersteller ist vielfältig und für alle Bedürfnisse ausgerichtet. Auf heimischen Baustellen sind diese Maßnahmen aber längst noch nicht flächendeckend angekommen.

Nachschärfung der BauV erwünscht
Wagner war selbst lange Zeit bei einem Gerüstbau-Unternehmen tätig und kennt den Arbeitsalltag und die damit verbundenen Risiken genau. »In der Bauarbeiter-Schutzverordnung (BauV) ist auch die persönliche Schutzausrüstung (PSA) längst nicht in allen Situationen vorgeschrieben. Und selbst wenn, wird sie häufig nicht oder nicht richtig genutzt.« Gefahrenquellen, die man einfach vermeiden könnte, wären technische Absturzsicherungen Vorschrift, ist Wagner überzeugt.

Aber auch bei anderen Abschnitten der BauV wünscht sich der Gerüst-Experte eine Nachschärfung. Speziell der § 60 sorgt bei ihm für Kopfschütteln. Darin heißt es: »Für die Montage und Demontage von Gerüstbauteilen dürfen von unterwiesenen, erfahrenen und körperlich geeigneten Arbeitnehmern bei günstigen Witterungsverhältnissen Gerüstlagen von mindestens 40 cm Breite begangen werden, auch wenn keine Maßnahmen nach § 7 getroffen wurden.« Das bedeutet, dass unter bestimmten Voraussetzungen weder eine technische Absturzsicherung noch eine persönliche Schutzausrüstung zur Anwendung kommen muss. »Wer entscheidet, wer geeignet ist?«, fragt Wagner. Schließlich sei der Gerüstbauer in Österreich kein Lehrberuf und in der BauV die Befähigung auch nicht weiter definiert.

Hauptursache Unachtsamkeit
Für die (De) Montage als auch für die vorgeschrieben Überprüfung der Gerüste darf nur fachkundiges Personal eingesetzt werden betont Peter Neuhold, Leiter der Abt. Bau und Bergbau im Zentral-Arbeitsinspektorat. Hauptproblem seien nicht der Auf- und Abbau der Gerüste. »Eine der Hauptunfallursachen sind unvollständig aufgebaute Gerüste. Oft werden die Umwehrungsteile nicht angebracht oder der Arbeitsbereich ausreichend vom Verkehrsweg getrennt. Auch die Durchstiegsklappe wird oft übersehen und offen gelassen.«

Das Problem liege nicht in der Qualität der Gerüste oder dem fehlenden Know-how bei der Errichtung, sondern meistens im unachtsamen und unvorsichtigen Verhalten im Arbeitsalltag. »Deshalb ist eines unserer Hauptanliegen die Bewusstseinsbildung bei den Ausführenden«, betont Neuhold. Zusätzlich sei die Nachschärfung der BauV im Interesse der Arbeitnehmer*innen: »Wir sind das einzige Land, in dem man noch ohne PSA am Gerüst arbeiten darf«, so Neuhold.

Kosten als vorgeschobenes Argument
Ganz so einfach zu lösen, ist die Herausforderung rund um die Arbeitssicherheit auf Gerüsten aber nicht. Eine verpflichtende technische Absicherung würde bei vielen Gerüstbau-Unternehmen beträchtliche Investitionen verursachen, um die Gerüste auf den neuesten Stand der Technik zu bringen. »Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass Arbeitsunfälle ebenfalls finanzielle Auswirkungen auf den Arbeitgeber haben«, betont Wagner.

Ein Argument, das auch von einer Studie der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) belegt wird. Im Rahmen der Untersuchungen wurden 2020 die Auswirkungen von Arbeitsschutzprävention auf die wirtschaftliche Leistung von Bauunternehmen bewertet. Die Ergebnisse zeigen unter anderem direkte finanzielle Vorteile durch reduzierte Versicherungskosten oder die Einsparung von Ersatzarbeitskräften, Geldbußen und Gerichtsverfahren und Vertragsstrafen für verspätete Arbeitslieferungen.

»Nimmt man Arbeitsunfälle in Kauf, schadet man nicht nur seinen Mitarbeitern, sondern auch seinem eigenen Betrieb«, so der Gerüstexperte. Die 16.471 Arbeitsunfälle in der heimischen Baubranche im Jahr 2022 verursachten Gesamtkosten von über 463 Millionen Euro, das sind durchschnittlich 28.125 Euro pro Unfall.

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Grafik: Anteil des TOP-Prinzips in der Unfallvermeidung. Das TOP-Prinzip im Arbeitsschutz bezeichnet eine Hierarchie von Maßnahmen zur Gefahrenvermeidung und Gefahrenminimierung am Arbeitsplatz. Dabei steht TOP für Technisch, Organisatorisch und Persönlich. 

 


Im Gespräch: »Eine PSA ist oft nicht praktikabel«

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Peter Neuhold, Leiter der Abteilung Bau und Bergbau im Zentral-Abeitsinspektorat, über Verbesserungspotenziale beim Thema Absturzsicherung.

Wie stehen wir in Österreich in Sachen Absturzsicherung da?

Peter Neuhold: Im internationalen Vergleich schneidet Österreich recht gut ab. Länder wie Frankreich, Deutschland und die Schweiz haben strenge Vorschriften, und wir befinden uns auf einem ähnlichen Niveau. Das bestätigen auch die Unfallstatistiken.
Allerdings besteht bei uns Nachbesserungsbedarf in Bezug auf die gesetzliche Regelung der Absturzsicherungen. Während in Deutschland, Frankreich und der Schweiz ab einer Absturzhöhe von zwei Metern eine Absturzsicherung gesetzlich vorgeschrieben ist, gibt es in der österreichischen Bauarbeiter-Schutzverordnung (BauV) noch zu viele Ausnahmen.

Aber Sie sitzen im Zentral-Arbeitsinspektorat an der richtigen Stelle, um diese Ausnahmen einzudämmen.

Neuhold: Dazu gibt es Überlegungen. Jedoch ist die Anpassung an den Stand der Technik in Kombination mit der Sozialpartnerschaft nicht immer ganz einfach. Allein auf Seiten der Gewerbetreibenden gibt es verschiedene Meinungen zu diesem Thema. Bei größeren Unternehmen nimmt die Arbeitssicherheit bereits einen sehr hohen Stellenwert ein, je kleiner und ländlicher die Betriebe jedoch werden, desto größer ist das Verbesserungspotenzial.

In der BauV wird die Persönliche Schutzausrüstung (PSA) als gleichwertiges Sicherheitselement angeführt. In Nachbarländern wie Deutschland ist man davon inzwischen wieder abgerückt. Wie stehen Sie zur PSA?

Neuhold: Meiner Meinung nach wird die persönliche Schutzausrüstung fälschlicherweise als primäres Mittel verwendet. In vielen Bereichen ist eine PSA nicht wirklich praktikabel. Es gibt eine eigene PSA-Verordnung, die vorschreibt, dass Schulungen durchgeführt werden müssen und dass eine Rettung schnellstens möglich sein muss. Dies ist fast nie der Fall, insbesondere wenn sich der Verletzte in einem Schockzustand befindet und regungslos in der PSA hängt. Ich halte eine technische Absturzsicherung für weitaus sinnvoller.

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