Im Interview mit dem Bau & Immobilien Report spricht Christoph Boschan, CEO der Wiener Börse, über den aktuellen Stellenwert und die historische Bedeutung der Bau- und Immobilienwirtschaft für die Wiener Börse und das Potenzial der Branche. Außerdem erklärt er, worauf Anleger*innen in der derzeitigen Boomphase achten sollten.
Report: Im Prime Market der Börse Wien sind mit Strabag, Porr, UBM, CA Immo, Palfinger, S Immo, Immofinanz, Warimpex und Wienerberger neun Unternehmen aus der Bau- und Immobilienbranche gelistet. Welchen Stellenwert hat die Branche für den Kapitalmarkt und die Börse Wien?
Christoph Boschan: Dieser vergleichbar stark gewichtete Anteil zeigt, dass die Bau- und Immobilienbranche die Vorteile des Kapitalmarkts und der Wiener Börse nicht nur erkannt, sondern auch für sich zu nutzen gewusst hat. Oft fällt in diesem Zusammenhang die Konjunkturabhängigkeit der Branche als Einflussfaktor auf den Gesamtmarkt als Argument. Zykliker können sich so mal vorteilhalft, mal nachteilig auswirken. Langfristige Anlegerinnen und Anlegern sehen das neutral und legen Wert auf die Langzeitperformance.
Report: Die ältesten Titel an der Wiener Börse sind mit Porr und Wienerberger zwei Unternehmen aus der Baubranche, Zufall oder ist es nur logisch, dass eine als traditionell und oft auch behäbig bezeichnete Branche diese Lorbeeren einsackt?
Boschan: Kurz nach Gründung der »Allgemeinen Österreichische Baugesellschaft« im Jahr 1869, konnten Investoren die Aktie der heutigen PORR AG erstmals an der Wiener Börse handeln. Nur eine Woche später kam mit Wienerberger AG ein weiteres heimisches Vorzeigeunternehmen an die Börse. Dass Anlegerinnen und Anleger seit über 150 Jahren auf diese beiden Unternehmen bauen können, ist beachtlich, bedeutet aber keineswegs, dass hier der Sprung zu hochmodernen Konzernen noch ausständig wäre. Ganz im Gegenteil: Unternehmen die langfristig orientiert sind, gehen automatisch mit der Zeit. Die Börsennotierung erfordert auch eine Orientierung an Strukturen, die das langfristige Unternehmenswachstum fördern.
Report: Gibt es aus Ihrer Sicht – auch in der historischen Betrachtung – branchenspezifische Besonderheiten. Ist die Branche hinsichtlich der Kursentwicklung eher Herdentier oder Ausreißer?
Boschan: Nun wie schon gesagt ist die Branche häufig ein Lehrbuchbeispiel für Zykliker. Ich bin der Überzeugung, dass langfristig keine Branche allein eine Überperformance bringt. Nur durch eine breite Streuung können Volatilitäten in den Kursentwicklungen im Portfolio abgefedert werden. Ganz nach dem Motto: »The market is the great arbiter«.
Report: Die Bau- und Immobilienwirtschaft ist bislang besser durch die Krise gekommen als viele andere Branchen. Spiegelt sich diese realwirtschaftliche Entwicklung auch an der Börse wider?
Boschan: Grundsätzlich gilt, dass Börsenkurse einen Mix aus zukünftigen Einschätzungen und aktuellen Unternehmenszahlen spiegeln. Die konkrete Entwicklung hängt auch mit der professionellen Aufstellung der heimischen börsennotierten Unternehmen aus der Bau- und Immobilienbranche zusammen. Nach Einbrüchen im Zuge der ersten Covid-Lockdowns 2020, profitierte ein Großteil der am Wiener Markt notierten Unternehmen vom internationalen Wirtschaftsaufschwung.
Report: Sehen Sie Potenzial für weitere Börsegänge aus der Bau- und Immobilienwirtschaft? An wen denken Sie?
Boschan: Potenzial sehen wir natürlich und die heimische Unternehmerlandschaft hat sicherlich in allen möglichen Bereichen viel davon. Konkrete Namen zu nennen wäre eine Indiskretion. Allgemein kann ich sagen, dass ich zuversichtlich bin, dass auch weiterhin Unternehmen aus diversen Branchen die Vorzüge eines Listings für sich erkennen werden. Die Transformation in die klimaneutrale Zukunft werden jene Länder schneller und besser meistern, die sich den Kapitalmarkt stärker zu Nutze machen.
Report: Wer nach dem Ausbruch der Coronakrise in den Kapitalmarkt investiert hat, konnte gutes Geld verdienen. Nach dem brutalen Absturz im März 2020 folgte eine wahre Kursexplosion. Was spricht dafür, weiter im Kapitalmarkt investiert zu bleiben, die Kursrallye muss ja auch mal ein Ende haben?
Boschan: Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Investieren ist ein Marathon und kein Sprint. Wirklich belohnt werden nur diejenigen Anlegerinnen und Anleger, die langen Atem beweisen und mit langfristigem Planungshorizont veranlagen. Denn nur so können Sie sich den von Ihnen angesprochenen kurzfristigen, jährlichen Schwankungen an den Börsen entziehen.
Aktien sind eine Investition in reale Werte und bieten neben der Chance auf Kursgewinne auch die Chance auf Dividendenerträge. Wirft man einen Blick auf den ATX Total Return, der österreichische Leitindex, der auch die Dividenden miteinbezieht, zeigt sich seit Berechnungsstart bis November 2021 eine Performance von rund 670 %.
Report: Wie würden Sie das Börsejahr 2021 bislang einordnen? Was ist besonders aufgefallen?
Boschan: Wenn wir gleich beim ATX bleiben wollen, so ist seine außergewöhnliche Jahresperformance aufgefallen. So konnte er im Jahresverlauf bis November rund 40 % zulegen und inklusive Dividenden wiederholt sein Allzeithoch knacken. Im Vergleich zu anderen entwickelten Märkten liegt er damit an der Spitze und profitierte in diesem Jahr also stark vom Aufschwung.
Mit über 6000 neuen Anleihenlistings ist Wien nun unter den Top 3 der größten Anleihen-Listing-Plätze in Europa. Bei den Aktienlistings wird das Einstiegssegment sehr gut angenommen. In diesem Jahr blickten wir auf die meisten Neulistings seit Gründung des direct market und direct market plus.
Report: Die Börse Wien feiert heuer ihren 250. Geburtstag. Was waren aus Ihrer Sicht die wichtigsten Meilensteine?
Boschan: 1818 erfolgte mit der Oesterreichischen Nationalbank die erste Aktiennotiz. Wie schon besprochen zählen die PORR AG und die Wienerberger AG zu den am längsten notierten Titeln. Nach langen Jahren des persönlichen Parketthandels hat sich die Börsenwelt stets als Avantgarde der Digitalisierung verstanden. Seit 30 Jahren wird der Leitindex ATX berechnet und seit 1999 findet der Handel ausschließlich elektronisch statt.
Heute kennzeichnet die Wiener Börse eine hohe Internationalität, fast 85 % aller Handelsumsätze stammen von internationalen Handelsmitgliedern. Außerdem weisen wir ein starkes Osteuropanetzwerk auf. Die lange und bewegte Geschichte zeigt, dass die Entwicklung der Börse – vermutlich genauso wie die Entwicklung der Bau- und Immobilienbranche – nie stillsteht.