Mit dem Kapitalismus ist es vorbei, stattdessen herrschen neue Feudalherren – zumindest in der stetig die reale Wirtschaft überwuchernden digitalen Welt. Wollen wir das?
Ein Text von Rainer Sigl
Kapitalismus ist – grob vereinfacht gesagt – der Verkauf von Dingen oder auch Arbeitszeit, der mit Geld entlohnt wird – und er bedeutete einmal eine gesellschaftliche Revolution, die mit alten sozialen Strukturen gründlich aufräumte. In den meisten vorindustriellen Gesellschaften waren es weder Produkte noch Arbeitsleistung gewesen, die Reichtum ermöglichten, sondern ein komplexes, jahrtausendealtes System feudaler Abhängigkeiten, das mehr oder weniger auf Besitz und dessen Verpachtung beruhte.
Könige verliehen kraft ihrer von der Kirche bestätigten Autorität Adelstitel, die an Grundbesitz oder zumindest Nutzungsrechte gebunden waren; deren »Lehensmänner« lebten wiederum von der Arbeitsleistung ihrer Untertanen, die als Leibeigene die längste Zeit mehr oder weniger Besitz ihrer Herren waren. Erst der Aufstieg des Bürgertums führte zu den Umwälzungen, die dieses System zum Wanken brachten: zum einen die historischen Revolten, etwa die Französische Revolution, die den Adel seiner absoluten Macht beraubte, und zum anderen die gesamtgesellschaftliche, die industrielle Revolution, die Produktion, Handel und Finanzwesen auf grundlegende Weise veränderte.
Es scheint ein bisschen ironisch, dass nach etwa drei Jahrhunderten kapitalistischer »Erfolgsgeschichte« ausgerechnet die aktuelle IT-Revolution an diesen Grundfesten rüttelt: Die Feudalherren sind zurück.
Rückkehr von alten Strukturen
Heutzutage, so kann man pointiert behaupten, werden die großen Vermögen nicht mehr klassisch kapitalistisch durch Produktion und den Verkauf von Waren oder Dienstleistungen erwirtschaftet, sondern auf feudalistische Weise – über bereits bestehende Vermögen, das Verpachten des Zugangs zu eigener Infrastruktur und durch die Verwaltung komplexer Finanzprodukte und Nießbrauchsrechte.
»Technofeudalismus« nennt das der linke Ökonom und ehemalige griechische Finanzminister Yannis Varoufakis in seinem soeben auf Englisch erschienenen gleichnamigen Buch mit dem polemischen Untertitel »What Killed Capitalism«. Eine neue Form des Kapitals, Varoufakis nennt sie »cloud capital«, hat es sich in Gestalt digitaler Quasi-Monopolisten zwischen klassischen Kapitalisten und ihren Kunden bequem gemacht. Amazon behält 45–51 Prozent aller Umsätze, die seine Verkäufer generieren; Google und Apple bekommen 30 Cents jedes Euros, den eine x-beliebige App auf ihren Marktplätzen verdient. Diese Art des Pachtzinses ist aber beileibe längst nicht auf diese großen Namen beschränkt: Vom »Internet of Things« bis hin zu »Software as a Service« ist ein gewaltiges System von Tools entstanden, die ausschließlich zur Miete verfügbar sind.
Eigentlich, so Varoufakis, ist das globale Finanzsystem längst irrelevant im Vergleich zum neuen Pacht- oder »Lehenswesen«, das den großen Tech-Konzernen zu Milliardengewinnen verhilft; warum etwas herstellen oder damit handeln, wenn es viel lukrativer ist, von allen, den Kapitalisten und ihren Kunden, einfach Pacht zu kassieren? Ob das tatsächlich der »Tod des Kapitalismus« ist, wie Varoufakis plakativ titelt, sei dahingestellt. Auf jeden Fall sind wir Zeugen eines epochalen Umbruchs, dessen Auswirkungen erst langsam sichtbar werden.
Yannis Varoufakis: Technofeudalism.
What Killed Capitalism. London, Bodley Head, 2023.
ISBN-13 : 978-1847927279