Sonntag, Dezember 22, 2024

Auf dem Confare CIO Summit hielt Ursula Soritsch-Renier, Chief Digital and Information Officer Saint-Gobain, einen viel beachteten Vortrag über die »Digitalisierung der Bauindustrie«. Mit dem Bau & Immobilien Report sprach sie im Vorfeld der Veranstaltung über die Digitalisierungsstrategie von Saint-Gobain, die Abkehr von der Massenproduktion und die großen Digitalisierungssprünge der Vergangenheit und Zukunft. Außerdem erklärt sie, mit welchen neuen Technologien die Montage auf Baustellen so einfach wie der Aufbau eines Ikea-Regals werden soll. 


Sie haben in Ihrer bisherigen Karriere für so unterschiedliche Unternehmen wie Novartis, Philips und jetzt Saint-Gobain gearbeitet. Inwieweit macht es einen Unterschied, in welcher Branche man tätig ist, wenn man für die Digitalisierungsagenden zuständig ist?

Ursula Soritsch-Renier: Das macht einen großen Unterschied. Jede Firma, jede Branche hat ihren eigenen Reifungsgrad. Und es geht immer darum, seine Stärken zu verbessern und die Schwächen nicht zu exponieren. Gerade in der IT und Digitalisierung steht die Wertschöpfungskette im Fokus. Und die ist in der Baubranche ganz speziell. Es gibt unglaublich viele Stakeholder, die involviert sind, die völlig unterschiedlich sind. In Indien agiert man anders als in der Schweiz oder den USA. Diese Wertschöpfungskette als einer der großen Materialhersteller beeinflussen zu können, ist eine extrem spannende Sache. 

Welche konkreten Möglichkeiten sehen Sie da?

Soritsch-Renier: Die Bauindustrie hat in den letzten Jahren nicht den Fortschritt gemacht, den wir gerne gehabt hätten. Aber das ändert sich jetzt signifikant. Die Start-up-Szene im Baubereich boomt. Da gibt es exponentielle Wachstumsraten. Während man in anderen, höher digitalisierten Branchen vielleicht mehr am Feintuning arbeitet, kann man in der Baubranche noch echte Sprünge machen.

Durch Metathemen wie Nachhaltigkeit bekommt etwa die energieeffiziente und ressourcenschonenden Herstellung unserer Produkte einen ganz neuen Stellenwert. Da haben wir in unserem Konzern natürlich jede Menge Experten, aber mit Digitalisierung und IT, mit Datenanalyse und Algorithmen kann man noch viel mehr rausholen.    

Sie haben es schon angesprochen. Bei der Digitalisierung sind im Baubereich noch große Sprünge möglich. Wenn wir einen Blick zurück werfen: Was waren aus Ihrer Sicht die größten Sprünge in den letzten Jahren in der Digitalisierung, wo gab es die größten Fortschritte?

Soritsch-Renier: Da gibt es für mich drei Bereiche. Zum einen die Kundeninteraktion. In den nordischen Ländern kommen 30 Prozent des Umsatzes aus dem E-Commerce. 

Warum nur in den nordischen Ländern?

Soritsch-Renier: Die sind in ihrem Denken und ihrem Zugang einfach weiter als die restliche westliche Welt. Das braucht auch ein Umdenken. Gerade im Baubereich ist E-Commerce kein triviales Thema. In China sind wir bei 100 Prozent, weil unsere Verkaufs-Agents genauso damit arbeiten wie die Kunden. 

Wie sieht es im DACH-Raum aus? Sind hier zumindest die 30 Prozent der nordischen Länder das Ziel?

Soritsch-Renier: Es geht mir nicht um Zahlen, es geht mir um eine Omni-Channel-Strategie. Es geht um Geschwindigkeit, um Service und um Qualität. Wir wollen die Bauindustrie in der gesamten Wertschöpfungskette optimal unterstützen. Das gelingt von Region zu Region unterschiedlich, weil die Märkte andere sind, die Strukturen der Kunden und auch die Regularien. Man kann nicht eine Lösung und ein Ziel über alle Märkte stülpen.  

Wo gab es neben der Kundeninteraktion weitere große Fortschritte?

Soritsch-Renier: Natürlich in der Produktion. Da ist schon viel passiert in Richtung industrielle IT, dennoch stehen wir noch ganz am Anfang. Wenn wir die Expertise der Menschen mit Daten unterstützen, kann man noch mindestens fünf bis zehn Prozent mehr rausholen. Der dritte Bereich ist die Organisation. Wir sind sehr gut durch die Coronakrise gekommen, weil wir dezentral aufgestellt sind und die Länder ihre eigenen Entscheidungen treffen konnten.

Mittels IT und Digitalisierung können hier aber enorme Synergien erzielt werden. Wenn ich in einer Fabrik einen guten Energie-Algorithmus habe, dann will ich den in jeder Fabrik haben. Jede Firma hat Ideen, eine Firma wird dann erfolgreich, wenn man die guten Ideen auch umsetzt und in den Markt bekommt. 

»Während man in anderen, höher digitalisierten Branchen vielleicht mehr am Feintuning arbeitet, kann man in der Baubranche noch echte Sprünge machen«, sagt Ursula Soritsch-Renier.

Gegen neue, revolutionäre Ideen gibt es immer auch Widerstand. Wie erleben Sie diese Transformation bei Saint-Gobain?

Soritsch-Renier: Ich bin vor zwei Jahren von außen zum Unternehmen gekommen, einem Unternehmen, das 358 alt ist. So alt wird man nur, wenn man sich einen Hauch Bescheidenheit erhält, nicht alles zu wissen. Die Einstellung des Topmanagements, dass man gut ist, aber überall besser werden kann, hat mich wirklich fasziniert. Natürlich ist Change Management schwierig, gerade bei einem Unternehmen wie dem unseren. Da geht es nicht nur um interne Veränderung, sondern wir müssen auch den kleinen Handwerker mitnehmen. 

Sie gehen davon aus, dass die Digitalisierung die Bauwirtschaft völlig neu gestalten wird. Oftmals finden angekündigte Revolutionen aber nicht statt. An welche Technologien denken Sie konkret?

Soritsch-Renier: Nur weil etwas noch nicht ist, heißt es nicht, dass es nicht sein wird. Denken Sie an Mobiltelefone. Die ersten gab es in den 70er-Jahren, aber bis es zu einem Massenmarkt wurde, hat es gedauert.

Aber als Apple das iPhone herausgebracht hat, hat es keine zwei Jahre gedauert, bis klassische Handys vom Markt verschwunden sind. Eine Technologie wie BIM, der ähnlich disruptives Potenzial zugetraut wird, hat das nicht geschafft…

Soritsch-Renier: Das ist aber nicht überall der Fall. In den Niederlanden und auch in anderen Ländern wird kein öffentliches Gebäude mehr ohne BIM gebaut.

Also ist die Politik gefragt?

Soritsch-Renier: Gerade im Baubereich braucht es wechselseitige Anstrengungen. BIM bietet auch viele Vorteile, die sowohl von Architekten- als auch Kundenseite gesehen werden, gerade im Bereich der Nachhaltigkeit. Da kommt es durch den Klimawandel zu einem Umdenken, nicht nur wie ein Objekt gebaut wird, sondern auch, wie es genutzt wird.

Und natürlich geht es um Komfort, dazu zählen die Temperatur ebenso wie die Akustik. Wir haben in Holland ein Referenz-Handbuch für Schulumbauten herausgebracht. Wir haben nachgewiesen, dass bei diesen umgebauten Schulen die Noten um ein halbes Grad besser waren und es weniger Krankenstandstage aufgrund der geringeren Geräuschkulisse gab. Das setzt sich durch. Wenn etwas sinnvoll ist, brauche ich nicht unbedingt ein Vorgabe.

Aber auch in anderen Bereichen kann die Digitalisierung viel leisten. Denken Sie nur an die zahlreichen anstehenden Sanierungen, um Gebäude zukunftsfit zu machen. In den Emerging Markets hingegen wird noch unglaublich viel Neues gebaut. Da geht es darum, nachhaltig zu bauen. Da kommen Unternehmen wie wir ins Spiel. Je mehr wir produzieren, desto mehr Haushalte können Energie sparen. In diesem Bereich gehen wir auch immer weiter weg von der Massenproduktion, hin zu, wir nennen es make-to-order.

Früher haben wir Platten auf die Baustelle geschickt, die vor Ort zugeschnitten wurden. Da ist wahnsinnig viel weggeschmissen worden, also Zeit, Material und Energie verschwendet worden. Mit dieser neuen Methode und 3D-Design schicken wir exakt das auf die Baustelle, was in welcher Reihenfolge benötigt wird. Der Verarbeiter kann also immer die oberste Platte nehmen und weiter arbeiten. Damit haben wir nicht nur 30 Prozent weniger Abfall, wir sind auch doppelt so schnell. Auch dafür braucht es Anfangs Überzeugungsarbeit, aber wer das einmal gemacht hat, kommt wieder.

In Kanada arbeiten wir gemeinsam mit einem Start-up an einer Augmented-Reality-Lösung für die Baustelle, wo exakt angezeigt wird, was wo hingehört. Das ist dann wie bei Ikea (lacht). Damit kann man wesentlich schneller und auch mit unqualifizierten Leuten Qualität bauen.  




Welcher neuen Technologie trauen Sie das größte disruptive Potenzial zu? Was könnte ein echter Gamechanger werden?

Soritsch-Renier: Die Antwort ist nicht sexy, aber der größte Gamechanger werden Daten sein. Wenn man die richtigen Fragen stellt, richtig korreliert und verbindet, kann Großes entstehen. Wir haben in der Vergangenheit über Supply-Chain-Optimierung geredet, über Optimierungen der Finanzservices, der Produktion oder des Marketings. Aber zwischen diesen einzelnen Bereichen gibt es Prozessbrüche. Aber wenn diese Integration gelingt, wird es »beautiful«.

Daten wurden in der Baubranche schon immer gesammelt, auch im späteren Betrieb. Das Schwierige ist es ja, aus diesen Daten echte Informationen zu gewinnen und einen Datenfriedhof zu vermeiden. Wie gelingt das?

Soritsch-Renier: Das ist die große Kunst. Wir brauchen Leute, die die richtigen Fragen stellen. Den Anfang macht die Data-Governance. Wir müssen verstehen, wie wir miteinander sprechen. Und jede Form der Digitalisierung läuft über Standardisierung. Es kann nicht jede Applikation und Funktionalität neu entwickelt werden. Das kann man standardisieren.

Wir haben in den letzten zwei Jahren eine Datenplattform entwickelt, in der alle Technologien zusammengeführt werden. Das hat anfänglich viel Zeit und Geld gekostet, aber jetzt kann ich es duplizieren und niemand muss mehr über die Basis nachdenken. Das erhöht die Qualität und senkt die Kosten. Wir haben ein KI-Labor, in dem unsere Data Scientists gegenseitig auf ihre Arbeiten und Source Codes zugreifen und Abläufe beschleunigen können.

Wie wird aus Ihrer Sicht die Baustelle im Jahr 2030 aussehen?

Soritsch-Renier: Das hängt vom Land ab. Aber generell wird Bauen auf Basis von Informationen stattfinden und einzelne Prozesse, die früher sehr umständlich waren, werden deutlich einfacher werden. Etwa die aufwendige Montage von Akustikdecken. Gemeinsam mit einem Start-up arbeiten wir an einer Lösung, die auf zwei bis vier Millimeter Genauigkeit projizieren kann, wo die Platte montiert werden muss. Das spart signifikant Zeit und Geld.

Bauen wird also schneller und besser werden. Nachhaltigkeit und Komfort werden immer besser zusammenfinden. Ein Beispiel: Wir haben in Paris einen Turm in Leichtbauweise errichtet. Das bedeutet weniger Material, weniger Energie in der Produktion und mehr Nachhaltigkeit. Auch Recycling und vor allem Re-Use werden in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Da muss die Branche aber richtig clever sein.

(Bilder: Saint-Gobain)

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