Zwei Jahre lang hat die EU Lieferketten-Richtlinie die Gemüter erhitzt. Im Dezember wurde ein Kompromiss erzielt, zwei Abstimmungen blieben bislang aber erfolglos. Der Bau & Immobilien Report hat mit Lisa Urbas, ESG-Expertin bei PHH Rechtsanwält:innen, über die aktuellen Entwicklungen gesprochen und sie gebeten, die verhandelten Kompromisse zu analysieren.
Hitzig und lange wurde die sogenannte EU Lieferketten-Richtlinie diskutiert. Im Dezember 2023 konnten der Rat und das Europäische Parlament schließlich eine vorläufige Einigung erzielen. Doch kurz vor der geplanten Abstimmung am 9. Februar kam es zur Vollbremsung, es folgte eine Verschiebung auf unbestimmte Zeit. Als wichtigster Treiber hinter dieser Entwicklung gilt Deutschland, aber auch der österreichische Wirtschaftsminister Martin Kocher hat angekündigt, sich enthalten zu wollen. Polemisiert wurde und wird unter anderem gegen die Haftungsbestimmungen. »Es war aber nie vorgesehen, dass ein Unternehmen bedingungslos für sämtliche Fehler von Geschäftspartnern in der Lieferkette haften muss«, erklärt Lisa Urbas, ESG-Spezialistin bei PHH Rechtsanwält*innen. Es müssten insbesondere nachweislich Sorgfaltspflichten verletzt worden sein. Bereits zwei Abstimmungen sind gescheitert, hinter den Kulissen dürfte es aber rund gehen. Sollte es tatsächlich zu Nachverhandlungen kommen, wäre die Richtlinie zumindest für diese Legislaturperiode gestorben.
Die Details
Allgemeines Ziel der Richtlinie ist es, EU-weit einheitliche Standards für Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Bereich der Nachhaltigkeit zu schaffen. »Im Fokus steht dabei die Verpflichtung großer Unternehmen, Verantwortung für die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards zu übernehmen – und zwar nicht nur hinsichtlich der eigenen Geschäftstätigkeit, sondern auch mit Blick auf Tochterunternehmen und Geschäftspartner«, sagt Urbas. Für KMU gilt die Richtlinie dezidiert nicht, aber natürlich wären die Auswirkungen zumindest mittelbar spürbar. »Es ist absehbar, dass KMU, die als Lieferanten von großen Unternehmen tätig sind, künftig vertraglich zur Einhaltung von Sorgfaltsstandards verpflichtet werden«, so Urbas.
Besonders intensiv – und teils emotional – wurde in den Verhandlungen zum persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie, zu Sanktions- und Haftungsbestimmungen, zu den Sorgfaltspflichten der Unternehmensleitung sowie zu den Klimaschutzbestimmungen diskutiert. Ein Kompromiss zu diesen Themen wurde am 14. Dezember des letzten Jahres erzielt. Einige zentrale Kompromisspunkte und was davon zu halten ist, hat Lisa Urbas für den Bau & Immobilien Report analysiert (Springen zu: Lieferketten-Richtlinie).
Was ein Scheitern bedeuten würde
Ein Scheitern der Richtlinie wäre zum jetzigen Zeitpunkt aus mehreren Gesichtspunkten problematisch. »Viele Unternehmen haben bereits erheblichen Aufwand getätigt, um sich auf die Umsetzung der zu erwartenden Sorgfaltspflichten vorzubereiten«, ist Urbas überzeugt. Es sei im Sinne aller Unternehmen, Klarheit darüber zu erlangen, welche Regeln für sie ab wann gelten sollen.
»Viele Unternehmen haben sich bereits mit großem Aufwand auf die Richtlinie vorbereitet«, kritisiert Lisa Urbas, PHH Rechtsanwält:innen, die Verschiebung der Abstimmung über die Richtlinie. (Foto: PHH)
Auch für international agierende Unternehmen ist die Verschiebung der Abstimmung keine gute Nachricht. Sie sehen sich weiterhin mit regional unterschiedlichen Vorgaben und damit einem Splitterwerk an unterschiedlichen Sorgfaltsmaßstäben konfrontiert. Allen voran zu nennen sind hier das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, welches mit 1. Jänner 2023 in Kraft getreten ist, sowie das französische Loi relative au devoir de vigilance. Nicht zu missachten sind auch diverse weitere nationalstaatliche Gesetzesinitiativen, die in den einzelnen Mitgliedstaaten in unterschiedlichem Reifegrad vorliegen. Die Richtlinie hätte eine Harmonisierung in die schwierige Gemengelage und mehr Rechtssicherheit bringen sollen.
»Eine langfristige Verzögerung oder überhaupt Verhinderung der Schaffung einer EU-weiten Regelung von nachhaltigkeitsbezogenen Sorgfaltspflichten würde einem facettenreichen Konglomerat nationalstaatlicher Gesetze den Boden bereiten«, kritisiert Urbas, die auch wirtschaftliche Vorteile in der Richtlinie sieht. Mit der Darstellung und Evaluierung der eigenen Geschäftsbeziehungen und der Bewusstwerdung gegebener Risiken könne letztlich eine Stabilisierung von Lieferketten und eine gesteigerte Resilienz von Unternehmen einhergehen. Ihr Fazit: » Ein Scheitern der Lieferketten-Richtlinie könnte sich durchaus als vertane Chance für die europäische Wirtschaft entpuppen.«
Lieferketten-Richtlinie: Die Kompromisse und ihre Auswirkungen
1. Konfliktpunkt: Anwendungsbereich
Erzielte Einigung: Die Sorgfaltspflichten gelten für »große Unternehmen«. Umfasst sind EU-Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten und einem weltweiten Nettoumsatz von über 150 Millionen Euro. Unternehmen aus Drittstaaten sind einbezogen, wenn sie in der EU einen Nettoumsatz von über 150 Millionen Euro erwirtschaften. Über die betroffenen Drittstaatsunternehmen wird eine Liste geführt, die von der Kommission zu veröffentlichen ist. Für Unternehmen aus bestimmten Risikosektoren (z. B. Textilwirtschaft, Landwirtschaft und nunmehr auch Bauwesen) werden die Schwellenwerte voraussichtlich herabgesetzt. Diese Unternehmen fallen damit bereits in den Anwendungsbereich, wenn sie mehr als 250 Beschäftigte und einen Umsatz von mehr als 40 Millionen Euro haben, sofern ein gewisser Mindestumsatz im jeweiligen Risikosektor erwirtschaftet wurde. Der Finanzsektor wird vom Anwendungsbereich der Richtlinie vorerst ausgenommen.
Kommentar PHH: Mit der Forderung niedrigerer Schwellenwerte unabhängig von gewissen Risikofaktoren konnte sich das EU-Parlament letztlich nicht durchsetzen. Stark umkämpft war die Frage, ob und inwieweit die Finanzbranche in den Kreis der Verpflichteten einbezogen werden soll. Der letztlich erzielte Kompromiss spart diesen Sektor vorerst aus (eine spätere Überprüfung dieser Ausnahme soll bereits jetzt vorgesehen werden). Im Gegenzug soll nun aber dem Vernehmen nach die Baubranche als Risikosektor, für den geringere Schwellenwerte gelten, aufgenommen werden.
Gar nie in Frage stand, dass KMU nicht direkte Normadressaten der Lieferketten-Richtlinie sind. Nichtsdestotrotz bleiben auch KMU nicht unberührt von den neuen Pflichten: Große Unternehmen haben im Rahmen ihrer Sorgfaltspflichten auch nachteilige Auswirkungen auf Umwelt und Menschenrechte zu beachten, die sich im Zusammenhang mit den Tätigkeiten ihrer Geschäftspartner tatsächlich oder auch nur potenziell ergeben. Insbesondere über vertragliche Kaskadierungen und die Bindung an Verhaltenskodizes wird so in der Praxis auch KMU eine gewisse Eingliederung in das Regime der neuen Sorgfaltspflichten nicht gänzlich erspart bleiben.
2. Konfliktpunkt: Schutzbereich der Sorgfaltspflichten
Erzielte Einigung: Zentraler Kern der Richtlinie ist die Verpflichtung von Unternehmen, tatsächliche sowie potenzielle negative Auswirkungen auf die Umwelt und die Menschenrechte zu ermitteln, zu vermeiden, abzuschwächen und zu beheben bzw. ihr Ausmaß zu minimieren. Diese Sorgfaltspflichten erstrecken sich auch auf Tätigkeiten von Tochterunternehmen und Geschäftspartnern in der Aktivitätskette.
Der Richtlinienentwurf verweist zur Definition von »nachteiligen Auswirkungen auf die Menschenrechte« und »nachteiligen Auswirkungen auf die Umwelt« jeweils auf bestimmte im Anhang aufgelistete Pflichten und Verbote. Nach dem im Dezember gefundenen Kompromiss wird die Liste im Hinblick auf »nachteilige Auswirkungen auf die Menschenrechte« konkretisiert und ergänzt. Auch die spätere Ergänzung durch delegierte Rechtsakte wird durch Aufnahme einer Öffnungsklausel ermöglicht. Im Hinblick auf die Bestimmung der »nachteiligen Auswirkungen auf die Umwelt« wurde nunmehr insofern eine Konkretisierung vorgenommen, als es sich um messbare Umweltschädigungen wie schädliche Bodenveränderungen, Wasser- oder Luftverschmutzung, schädliche Emissionen, übermäßigen Wasserverbrauch oder andere Auswirkungen auf natürliche Ressourcen handeln muss.
Kommentar PHH: Unternehmen müssen nicht nur direkte Geschäftspartner in ihre Sorgfaltspflichten einbeziehen. Umfasst sind vielmehr auch weiter vorgelagerte Geschäftspartner. Das würde etwa nicht nur den eigenen Lieferanten eines konkreten Produkts einbeziehen, sondern auch die Produzenten der für das jeweilige Produkt verwendeten Rohstoffe und Einzelteile. Aber auch die Tätigkeiten bestimmter nachgelagerter Geschäftspartner, etwa in den Bereichen Vertrieb oder Recycling, sind im Rahmen der Sorgfaltspflichten von Unternehmen zu berücksichtigen.
Die Aktivitätsketten von Unternehmen sind in aller Regel sehr vielfältig und komplex. Es wird unumgänglich für Unternehmen sein, ihre mittelbaren und unmittelbaren Geschäftsbeziehungen zu überblicken, um Risiken überhaupt ermitteln zu können. Hierfür sind die notwendigen unternehmensinternen Strukturen zu schaffen und allenfalls notwendige externe Hilfestellungen in Anspruch zu nehmen (sei es durch konkrete Softwaretools, Handreichungen von Interessenvertretungen und anderen Einrichtungen oder Beiziehung professioneller Berater). Auch ein funktionierender Austausch mit diversen Stakeholdern wird ganz maßgeblich sein, um den Sorgfaltspflichten letztlich gerecht werden zu können. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch das laut der Richtlinie von Unternehmen einzurichtende Beschwerdeverfahren.
3. Konfliktpunkt: Haftung
Erzielte Einigung: Personen, die von negativen Auswirkungen auf die Umwelt oder die Menschenrechte betroffen sind, können dagegen innerhalb von fünf Jahren zivilrechtlich vorgehen und eine Haftung des zur Sorgfalt verpflichteten Unternehmens beanspruchen. Dasselbe gilt für Gewerkschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft. Eine Einigung wurde in diesem Zusammenhang auch hinsichtlich der Grenzen für die Offenlegung von Beweismitteln, Unterlassungsmaßnahmen und Verfahrenskosten für Klägerinnen und Kläger erzielt.
Kommentar PHH: Zur konkreten Ausgestaltung und zum Umfang der zivilrechtlichen Haftung wurden von Kommission, Rat und Parlament unterschiedliche Varianten ins Treffen geführt. Wie genau die Haftung letztlich in der Richtlinie geregelt sein wird, ist aus den vorhandenen Informationen aktuell noch nicht ablesbar.
4. Konfliktpunkt: Sanktionen
Erzielte Einigung: Die Richtlinie sieht verschiedene Sanktionen vor, die im Fall eines Verstoßes von der Aufsichtsbehörde verhängt werden können. Dazu gehören auch Geldstrafen, die sich am erzielten Umsatz des jeweiligen Unternehmens orientieren und bis zu fünf Prozent des weltweiten Nettoumsatzes betragen können. Explizit vorgesehen ist auch die Möglichkeit, die Vergabe öffentlicher Aufträge und Konzessionen an die Einhaltung der Lieferketten-Richtlinie zu knüpfen. Letztlich hat auch dieses Mittel gewissermaßen Sanktionscharakter.
Kommentar PHH: Die Sanktionen werden so ausgestaltet, dass sie für Unternehmen ein durchaus empfindliches Ausmaß annehmen können. Da KMU nicht vom persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie erfasst sind, sind sie den genannten Sanktionen nicht unterworfen. Auch KMU können aber insofern faktisch »sanktioniert« werden, als große Unternehmen die Geschäftsbeziehung zu ihnen beenden müssen, wenn sie nachteilige Auswirkungen auf Umwelt oder Menschenrechte ermitteln und keinen anderen Weg finden, Abhilfe zu schaffen. Die Beendigung der Geschäftsbeziehung ist allerdings Ultima Ratio.