Freitag, Juli 19, 2024

2012 wurden einige Schlachten um das Internet geschlagen – mit überraschenden Ergebnissen. Dass Ruhe in die Netzpolitik einkehrt, ist dennoch unwahrscheinlich.

 

Die weltweite Vernetzung ist eine technische Innovation wie keine andere in der Geschichte. Es ist keine Übertreibung, von der dritten großen Revolution der Zivilisationsgeschichte zu sprechen: Nach der agrikulturellen Revolution, in der unsere Vorfahren von Nomaden zu Bauern wurden, und der industriellen Revolution, in der neue Produktionsmethoden das Leben erneut von Grund auf veränderten, stecken wir nun mittendrin in der Informationsrevolution, die mit zunehmender Geschwindigkeit alle Lebensbereiche erfasst. Doch während der vernetzte Lebensstil vor allem bei jüngeren Menschen der westlichen Welt inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden ist, tun sich behäbige politische Institutionen und Industriezweige noch immer schwer mit der neuen Welt des grenzenlosen Informationsaustauschs.

Kein Wunder, dass deshalb 2012 verzweifelte Anstrengungen unternommen werden, den Geist zurück in die Flasche zu bekommen. Letztes Jahr hätte eigentlich ein Meilenstein für die Verfechter stärkerer Kontrollen im Netz werden sollen: Das Freihandelsabkommen ACTA, die US-Gesetzesvorschläge SOPA und PIPA sowie das französische Three-Strikes-Gesetzesbündel Hadopi zielten alle in dieselbe Richtung – das angeblich »gesetzlose« Netz stärkeren Regulationen zu unterwerfen und die Rechteinhaber sowie Patentbesitzer zu stärken.  Alle genannten Gesetzesentwürfe nahmen in ihren Entwürfen massive Einschränkungen der Bürgerrechte stillschweigend in Kauf und wurden teilweise schlicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit zwischen Lobbies und Politikern ausverhandelt.

Gegenwind

2012 zeigte sich aber, dass in der Fähigkeit der neuen Technologie, Menschen zu vernetzen, auch ein politischer Widerstandswille inkludiert ist: SOPA und PIPA scheiterten nach massiven Protestaktionen der Netzbürger ebenso wie ACTA, das in letzter Sekunde und nach monatelanger Mobilisierung der Zivilgesellschaft im europäischen Parlament zu Grabe getragen werden musste. Und Hadopi, das Erbe der konservativen Sarkozy-Regierung, das eigentlich zum Modell für ein strenges europäisches Gesetz zur Bestrafung von Urheberrechtsverletzungen im Netz gedacht war, steht kurz davor, von Sarkozys Nachfolger Francois Hollande eingestampft zu werden: Eine Evaluierung des umstrittenen Gesetzes ergab, dass die mit Millionenkosten ins Leben gerufene Behörde seit ihrer Gründung 2010 stolze 14 Fälle an die Gerichte übergeben hat. Die Evaluierungskommission regte in einem Zwischenbericht Ende des Jahres deshalb zu radikalem Umdenken an: Eine Änderung des Urheberrechts in seiner derzeitigen Form sei nötig, da dieses nicht mehr zeitgemäß sei und an neue Nutzungs- und Verbreitungsmöglichkeiten digitaler Inhalte angepasst werden müsse.

Es war also ein Jahr der schallenden Ohrfeigen für die Vertreter der harten Law-and-Order-Politik in Sachen Internet, die in ihren Gesetzesvorstößen offenbar nicht mit dem Unmut der globalen Netzgemeinde gerechnet hatten. Trotzdem kann ausgeschlossen werden, dass die Fundamentalkritik der französischen Hadopi-Evaluierer breiteres Gehör findet. Im Gegenteil: In den USA wird derzeit ein »Six Strikes«-Verwarnsystem erprobt, das ausgerechnet die Provider als Hilfssheriffs zur Verantwortung zieht, die Datenströme ihrer Nutzer zu überwachen, der ACTA-Nachfolger CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement) wird mit zum Teil wortgleichen kritischen Passagen wie gehabt hinter verschlossenen Türen ausverhandelt und mit »Clean IT« und »PROACTIVE« stehen zwei besonders heikle »EU-Antiterrorpakete«  in den Startlöchern, bei denen auch an einigen Grundfesten des freien Netzes gesägt wird – diesmal zur Abwechslung nicht offiziell im Namen der finanzkräftigen Industrielobbys, sondern in jenem der Terrorbekämpfung, eine bekanntlich gern genutzte Hintertür, wenn es um die Abschaffungvon Bürgerrechten geht.
Dass das Netz mehr als nur ein von der Politik für die Industrie profitabel zu gestaltender Wirtschaftsraum ist, hat vor zwei Jahren schon die UNO erkannt, als sie den Zugang zum Internet als Menschenrecht bezeichnete. Der deutsche Bundesgerichtshof in Karlsruhe entschied vor kurzem ähnlich: Der Internetzugang sei eine »Lebensgrundlage« für immer mehr Menschen. Man sieht: Die Informationsrevolution ist in vollem Gange. Der Kampf ums Netz geht in die nächste Runde.

Meistgelesene BLOGS

Firmen | News
25. März 2024
Die Arbeitswelt befindet sich im Wandel und Künstliche Intelligenz (KI) spielt dabei eine entscheidende Rolle. Unternehmen weltweit erkennen zunehmend die Bedeutung von KI für ihre Produktivität und W...
Andreas Pfeiler
27. März 2024
Die Bundesregierung hat ein lang überfälliges Wohnbauprogramm gestartet. Ausschlaggebend dafür war ein Vorschlag der Sozialpartner, der medial aber zu Unrecht auf einen Punkt reduziert und ebenso inte...
Redaktion
09. April 2024
Die Baubranche befindet sich gerade in einem riesigen Transformationsprozess. Dabei gilt es nicht nur, das Bauen CO2-ärmer und insgesamt nachhaltiger zu gestalten, sondern auch Wege zu finden, wie man...
Firmen | News
27. Mai 2024
Die Zeiten, in denen man eine Bankfiliale besuchen musste, um sich über finanzielle Produkte zu informieren, sind längst vorbei. Heute, in einer Ära, in der praktisch jede Information nur einen Klick ...
Fujitsu
05. April 2024
Die IT-Landschaft hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Früher dominierten zentralisierte Rechenzentren, ein neuer Trend favorisiert nun aber eine verteilte IT-Infrastruktur. Diese erstreckt...
Bernd Affenzeller
02. Juni 2024
Am 9. Juni findet in Österreich die Wahl zum Europäischen Parlament statt. Überschattet wird der Wahlkampf derzeit von Vorwürfen gegen die grüne Kandidatin Lena Schilling. Trotz der heftigen Turbulenz...
Marlene Buchinger
21. April 2024
Derzeit gibt es Unmengen an Schulungsangeboten und ESG-Tools schießen wie Pilze aus dem Boden. Anstelle das Rad neu zu erfinden, lohnt es sich bestehende Strukturen zu neu zu denken. Herzlich Willkomm...
Alfons A. Flatscher
02. Juni 2024
Elon Musk, Tesla-Gründer und Twitter-Eigner, ist immer gut für Sager. Jetzt wurde er gefragt, wer denn im November die Präsidentenwahlen gewinnen werde: Biden oder Trump? Er habe keine Ahnung, antwort...

Log in or Sign up