Heizung versus Kühlung und umgekehrt – so funktioniert ein Anergienetz. In der Schweiz und in Dänemark hat sich dieser Kreislauf im Neubau bereits durchgesetzt. Österreich befindet sich noch in den Startlöchern.
Sekundäre Energiequellen, die nicht unmittelbar zur Energiegewinnung genutzt werden können, wie Abwärme aus Industrieprozessen, Klimaanlagen, Agrothermie, geklärtem Abwasser und z. B. Rechenzentren, gibt es zur Genüge. Verwendet wird diese Kraft von den sogenannten Anergienetzen. Pionier in der Umsetzung dieser Niedertemperaturnetze (unter 10 bis 30 °C) ist die Schweiz, wo 2013 das erste Netz in Betrieb genommen wurde. Auch in Deutschland wird an Anergie-Projekten gearbeitet. In Österreich ist Niedertemperatur im Rahmen der Energieforschung zwar seit Jahren Thema, befindet sich in der Umsetzung aber noch in den Kinderschuhen. Einige Pilotprojekte gibt es aber bereits, so z. B. das Viertel Zwei in der Leopoldstadt und der SMART Block Geblergasse, beide in Wien, und das Forschungsprojekt SANBA in Baden. »In den letzten Monaten ist ein deutlicher Hype spürbar«, berichtet Gerhard Bayer von der ÖGUT. Ein starkes Wachstum erwartet auch Anergie-Experte Benedikt Leitner vom AIT Center for Energy.
Anergie für Wohnkomfort
»Gerade für den Wohnbau sind Anergienetze sehr interessant, weil Neubauten keine Hochtemperatur-Radiatoren erfordern«, sagt Edith Haslinger, AIT, und bezieht sich auf die bestehende Wärmeverteilung, die meist auf Vorlauftemperaturen von rund 60 Grad beruht. Vor allem bei Passiv- und Niedrigenergiehäusern seien Vorlauftemperaturen von 30 Grad ausreichend. Hier bietet Anergie die Lösung, ebenso wie für eine moderate Kühlung, die einen zunehmend wichtigen Punkt für alle Wohnbauträger darstellt.
Die Umsetzung im Gebäudebestand sei herausfordernd, verweist Gregor Götzl, Projektleiter der Geologischen Bundesanstalt, auf die komplexere organisatorische Realisierung. Mehrere Eigentümer sind betroffen und Grundstücksgrenzen werden überschritten. Theresia Vogel, Geschäftsführerin des Klima- und Energiefonds weist auf die bestehenden 2.400 Nah- und Fernwärmenetze in Österreich mit ihren unterschiedlichen Strukturen hin. Im Neubau sei es dagegen eine Grundsatzkonzeption, hier könne von Anfang an anders gestaltet werden. Dass Anergie im Bestand doch funktioniert, beweist die Studie Anergie Urban der ÖGUT.
»Eine großflächige Wärmeversorgung mit Anergienetzen ist möglich und leistbar«, fasst Projektleiter Gerhard Bayer zusammen. Voraussetzung sei eine erfolgte Sanierung des Gebäudebestands und in Folge die starke Reduktion des Heizenergiebedarfs. Der Ablösung fossiler Heizsysteme stehe damit nichts im Weg. »Ein flächendeckendes Anergiesystem ist aber nicht realistisch«, schränkt Theresia Vogel ein. Ihrer Meinung nach wird man bestimmte Zonen und Quartiere in den urbanen Bereichen heraussuchen und dort starten, wo es ausreichend Abnehmer für Wärme und Kühlung gibt bzw. dort, wo ohnehin Sanierungen im größeren Stil anstehen oder das bestehende Netz erweitert wird. Einen deutlichen Schub für Anergie erwartet sie durch die Sektorkopplung.
Nicht neu
Vor ein, zwei Jahren hat es in Österreich laut Gerhard Bayer noch wenig Motivation für eine Änderung der Wärmeversorgung gegeben. Mittlerweile spricht sich aber herum, dass laut Regierungsprogramm bis 2040 kein Erdgas mehr verwendet werden darf. Die Stadt Wien hat bereits mit der Ausweisung von Klimaschutzgebieten begonnen, in denen bei Neubauten keine Erdgasheizungen mehr eingebaut werden dürfen. Die Nutzung lokaler Wärmequellen nimmt dadurch permanent zu, ebenso der Wille zur Einbindung von Abwärme und Solarthermie. »Für viele ist das Anergienetz neu, technisch ist es kaum komplizierter als andere Systeme«, informiert Bayer. Das Gebäude muss über ein zentrales Wärmeleitungssystem verfügen anstatt einzelner Gasthermen. Wasserrohre im Durchmesser von 15 bis 20 cm verbinden die Häuser eines Quartiers, die erforderliche Wassermenge wird vom einzelnen Gebäude entnommen, mit Wärmepumpen auf das erforderliche Temperaturniveau gebracht und genutzt.
Ein Vorteil von Anergienetzen ist auch, dass im Sommer die Häuser mit der Kühle der Erde nahezu ohne Energieaufwand gekühlt werden können. »Wärmepumpen und Erdsonden sind eine seit den 80er-Jahren etablierte Technologie«, so Bayer. Dazu verweist Götzl auf 90.000 Erdwärmepumpen in Österreich, davon mindestens 50.000 Erdwärmesonden. Auch die Vernetzung sei nicht ganz neu. Maßnahmen müssen weiters in den Wohneinheiten getroffen werden, z. B. bei den Heizkörpern. Diese sollten mit niederen Vorlauftemperaturen bis zu 50 Grad Celsius betrieben werden. Als Speicher werden Erdsondenspeicher eingesetzt, Gebäude selbst eignen sich auch als Wärmespeicher. Zum Ausgleich der Lastspitzen wird oft ein Tages-Pufferspeicher mit Warmwasser verwendet.
Vorteile von Anergie
Ein gemeinsames Netz für Wärme und Kälte, weniger Energieverluste, viele verteilte Wärmeeinspeiser sind möglich – das sind nur einige Vorteile der Anergienetze. Die Nutzung für Wärme und Kühlung ergibt eine bessere Leitungsführung. »Jetzt gehe ich außerdem mit hohen Temperaturen hinein, aufgrund der kühleren Umgebung ergeben sich trotz thermischer Isolierung hohe Verluste. Wenn die Temperatur jener der Umgebung entspricht, entfällt das und es ergibt sich ein deutlicher Einsparungsbereich auf der gesamten Streckenführung«, informiert Theresia Vogel. Eine weitere Optimierung des Energieverbrauchs ergibt sich für Gregor Götzl durch ein Änderungsverhalten im Konsum. Er verweist auf das Erfolgsbeispiel des Familiengenossenschaftszentrums in Zürich, wo die Tätigkeit als Prosumer und die kostenfreie Nutzung der Kühlung zu einem Umdenken im Wärmeverbrauch geführt haben.
Fehlende Förderung
Während Deutschland mit der Wärmenetz 4.0-Förderung dezidiert Anergienetze unterstützt, werden in Österreich derzeit ausschließlich Einzelkomponenten wie Wärmepumpen, Erdsonden und Solarthermie-Anlagen gefördert. »Im Erneuerbaren Ausbaugesetz wird der Bereich Wärme ausgerollt«, erwartet Edith Haslinger eine baldige Verbesserung. Förderungen seien derzeit vielfach landesabhängig. Die hohen Anfangs-Investitionen werden laut ÖGUT durch niedrige Betriebskosten wettgemacht. Das System amortisiert sich nach 20 Jahren im Vergleich zu Gas, die Lebensdauer der Sonden liegt bei mindestens 70 Jahren.
Aktuelle Anergie-Forschungsprojekte:
»Derzeit besteht viel Bewegung in der Anergie-Forschung«, weiß Edith Haslinger, Projektleiterin SANBA beim AIT, und nennt einige Forschungsprojekte:
- SANBA / NEFI (Anergienetz für Martinek-Kaserne in Baden)
- T2lowEx / AIT (Optimierung in bestehenden Wärme-Kältenetzen durch gebäudeseitige Maßnahmen wie Reduktion Vorlauf- wie Rücklauftemperatur)
- Flex+ (Erhöhung der Flexibilität von fernsteuerbaren Prosumer-Komponenten wie Wärmepumpen und Boiler)
- TEMPO (technologische Innovationen auf der Netz- und Gebäudeseite, Einbeziehung der Kunden durch digitale Lösungen)
- DIM4Energy (Einsatz digitaler Informationsmodelle für die integrierte Planung und den optimierten Betrieb von Plus-Energie-Quartieren)
- Flexi-Sync (Optimierung der Flexibilität der bestehenden Infrastruktur im Bereich Fernwärme und -kälte)