Brigitte Ratzer leitet die Abteilung Genderkompetenz der TU Wien und spricht über Maßnahmen und Herausforderungen in der Bildung und Wirtschaft bei der Ansprache und Gleichstellung von Frauen in technischen Berufen. (Titelbild: Eva Ketely)
Report: Welchen Schwerpunkt haben Sie in Ihrer Arbeit für Genderkompetenz im universitären Bereich? Was ist Ihnen wichtig?
Ratzer: Wir sehen uns nahe an dem Thema, wie Mädchen und Frauen in die Naturwissenschaft und Technik kommen, wie sie dort Karriere machen und sich in ihrer Kreativität entfalten. Der zweite Strang handelt davon, wie die Produkte aus der Wirtschaft für möglichst viele Menschen optimal gestaltet werden. In unserer Abteilung fokussieren wir auf die Lehre und die Forschungsberatung. Denn Unternehmen, die Forschungsförderungen erhalten, müssen auch entsprechende Gendermaßnahmen im eigenen Team nachweisen, ebenso wie einen Genderaspekt in ihrer Forschung und den daraus entstehenden Produkten.
Report: Was sind die Gründe für die in Österreich beträchtliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern bei der Berufswahl?
Ratzer: Warum so wenige Frauen in technischen Berufsfeldern tätig sind – diese Frage wird wie eine heiße Kartoffel herumgereicht. Die technischen Universitäten verweisen auf die Verantwortung der Schulen, die Schulen erklären uns, eine Prägung von jungen Menschen findet bereits in den Kindergärten statt und diese wiederum sprechen vom Elternhaus. Dann gibt es noch den – begründeten – Verdacht, die Medien würden ständig Stereotype reproduzieren. Irgendwo dazwischen redet man sich auf die Politik aus, weil dort die falschen Vorgaben – oder schlimmer: keine Vorgaben – gemacht werden. Und irgendwann kommt man auf die Industrie, die Frauen in der Technik zu wenig fördert.
Ich bin überzeugt, dass der große Hebel die Ausbildung der Lehrer und Lehrerinnen wäre. Diese Chance wird seit Jahrzehnten bei jeder Reform der pädagogischen Hochschulen und Lehrer*innen-Ausbildung versemmelt. Man muss Mädchen in allen Lebensphasen abholen, was bereits in der Elementarpädagogik im Kindergarten beginnt. Welche Spielzeuge stehen zur Verfügung? Wer wird ermutigt, damit zu spielen oder wird desillusioniert – in Bezug auf, wie man sich beschäftigen kann oder was man anziehen kann?
Hier gibt es spannende Modelle wie zum Beispiel in Island, in denen Kinder monoedukativ betreut werden. Über einen Teil des Tages werden Burschen und Mädchen in getrennten Gruppen zusammengefasst. Die Burschen lernen, sich gegenseitig Komplimente zu machen oder einfach auch mitfühlend zu sein. Die Mädchen lernen, laut zu schreien und vielleicht barfuß im Schnee herumzutoben. Dann erzählen sie sich wieder gegenseitig, was sie Schönes erlebt haben. Es ist eine Idee, die mir gefällt, denn letztlich tragen wir alle die Bilder in unseren Köpfen, wie sich Mädchen oder Buben zu verhalten haben und welche Begabungen oder Interessen sie haben.
Report: Der Fachkräftemangel hat viele in technischen Branchen zum Nachdenken gebracht. Oft heißt es aber, dass sich einfach zu wenige Frauen für Stellen bewerben.
Ratzer: Wir sind die größte, aber nicht die einzige technische Universität in Österreich und haben jedes Jahr 1.000 Absolventinnen. Wenn mir jemand erzählt, er findet keine Technikerin, dann hat er nur nicht gut genug gesucht. Selbstverständlich gibt es Technikerinnen – sie schauen aber vielleicht nicht so aus, wie man es sich vorstellt. Sie tragen vielleicht ein Kopftuch oder haben ungewöhnliche Namen. 40 Prozent unserer Absolventinnen sind nicht österreichische Staatsbürgerinnen, wovon die Hälfte EU-Ausländerinnen sind.
Report: Welchen Anteil stellen die Absolventinnen insgesamt in der TU Wien?
Ratzer: Ungefähr ein Viertel der Studien der TU Wien werden von Frauen absolviert, wobei die Verteilung innerhalb der Fächer ungleich ist. In unserer prinzipiell sehr großen Architekturfakultät gibt es viele Frauen. Bei Elektrotechnik und Maschinenbau dagegen beträgt der Anteil immer noch nur zehn bis 15 Prozent. Die Absolventinnen-Rate der Masterstudien ist dort sogar nur einstellig. Erst beim PhD werden es durch den Zuzug aus dem Ausland wieder mehr.
Der Grund ist, dass technische Studienrichtungen in so gut wie allen Ländern außer Österreich, Deutschland, Schweiz und Niederlande wesentlich besser durchmischt sind. Überall sonst sind mehr Frauen in technischen Fächern – in Skandinavien, in Süd- oder Osteuropa, sogar in sehr konservativen Staaten im arabischen Raum wie etwa Saudi-Arabien. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Den »Bible Belt« DACH-Raum vereint, dass der Ingenieursberuf ein Riesenprestige hat. Und das ist schwer zu knacken.
Report: Wie können technische Universitäten Frauen unterstützen?
Ratzer: Als Universität bleibt uns nicht viel über, da wir uns bei der Pipeline der Berufswahl sehr weit hinten befinden, diese aber weit vorne zu lecken beginnt. Unsere Aufgabe ist, jene, die sich für ein technisches Studium entschieden haben, zu halten. Wir wollen erwirken, dass der Dropout von Frauen nicht höher ist als jener bei Männern. Für Frauen ist die Wahrscheinlichkeit in manchen Studienrichtungen dreimal höher, ein technisches Studium abzubrechen.
Allerdings gibt es eine weitere wesentliche Schnittmenge, die wir beachten müssen. Nicht-Österreicher*innen, unabhängig vom Geschlecht, brechen achtmal häufiger ihr Studium ab. Da wir mehr ausländische Frauen als ausländische Männer an der TU Wien haben, wird auch diese Tatsache zu einem Problem für die Chancengleichheit. Pauschal stelle ich fest: Wir können nicht gut mit Leuten, die nicht Deutsch als Muttersprache haben. Und wir können nicht gut mit Menschen, von denen wir denken, dass sie nicht gut hierher passen. Wir schulen unsere Lehrenden, aufmerksam zu sein, wie sie Teilnehmenden ihrer Lehrveranstaltungen begegnen. Und wir versuchen, Frauen einen guten Einstieg in eine wissenschaftliche Laufbahn oder den Umstieg in die Industrie zu ermöglichen.
Denn in den Unternehmen haben wir mit dem Phänomen Drehtür zu kämpfen. Viele Frauen, die einschlägig in der Industrie tätig werden, sind nach einem Jahr wieder weg und verschwinden in andere Berufsfelder. Sie schulen auf ein Lehramt um, kommen ins akademische Umfeld zurück oder sind in Feldern wie Wissenschaftskommunikation tätig. Sie gehen der Technik verloren. Hier sehe ich den größten Handlungsbedarf in der Wirtschaft. Wir bieten in unserer Personalentwicklung Workshops an und begleiten Frauen in der Vorbereitung auf die Arbeitswelt, mit Themen wie Selbstmarketing, Führungsqualitäten und andere Skills.
Report: Was wird in den Unternehmen falsch gemacht?
Ratzer: Oft passt die Bezahlung nicht und wenn es überhaupt die erste Technikerin nach langer Zeit ist, fehlt auch ein routinierter Umgang. Da passieren oft patscherte Dinge, die nicht böse gemeint sind. Aber wenn man das als Frau das fünfte oder sechste Mal erlebt, wird es mühsam. Unsere Absolventinnen erzählen, dass sie sich in ihren Berufsfeldern ständig beweisen müssen und immerwährend am Prüfstand stehen. Und es kommt mitunter vor, dass sie automatisch zum Protokollschreiben und Kaffeeholen bestimmt werden. Das sind Schnitzer, die im Jahr 2022 eigentlich peinlich für die Unternehmen sind.
Report: Wie ist die Erwartungshaltung in Bezug auf gemischte Teams – bei denen man generell von einer stärkeren Innovationskraft ausgeht?
Ratzer: Dass diverse Teams besser performen, stimmt – aber nicht zwangsläufig. Die Soziologin Jutta Allmendinger hat das Gefüge in Sinfonieorchestern untersucht, die lange Zeit ausschließlich mit Männern besetzt waren. Über verschiedene Maßnahmen kamen die ersten Frauen, die Performance und die Stimmung in der Gruppe wurden dadurch aber nicht besser. Erst ab einer Frauenrate von über 40 Prozent hatte sich die Zusammenarbeit zum besseren gewandelt. Ich warne davor, einen Wandel in Teams prinzipiell von Führungskräften unbegleitet ablaufen zu lassen. Wenn es schlecht gemanagt ist, kann die Arbeitszufriedenheit sogar sinken und die Leute verlassen das Unternehmen.
Report: Worauf sollten Führungskräfte nun achten?
Ratzer: Es gibt ein paar Dinge, aber vor allem ist das Kommunikationsverhalten von Männern und Frauen im Durchschnitt unterschiedlich. Wenn ich eine Person aus Gründen der Diversität auf eine Position hole, diese dann aber nie anhöre und ihre Ideen und Vorschläge nicht annehme, wird es nicht funktionieren. Besser sind flache Hierarchien und Kommunikationsstrukturen, in denen nicht wenige Alphas über alle anderen drüberfahren. So etwas ist auch in mit nur Männern besetzten Teams toxisch.
Report: Ist es nicht ein Klischee, dass Frauen und Männer anderes kommunizieren? Es sind doch die Unterschiede zwischen Individuen größer?
Ratzer: Es gibt durchaus eine große Variationsbreite innerhalb der Individuen. Wenn ich aber die Kohorte der Studienabsolvent*innen der Technik betrachte, sehe ich vereinfacht gesagt vier Gruppen. Bei den Männern haben wir die Nerds, die den Mund nicht aufbekommen, und wir haben jene, die von Tag Null an keinen Mangel an Selbstbewusstsein zeigen. Bei den Frauen haben wir ebenfalls die stillen Technik-Nerds, die fachlich gut sind.
Dann haben wir Typen, die zwar kommunizieren können, sich aber selbst schlecht verkaufen. Das hat zur Folge, dass sich Burschen oft für Jobs bewerben, auch wenn sie nicht alle Kriterien erfüllen. Im Gegensatz dazu schrecken Frauen sogar davor zurück, wenn sie einzelne Anforderung wie etwa das Beherrschen einer Programmiersprache nur teilweise erfüllen können. Die Wahrnehmungen des eigenen Könnens und Potenzials ist bei Frauen und Männern systematisch verschieden.
Problematisch ist, dass der überdurchschnittlich von sich überzeugte männliche Bewerber eine Benchmark für Bewerbungsgespräche generell geworden ist – auch wenn die Recruiter wissen, dass in diesen Situationen viel geblufft wird. Es ist interessant, dass wir immer wieder versuchen, auch die Frauen dahin zu coachen. In Wirklichkeit ergeben wir uns einer Norm, die männlich ist. Die Frauen haben sich anzupassen oder dürfen nicht mitspielen. Selten höre ich von Recruitern, dass sie genau diese Selbstdarsteller nicht nehmen – weil man vielleicht Sorge vor negativen Auswirkungen auf die spätere Zusammenarbeit im Unternehmen hat.
Report: Wie hat sich die Chancengleichheit von Männern und Frauen in den letzten Jahren verändert? Gibt es Verbesserungen?
Ratzer: Auch wenn sich generell unsere Arbeit nur wenig mit quantitativen Indikatoren abbilden lässt, hat sich auf jeden Fall die Qualität des Diskurses verbessert. Vor 15 Jahren war man vielleicht lieb und höflich bei Diskussionen zu diesen Themen – und hat sich anschließend wieder »wichtigeren« Themen zugewandt. Inzwischen ist es erklärungsbedürftig, wenn eine Führungskraft keine Ahnung vom Thema hat und keine Idee, wie Chancengleichheit zu verbessern ist. Unternehmen und auch die Fakultäten wissen, dass sie keine weiteren 15 Jahren warten können.
Parallel dazu hat sich auch der gesellschaftliche Diskurs verändert. In unserer Arbeit ist wichtig, mit Sabine Seidler seit zwölf Jahren eine Rektorin zu haben und auch eine Vizerektorin für Personal und Gender, Anna Steiner. Die beiden sind extrem konsequent und erklären unaufhörlich und unaufgeregt, warum Frauen in technischen Berufen so wichtig sind.
Report: Warum ist es für Unternehmen wichtig, auf diverse Teams zu setzen?
Ratzer: Die Firmen verpassen viel, wenn sie nur Personen anstellen, die einer bestimmten Norm entsprechen. Wenn ich meine unterschiedlichen Zielgruppen nicht kenne und an einem Teil der Konsument*innen vorbeiproduziere, kann sich das nicht auf Dauer rechnen. Es gibt die schrägsten Beispiele für Produkte, die deshalb wieder vom Markt genommen werden mussten. Ich erinnere mich an eine interaktive Barbiepuppe, die aufgrund eines eingeschränkten Spracherkennungstools Mädchenstimmen nicht erkannte und nur mit den Vätern gesprochen hat.
Wir haben bis heute den Sicherheitsgurt, der in seinem Design für Frauen und insbesondere Schwangere gefährlich ist – aber auch alle anderen Personen, die nicht einer bestimmten Größe und Gewichtsverteilung entsprechen, nicht optimal schützt. In der Gebäudeautomatisierung ist immer noch das unterschiedliche Temperaturempfinden von Frauen und Männern die große Herausforderung. Unternehmen designen und produzieren nach wie vor für den Norm-User.
Report: Welche konkreten Maßnahmen haben Sie in Ihrer Organisation ergriffen?
Ratzer: Nachdem auch in der TU viele Jahre nahezu erfolglos über das Thema gesprochen worden war, hat sich das Rektorat beispielsweise zur Einrichtung von Frauenprofessuren entschieden – es ist die bislang erfolgreichste Maßnahme für Frauenförderung. Das Rektorat hat jenen Fakultäten mit den besten Förderungsprogrammen Professuren und Laufbahnstellen spendiert. Das haben wir nach zwei Jahren wiederholt. In dieser Finanzierungsrunde wurde die Umsetzung der Frauenförderungspläne bewertet.
Die TU ist das sehr hemdsärmelig angegangen, worüber sicherlich auch manche die Nase rümpfen. Schließlich hat damit auch das institutionelle Lernen nicht in dem Ausmaß stattgefunden, wie man es sich wünschen würde. Aber wenn ich Ergebnisse haben will, muss ich auch irgendwann für Ergebnisse sorgen.
Zur Person
Brigitte Ratzer war Frauenreferentin der Hochschülerschaft und Mitglied im Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen. Sie leitet seit 17 Jahren die Abteilung Genderkompetenz der TU Wien. 2005 wurde die Abteilung aufgrund einer gesetzlichen Notwendigkeit – Paragraph 19 Absatz 7 des Universitätsgesetzes – eingerichtet. Ratzer ist Absolventin des Diplomstudiums Technische Chemie und des Doktoratsstudiums in Sozialwissenschaftlicher Naturwissenschafts- und Technikforschung.