Sonntag, Dezember 22, 2024

Eine lebenswerte Stadt muss es auch im digitalen Bereich ­geben, sagt Klemens Himpele, CIO Stadt Wien (li.). In einem Gespräch mit ­Nikolaus Kawka, Geschäftsführer Zühlke Österreich (re.), spricht er über Herausforderungen für die IT in einer modernen Stadt, Beispiele für gute Services und die Vermeidung von Risiko in Projekten.

Das Gespräch des Report in den Büroräumlichkeiten des CIO der Stadt Wien fand Ende Februar statt.

Vor welchen Herausforderungen steht die Stadt Wien aus IT-Sicht und aus der Perspektive des CIO?

Klemens Himpele: In den vergangenen zweieinhalb Jahren gab es gewaltige Herausforderungen, die auch die Bürgerservices der Stadt verändert haben. Wurden diese in der Vergangenheit eher vereinzelt digital genutzt, haben wir mit Corona deutlich mehr Onlineanträge quer über alle Themen bekommen – insbesondere natürlich beim Testen, Impfen und Contact Tracing. Plötzlich sind Millionen von Verfahren über unsere Systeme gelaufen, was auch entsprechend skaliert werden musste.

Die Erwartungshaltung der Bevölkerung bei digitalen Angeboten ist gestiegen. Das ist prinzipiell etwas Gutes, man muss dem aber in seiner IT- und Serviceorganisation permanent nachkommen – bei gleichzeitig immer rascher auftretenden akuten Themen. Zuletzt musste die Energiekosten-Unterstützung sehr schnell und dynamisch abgewickelt werden. Das Abarbeiten von 625.000 Anträgen konnte nur mit IT-Unterstützung funktionieren. Bei dem früher üblichen händischen Verfahren wäre die Energiekrise früher vorbei gewesen, als die Gelder ausbezahlt worden wären. Mit der Digitalisierung und Automatisierung hat es in den meisten Fällen zwei bis drei Tage nach Antragstellung gedauert, bis das Geld am Konto der Menschen war. Wien ist die lebenswerteste Stadt der Welt und das muss im digitalen Bereich genau so gelten wie im analogen. 

Was macht Zühlke in dem Bereich? Wie sehen die Herausforderungen für die öffentliche Hand aus Sicht eines Technologiedienstleisters aus?

Nikolaus Kawka: Wir entwickeln und setzen gemeinsam mit unseren Kunden kluge Ideen in den verschiedenen Reifegraden bis zum erfolgreichen Produkt oder Service um. Der Schwerpunkt dabei liegt auf der kompletten Genese einer Innovation. Eines unser großen Integrationsprojekte im öffentlichen Bereich ist die Tracking App für das NHS, das britische Gesundheitsservice. Am Höhepunkt der Pandemie in UK hatten wir darüber 300.000 Zugriffe – pro Minute.

Im E-Government gibt es aus meiner Perspektive zwei große Business-Modelle rund um Information, sowie Transaktion – und verschiedene Integrationslevels dahinter. Wahrer Mehrwert für Bürger*innen entsteht, wenn Organisationen kollaborieren und wenn Daten zwischen Kommunen, privaten Beteiligten und staatlichen Einrichtungen verschränkt werden. Erst dann ist ein auf Lebenslagen zentriertes Service für die Bürger*innen möglich. Das ist eine technologiegetriebene Sicht, die eine geeignete IT-Architektur erfordert. Ein gutes Beispiel in Europa bietet etwa Estland. Die Verwaltung hat dort eine zentrale Informationsdrehscheibe zur Verfügung, über die alle öffentlichen Datenbanken miteinander kommunizieren und Daten nicht mehrfach parallel verwaltet werden. 

Was ist abgesehen von der Technik hier anders in Estland? Hat man auch in der Vergangenheit weniger Berührungsängste mit digitalen Services des Staates gehabt?

Kawka: Das Vertrauen zu E-Government und Applikationen im öffentlichen Bereich dürfte in Estland ganz anders strukturiert sein als in Österreich. Die Bürger*innen bekommen garantiert, dass sie nie nach Daten gefragt werden, die bereits an anderen Stellen vorhanden sind. Der Staat geht in Vorleistung, indem er eine Effizienz und Effektivität beim Umgang mit den Daten verspricht. Aus meiner Sicht führt diese vertrauensbildende Maßnahme zu dieser starken digitalen Akzeptanz. 98 Prozent der Bevölkerung in Estland machen bereits ihre Steuererklärung online. 

Wann dürfen die Bürger*innen Wiens mit dem One-Stop-Shop der Verwaltung rechnen, der Dateninseln verbindet und Services erleichtert?

Himpele:
Die Arbeiten daran gehen Schritt für Schritt voran. Beim Beispiel Estland gibt es viele Dinge, die bei uns nicht funktionieren würden, und manches, wo wir auch besser sind. Man hat dort die digitale Identität in die Breite gebracht, indem sie einfach an vielen Stellen verpflichtend gefordert wurde. Bei unserem Stadt-Wien-Konto »mein.wien.gv.at«, das bereits viele Bürgerservices bietet, befinden wir uns gerade in einem Security-Check bei der Zusammenführung mit der Stadt Wien App. Das Angebot wird damit noch bürger*innenfreundlicher werden.

Nikolaus Kawka, Zühlke Österreich, begleitet mit seinem Team Unternehmen und ­Verwaltungen bei der Arbeit an Innovationen im Produkt- und Servicebereich.

Früher ist man bei digitalen Services von 1,5 bis 1,7 Kontakten jährlich pro Bürger*in bei den Behörden ausgegangen. Spätestens mit Corona, der Ausweitung des Parkpickerls und der Energiekostenunterstützung sind dann auch bei uns die Nutzungszahlen massiv gestiegen. Die Anmeldung für Kindergartenplätze oder die Tourismusmeldungen sind weitere häufig genutzte digitale Services – zudem kann die Stadt eine Reihe von Services abseits ihrer hoheitlichen Aufgaben in Richtung Privatwirtschaft bieten.

Die Erwartungshaltung heute geht auch über einzelne Gebietskörperschaften hinaus. Dem Bürger und der Bürgerin ist es ja relativ egal, welche Behörde für die Durchführung des konkreten Verfahrens zuständig ist. Das benötigt eine echte medienbruchfreie Integration von Formularen und Kommunikation in die Backends der Systeme. Man wird aus Gründen des Datenschutzes weiterhin die Möglichkeit haben, seine Formulardaten für eine künftige Verwendung freizugeben. Bei Bedarf müssen dann aber nur jene Daten ergänzt werden, die eine Behörde noch nicht hat.

Sicherlich können wir hier noch besser werden. Unser Anspruch ist, hier zunehmend bessere Datenintegrationen zu schaffen und damit die Nutzer*innenfreundlichkeit unserer digitalen Services zu verbessern. Teilweise ist es eine komplexe Aufgabe, insbesondere im Umgang mit Altsystemen, die noch nicht von modernen Lösungen abgelöst worden sind.

Wie hat sich allgemein auch in der Wirtschaft die Erwartungshaltung der Anwender*innen bei der Nutzerfreundlichkeit von Services verändert?

Kawka: Die Bedürfnispyramide beginnt auf der Basisebene der Funktion eines Services und erfordert dann auch eine Servicequalität – zeitunabhängig, mit Prozessen ohne große Antwortzeiten und Abstürzen. An der Spitze der Pyramide spricht man heute von Diensten, die »pleasurable« sind, also ein Lächeln in das Gesicht der Nutzer*in bringen. So stellt die »NYC Well«-App der Stadt New York klar ein breites Serviceangebot mit einer sehr guten Usability. Ich bin überzeugt, dass Nutzerzentrierung und auch Spaß an der Nutzung bereits ein wichtiger Aspekt sind. Eine Servicequalität muss über die nackte Funktionalität hinausgehen.

Doch stehen Kommunalverwaltungen eigentlich in keinem Wettbewerb untereinander.

Kawka: Der Wettbewerb kommt – beispielsweise über Tourismusportale …

Himpele: … und inhärentes Ziel der öffentlichen Verwaltung und ihrer politisch gewählten Repräsentanten ist eine hohe Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger. Digitale Tools leisten da eine gute Unterstützung. Bei den Prozessen und den Teststraßen rund um Corona und beim Energiekostenzuschuss ist uns das, denke ich, bereits gut gelungen. Für die Menschen waren diese Prozesse mit verhältnismäßig wenig persönlichem Aufwand verbunden.

Warum ist Wien die lebenswerteste Stadt? Einer der Gründe ist sicherlich, dass es gelingt, den Menschen die Organisation ihres täglichen Lebens möglichst leicht zu machen – mit dem Öffi-Angebot, Kindergartenplätzen, Parks und eben im digitalen Bereich auch eine Erreichbarkeit und Einfachheit bei den Standardprozessen mit Behörden. Gerade die einfachen Services müssen mit zwei Klicks erledigt sein. Die Technologien werden auch immer besser und unterstützen heute Mehrsprachigkeit, detaillierte Wissenssammlungen oder mit Erklärvideos. Ein hervorragendes Beispiel in Wien ist der Wienbot, der rund um die Uhr Anfragen beantworten kann. Während andere Städte gerade beginnen, sich mit Bot-Technologien zu beschäftigen, haben wir bereits mehr als fünf Jahre Erfahrung mit diesem erfolgreichen Service. Da ist schon richtig Musik drinnen.

CIO Klemens Himpele will Wien auch im digitalen Bereich zur Nummer 1 machen.

Kawka: Bürgerservices bedeuten zunehmend auch Partizipation und Kollaboration – zum Beispiel bei Abstimmung eines neuen Straßennamens oder einer Meldemöglichkeit, wenn ein Kanaldeckel scheppert. Die Applikationen dazu müssen sich freilich an verschiedene Personas richten. Einer Studie von EY zufolge reicht hier das Spektrum von »passive outsiders«, wie es etwa meine 84-jährige Mutter ist, bis hin zur Generation Social Media und dem »digital striver«, der überall im digitalen Bereich vorne mit dabei sein möchte. Das illustriert die Grätsche, die von der digitalen Verwaltung gemacht werden muss.

In der Einfachheit liegt das Komplizierte und digitale Services sind hier nicht ausgenommen. Trotzdem werden Sie nie alle damit erreichen.

Himpele: Wenn Services niederschwellig angeboten werden, können sie auch Menschen nutzen, die nicht jeden Tag mit den digitalen Endgeräten zu tun haben. Doch gibt es für uns nicht die Option, digitale Services nur an eine bestimmte Zielgruppe, wie etwa Digital Natives, zu richten. Aber gut gebaute Services werden stets von einem erheblichen Teil der Bevölkerung genutzt werden. Und es wird immer auch die Möglichkeit geben, Anträge über den herkömmlichen Weg vorzunehmen. Die Menschen können sich prinzipiell nicht ihre Verwaltung aussuchen – dafür gibt es demokratische Wahlen, die dann die politischen Themen für die Verwaltung vorgeben –, aber sie sollten alle Möglichkeiten haben, mit ihrer Stadt in Verbindung zu treten.

Ist die Nutzerfreundlichkeit eines digitalen Services letztlich auch eine Gesamtkostenfrage?

Himpele: Je besser ein Service gebaut ist, desto weniger Leute werden benötigt, um Nachfragen zu beantworten. Das gilt im Übrigen online wie offline. Prozessdesign ist nicht mit der IT erfunden worden. Auch schlecht konzipierte Papierformulare erfordern mehr Interaktion am Schalter. Vor allem bei Massenverfahren macht sich so etwas bemerkbar. 

Kawka: Einer aktuellen Studie in Deutschland zufolge investieren Menschen für einen Amtsbesuch durchschnittlich 148 Minuten – inklusive Anreise und Abreise. Damit ist klar, dass hinter der Digitalisierung auch ein volkswirtschaftlicher Nutzen und Gewinn steht.

Was ist für Sie ein gutes Beispiel der Stadt Wien auch für Unternehmen?

Himpele: Wir arbeiten erfolgreich an einer Fachanwendung, über die künftig Bauansuchen und Baugenehmigungen eingereicht werden können. BRISE Vienna ist als Forschungsprojekt mit 4,8 Millionen Euro von der EU mitfinanziert und wird die bislang auf Papier abgebildeten, oft mühsamen Verfahrensprozesse ablösen. Die Sachbearbeiter*innen der Stadt werden mit 3D-Modellen von Projekten und Umgebungen unterstützt, verknüpft auch mit semantischer Suche und Informationen zu Vorschriften. Durch automatisierte Hinweise aus dem unterstützenden System können sich die Fachleute wieder den eigentlichen Problemstellungen in Projekten widmen. Die Entscheidung am Ende trifft weiterhin der bzw. die Sachbearbeiter*in.

Wenn diese Entscheidungsvorbereitung nun im Baubereich funktioniert, warum soll es nicht auch woanders gehen? Ich bin optimistisch, neue Technologien wie diese in Zukunft auch in anderen Servicebereichen im Einsatz zu sehen. An BRISE Vienna gibt es enormes Interesse auch international.

Wie sollten aus Ihrer Sicht Designprozesse rund um neue Services und Produkte ablaufen? Worauf ist zu achten?

Kawka: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die User Experience von externen Personen, wie zum Beispiel einem Innovationsdienstleister wie Zühlke, ganz anders bewertet wird, als von Personen, die direkt im Geschehen stehen. Scheinbar einfach und logisch aufbereitete Prozesse erweisen sich bei einer kritischen Betrachtung und einem Hinterfragen mitunter als kontraintuitiv. In Projekten sollte stets zuerst ein Überblick geschaffen werden, der über den Tellerrand der eigenen Organisation und sogar über die Grenzen einer Branche geht. Ein Impuls von außen kann hier schon gut helfen.

User Experience Design ist auch ein zentraler Hebel, um das Risiko in einem Projekt stark zu vermindern. Es gibt nichts Schlimmeres als Innovationen, die von den Benutzer*innen nicht akzeptiert werden. Die technischen Hürden dahinter aber werden meist relativ leicht überwunden.

Wie entgehen Sie dem Tunnelblick in der Stadt Wien?

Himpele: (Lacht) Die enge Zusammenarbeit zwischen Fachabteilungen und der IT-Abteilung ist die eine Hälfte der Lösung. Dann setzen auch wir auf den Blick von außen, der die anderen 50 Prozent ausmacht. Als Stadt erhalten wir Feedback sehr rasch. An der Menge der Rückmeldungen kann man dann schon gut ablesen, ob wir wirklich ein größeres Problem haben – oder ob es lediglich vereinzelt Unzufriedene gibt. Und wir sind an manchen Stellen an Gesetze gebunden, die nicht eins zu eins ins Digitale umgesetzt werden können. Trotzdem müssen wir die IT an manchen Stellen auch entzaubern. Es ist ein Handwerk, bei dem man aus Fehlern lernt und von Erfahrung profitiert. 

Kawka: Wir betrachten Software Engineering als eine Ingenieursdisziplin, die mit dem richtigen Vorgehen klar auch das Risiko in großen Projekten minimieren kann. Beim Design und der User Experience werden meist die teuersten Fehler gemacht, die es bereits im Vorfeld zu vermeiden gilt. Zühlke hat weltweit mittlerweile über 10.000 Projekte erfolgreich umgesetzt. Unsere Philosophie und Erfolgsfaktor ist das klare Vorgehen, der ingenieursmäßige Blick auf komplexe Aufgaben.

(Bilder: Milena Krobath)

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