Peter Lieber, Präsident des Verbandes Österreichischer Software Industrie, spricht über aktuelle Herausforderungen in der Branche und das »traurige« Kapitel Informatik-Lehre.
Zur Person: Peter Lieber ist mehrfacher Unternehmensgründer, mit den Firmen LieberLieber Software und SparxSystems in Österreich und international tätig und Präsident des Verbandes Österreichischer Software Industrie (VÖSI).
Report: Was beschäftigt die Softwareindustrie in Österreich derzeit?
Peter Lieber: Eine Herausforderung ist zunächst, dass in der öffentlichen Wahrnehmung unter dem Begriff IT einfach alles hineinfällt und so Softwareentwicklung und IT-Tätigkeit vermischt werden. Das eine hat mit den anderen aber wenig zu tun. Die klassische IT-Fachkraft hat die primäre Aufgabe, zu beschützen, zu bewahren – vor Einbruch zu sichern und zu achten, dass Systeme 24/7 funktionieren – also Irritationen zu vermeiden. Für Softwareentwickler dagegen können Tools und Gadgets nicht neu genug sein – am liebsten entwickeln sie das meiste selbst. Der WeAreDevelopers-Kongress ist das Paradebeispiel von Menschen dieser Szene. Und dann gibt es noch einen dritten, strategischen Tätigkeitsbereich der IT-Branche – jenen der CIOs, deren Notwendigkeit und Bedeutung in Österreich nach wie vor massiv unterschätzt wird.
Aber: Man muss zwischen Entwicklern, Programmierern und Codierern unterscheiden. Codieren kann ich auch in Indien lassen, mittlerweile können Computer auch völlig automatisiert codieren. Ein Programmierer ist dann schon einen Schritt weiter, indem er selbstständig Algorithmen entwickelt und einen Überblick über die Software-Architektur hat. Ein Entwickler schließlich sieht das große Ganze und beschäftigt sich auch mit Themen, die über Software hinaus gehen: Kundenerwartungen, Usability oder Markttrends.
Die Herausforderung derzeit in der Branche ist nun, diese Tätigkeiten zu diversifizieren – ähnlich wie es die Bauwirtschaft schon lange macht. Auch in Softwareprojekten werden Architekten gebraucht, Security-Verantwortliche und viele Rollen mehr.
Als ich vor 20 Jahren in dieser Branche, deren Überbegriff nun einmal IT ist, angefangen hatte, waren die nötigen Kenntnisse tatsächlich in einer Person bündelbar: vom Aufsetzen des Rechners, Einrichten des Betriebssystems und des Netzwerks bis zu allen Softwareinstallationen und laufender Wartung. Heute geht das nicht mehr – wenn ich beispielsweise an Security- und Datenschutz-Konzepte denke oder die Administration global verteilter Netzwerkservices. Wir müssen uns von dem veralteten Bild des Informatik-Allrounders verabschieden.
Report: Warum diese Aufgliederungen aber in der Entwicklung? Viele Anbieter kommunizieren, bei Software ohnehin alles abzudecken.
Lieber: Das mag schon sein, es ist aber die größte Marktlüge. Das kann es gar nicht geben, dass man der Beste in allem ist – von Mobile bis Web, von SAP bis gleich allen anderen ERP- und CRM Systemen, vom Autohersteller, Flugzeugbauer zum Maschinenbauer und zurück. Man kann schon oberflächlich die Disziplinen kennen, aber glaubwürdig ist ein Einzelner mit allumfassendem tiefgehenden Know-how nicht. Dieser Umstand ist ein bisschen dem Dilemma der österreichischen Softwarebranche geschuldet. 70 % aller Unternehmen sind Ein-Personen-Unternehmen und der Markt ist eigentlich für die Anzahl der Anbieter zu klein. Jedes Unternehmen, das geschickt genug ist, auch in Deutschland oder prinzipiell im Ausland tätig zu sein, ist auch automatisch wesentlich erfolgreicher. Umgekehrt kann man sagen: Wenn man es als Unternehmer in Österreich schafft, funktioniert es auch anderswo – denn ein solches Haifischbecken wie hier, das gibt es kaum anderswo.
Report: Das heißt: Die erzielbaren Margen sind das Problem?
Lieber: Durchaus, ebenso wie der Klassiker, dass die Unternehmenswebsite noch vom Sohn oder Tochter gebaut wird. Wir haben hier auch Marktverschiebungen, da klassisches Webdesign eigentlich nicht mehr mit Softwareentwicklung zu tun hat, sondern heute in den Marketingbereich fällt. Dort gibt es entsprechende Werkzeuge für die Website-Gestaltung und auch Marketing-Agenturen mit eigenen Programmierern. Auch eine App-Entwicklung war früher noch die Domäne der Softwareindustrie. Heute wird ein Großteil der mobilen Apps von Agenturen produziert.
Report: Besteht die Gefahr, dass sich die Softwarebranche durch ihre Werkzeuge selbst wegrationalisiert?
Lieber: Ja, Entwickler arbeiten im Prinzip ständig daran, ersetzbar zu werden. Gleichzeitig steigen die Komplexitäten in der Softwarewelt. Diesen Spagat zu schaffen, ist die Kunst. In der Regel gibt es bei der Verknüpfung von Rechnern, Systemen und Netzwerken weit mehr Antworten, als es eigentlich korrekte Lösungen gibt. Es liegt an den Spezialisten, diese Lösungen zu finden – die dann vielleicht auch nur aus einer einzigen Zeile Code bestehen. Diese Komplexität beherrschbar zu machen, ist auch die Herausforderung in der Arbeit meiner eigenen Softwarefirma, die sich mit Software-Modellierungen beschäftigt, um höhere Abstraktionen von Code zu erreichen.
Report: Worum geht es dabei?
Lieber: Reiner Code in Maschinensprache ist eigentlich die niedrigste Abstraktion. Programmiersprachen wie C/C++/C# oder Java sind die nächsten Ebenen, die vom Fachanwender in der Regel nicht verstanden werden. Der Trend geht jetzt zu »Low Code«: automatisierbare Programmzeilen und Prozesse, die einfach verknüpft werden können. SparxSystems unterstützt mit dem Modellierungswerkzeug »Enterprise Architect« mehr als 60 verschiedene Modellierungssprachen und -standards in verschiedenen Domänen und Branchen. Ich glaube, dass künftig auch Unternehmensberater bei der Dokumentation von Unternehmensprozessen und Impact-Analysen auf diese Werkzeuge zurückgreifen müssen. Es ist etwas Nachhaltigeres als Powerpoint oder Word zur Dokumentation gefragt und es betrifft alle Arten von Prozessen – nicht nur softwarebezogene.
Report: Auch die gängigen IoT-Plattformen von IBM, Microsoft oder SAP setzen auf Einfachheit in der Entwicklung.
Lieber: Aus Anwendersicht sind das genau die passenden Umgebungen. Aus Unternehmenssicht bieten sie einen immensen Komfortgewinn. Aus Sicht des Entwicklers sehe ich aber lauter Unbekannte in der Wertschöpfungskette. Läuft ein Server ein paar Tage auf einer dieser Plattformen, sieht man schnell, welch hohe Kosten anfallen – und man baut sie lieber doch wieder selbst.
Prinzipiell gehen die Geschäftsmodelle der Großen aber in die richtige Richtung, indem mit Pay-per-use ein steter Umsatzstrom und Wachstum für die Branche erhalten bleiben. Damit verändern sich auch die Verantwortungen für die Softwareentwickler. Sie haben durch die ständige Wartung und durch Trends wie »Bring Your Own Device« – wo Software in den verschiedensten Umgebungen gleichermaßen verlässlich und sicher laufen muss – plötzlich »Security by Design«, »Privacy by Design« oder »Safety by Design« als oberste Prämisse.
Das alles sind Themen, die man früher als Softwareentwickler gerne den IT-Kollegen zugeschoben hatte. Von der EU-Datenschutz-Grundverordnung ist nun jede »Line of Business« betroffen, vor allem die Softwareentwicklung, die mittlerweile überall lebensnotwendig ist.
Report: Können denn die Unternehmen die nötigen Spezialisten am Arbeitsmarkt finden? Wie ist die Situation derzeit?
Lieber: Noch geht es, aber es wird immer enger, denn man braucht nicht nur EntwicklerInnen, sondern prinzipiell viele MitarbeiterInnen, die diese neue Komplexität beherrschen können. Eines der traurigsten Kapitel ist das Thema Lehrlinge. Es gibt kaum Unternehmen, die Lehrlinge ausbilden und kaum junge Menschen, die entsprechend ausgebildet werden wollen. Das mag unterschiedliche Gründe haben, einer davon ist sicherlich auch ein veralteter Ausbildungsplan. Die letzte Gesetzesnovelle dazu stammt aus dem Jahr 2006. Man sollte den Anspruch an die Informatik-Lehre überdenken. Es stellt sich die Frage, ob tatsächlich das gesamte Spektrum von Elektrotechnik bis Mechanik, bis hin zu ausgestatteten Löt-Arbeitsplätzen, noch sinnvoll ist. Der VÖSI bietet sich gerne an, beim Ausmisten zu unterstützen.
Nun gibt es die Initiative von Bundesministerin Schramböck, die CodiererIn- beziehungsweise AnwendungsentwicklerIn-Lehre einzuführen. Ich mag zwar den Begriff des Codierens nicht, aber es hat vielleicht wirklich etwas mit dem Berufsbild von 15-Jährigen zu tun. Die wollen oft einfach auf Anweisung hin codieren.
Report: Und der Bildungsweg Universität oder FH?
Lieber: Dort werden viele Studenten bereits während ihrer Ausbildung frühzeitig von den Unternehmen abgezogen oder bereits mit Zusagen gebunden. Unterm Strich heißt das: Die Großen binden die Ausgebildeten an sich und die Kleinen wollen auch nicht ausbilden. Dort herrscht die Angst, dass die Leute nach der Ausbildung weggehen. Auch die VÖSI-Mitglieder selbst bilden leider weniger aus, als sie eigentlich sollten.
Besonders dramatisch ist die Situation in Wien – wo 80 % der IT Umsätze stattfinden, aber auch nicht mehr Lehrlinge ausgebildet werden als in jedem anderen Bundesland.