Trotz vieler Herausforderungen hat sich der ukrainische IT-Dienstleistungssektor inmitten des Krieges als bemerkenswert widerstandsfähig erwiesen – auch zur Erleichterung der digitalen Wirtschaft in Westeuropa.
Eine endlose Reihe überfüllter Autos staute sich Ende Februar dieses Jahres von der polnischen Grenze zurück in die Ukraine. Die ukrainischen Straßen, die in Richtung Polen und in die Slowakei im Westen sowie nach Moldawien im Südwesten führen, waren ebenfalls überfüllt – und zwar nur in einer Richtung: weg von den einmarschierenden russischen Truppen sowie den auf die Flüchtenden fallenden Bomben, Raketen und Granaten. Innerhalb eines Monats verließen vier Millionen Menschen, zumeist Frauen und Kinder, die Ukraine und brachten sich in befreundeten Nachbarländern wie Polen oder in Westeuropa in Sicherheit. Dies entspricht einem Zehntel der Vorkriegsbevölkerung.
Anfang März reiste jedoch ein Ukrainer in die entgegengesetzte Richtung und machte sich von Krakau aus auf den Weg zur ukrainischen Grenze. Dmitriy M. ist Softwareentwickler und war vor einigen Jahren mit seiner Familie nach Polen gezogen, als er anfing, für das in München ansässige IT-Outsourcing-Unternehmen Krusche & Company zu arbeiten. Nun kehrte er allein in seine Heimat zurück.
Wachstumsindustrie
Dmitriy lebt derzeit in einer kleinen Stadt in der Ukraine, die sich in ausreichender Entfernung von den Kämpfen an der Front befindet und aktuell nicht von russischen Luft- oder Raketenangriffen betroffen ist. Seit Ende April arbeitet er wieder als Frontend-Softwareentwickler, remote von seiner Mietwohnung aus. Im ganzen Land gibt es hunderttausende ukrainischer IT-Fachkräfte, die wie Dmitriy weiterhin Web- und Softwareanwendungen für westliche Unternehmen und Organisationen entwickeln oder verwalten. Die Fähigkeiten dieser Mitarbeiter*innen sind für die digitale Wirtschaft des Westens unerlässlich.
Der IT-Sektor der Ukraine, der bereits vor dem Krieg florierte, hat sich als ebenso »agil« erwiesen wie die Entwicklung digitaler Produkte, welche nach wie vor ein wichtiger Motor der lokalen und globalen Wirtschaft sind. Vor dem Einmarsch Russlands verfügte die Ukraine über rund 289.000 IT-Fachkräfte und damit über einen der höchsten Bestände an Softwareentwickler*innen in Europa. Direkt oder indirekt über IT-Outsourcing-Dienstleister sind zahlreiche europäische und nordamerikanische Unternehmen auf diese Expert*innen angewiesen. Drei Viertel der Fachkräfte sind Männer, von denen sich die große Mehrheit noch in der Ukraine aufhält. Einige von ihnen sind in den aktiven Militärdienst eingetreten, entweder in die reguläre Armee oder in die zivilen territorialen Verteidigungsdienste. Die meisten arbeiten jedoch als IT-Fachkräfte weiter – dabei sind einige näher an Kriegsschauplätzen als andere.
Sergej Bondarenko entschied sich, mit seiner Familie in Sumy, im Nordosten der Ukraine, zu bleiben. (Bild: Krusche & Company)
Laut dem Bericht »Tech Ukraine 2021« führte das Land im Jahr vor der Invasion IT-Dienstleistungen im Wert von sieben Milliarden Dollar aus. Das entspricht etwa einem Viertel der Agrarexporte, dem größten Wirtschaftszweigs des Landes. Der Wert der ukrainischen IT-Exporte hatte sich zwischen 2017 und 2020 verdoppelt. Der jährliche Zuwachs lag zuletzt bei 24,7 Prozent. In einer vom Krieg zerrütteten Wirtschaft ist das Fortbestehen des IT-Dienstleistungssektors essentiell – sowohl für die Einnahmen des Landes als auch für die lokale Wirtschaft. Die Gehälter der ukrainischen Softwareentwickler*innen sichern oft den Lebensunterhalt ganzer Familien und bringen Geld in die Kassen der lokalen Unternehmen. Vor allem im ukrainischen Berggebiet der Karpaten sind viele IT-Fachkräfte von zu Hause aus tätig, wie Ivan Nevmerzhytskyi, ein weiterer IT-Fachmann von K&C, berichtet.
Wichtige Stütze
Ivans K&C-Kollege Sergej Bondarenko, ein leitender Techniker für Qualitätssicherheit, der für ein in London ansässiges FTSE-100-Unternehmen an digitalen Projekten arbeitet, entschied sich trotz der gefährlichen Lage in Sumy, einer mittelgroßen Stadt im Nordosten der Ukraine und somit in unmittelbarer Nähe zur Front, zu bleiben. Er begrüßt die Solidarität und Flexibilität, welche die westlichen Arbeitgeber den ukrainischen IT-Fachleuten entgegenbringen. Zu Kriegsbeginn, als viele Mitarbeiter*innen zunächst nicht arbeiten konnten, bekamen sie ihr Gehalt weitergezahlt. Außerdem ermöglichen die Unternehmen flexible Arbeitszeiten, die den Luftschutzsirenen Rechnung tragen – auch wenn Sergej bei Alarm nicht mehr unbedingt in den Keller geht, sondern bei geringer Gefahr manchmal auch in der Wohnung im zweiten Stockwerk bleibt. Auch Stromausfälle gehören zu den alltäglichen Widrigkeiten.
Diese Art von Stoizismus hat zusammen mit der anhaltenden Unterstützung durch Arbeitgeber aus Westeuropa und anderen Ländern dafür gesorgt, dass die ukrainischen Exporte von IT-Dienstleistungen weiterhin stabil bleiben. Ukrainische IT-Spezialist*innen wie Dmitriy, Ivan und Sergej waren bereits vor dem Krieg sehr wichtig für die lokale Wirtschaft. Heute sind sie existenziell. Ohne ihr Einkommen, das sie oft großzügig mit Verwandten teilen, die unter den derzeitigen Bedingungen keine alternativen Einkommensquellen haben, wäre die bereits schwer angeschlagene ukrainische Wirtschaft in einer noch schlechteren Lage.
Westliche Unternehmen, die auf ihre Expertise angewiesen sind, hätten zudem große Schwierigkeiten, die Lücke auf dem internationalen Arbeitsmarkt für IT-Fachkräfte zu schließen, da dort ohnehin ein stetiger Personalmangel herrscht.
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