Sonntag, Dezember 22, 2024
»Infrastrukturen können damit wesentlich effizienter betrieben werden«

Welche Chancen das Prädikat »smart« für Gebäude und Städte eröffnen soll, erläutern Gerd Pollhammer, Head of Smart Infrastructure CEE, und Michael Weinhold, CTO Smart Infrastructure, Siemens.

Report: Warum hat Siemens die Bereiche Gebäudetechnik und Netztechnologie in der Sparte »Smart Infrastructure« zusammengefasst?

Gerd Pollhammer: Für dieses Zusammenwachsen gibt es mehrere Gründe. Einer davon ist die spannende Welt, die durch die Ankopplung der Gebäude ans Elektrizitätsnetz entstanden ist. Wir haben heute mehr und mehr dezentrale Energielösungen, Campus-Lösungen mit Elektromobilität und eigener Energieerzeugung. All diese Dinge spielen sich nicht nur in einem Gebäude oder ausschließlich im Netz ab. Hier entstehen neue Märkte, die wir operativ nun mit dem Bereich Smart Infrastructure adressieren.

Zudem entwickeln sich die Gebäude – wenn man diese noch einzeln betrachten möchte – von einer vormals passiven Energieoptimierung etwa in Form eines durchgeführten Energy Contractings zu aktiven Teilnehmern in der Energiewirtschaft. So realisieren wir in der Seestadt Aspern gemeinsam mit Partnern die Teilnahme von Gebäuden mit eigener Energieerzeugung aus Photovoltaik und Wärmepumpen am Regelenergie- und Energiehandelsmarkt. Diese Interaktivität und Dynamik – etwa die Sektorkopplung von Elektrizität zu Wärme – wollen wir unterstützen und in die Tat umsetzen.

Report: Warum gerade Wien?

Pollhammer: Die Seestadt Aspern und die Smart City Wien sind Musterbeispiele in Europa und weithin sichtbare Live-Labs für unterschiedlichste smarte Gebäudetypen, die als Multiplikator überall umgesetzt werden können. Während wir uns auf die technischen Infrastrukturthemen Gebäudetechnik und Elektrizität konzentrieren, fokussiert die Stadt Wien auf Raumplanung und Mischkonzepte für Gewerbe und Wohnraum, auf Mobilitätskonzepte und vieles mehr. Vieles davon entsteht im Neubau, ist aber nicht auf diesen beschränkt. So wird natürlich auch überlegt, wie diese Neuerungen auch in der großen Fläche älterer Bausubstanz, etwa bei den vielen Gründerzeit-Häusern in Wien, umsetzbar sind.

Michael Weinhold: Es ist auch ein weltweiter Trend, der sich nicht nur auf Wien oder auf Österreich beschränkt. Wir erleben zunehmend eine direkte und indirekte Elektrifizierung vieler Bereiche, die bereits auch als Umbau zur »all-electric world« bezeichnet wird. Man muss mit diesem Begriff allerdings vorsichtig sein, da wir zum Beispiel weiterhin auch Wärme- und Kältenetze sowie Wärmespeicher haben werden.
In dem Nachhaltigkeitsdreieck Ökonomie, Ökologie und Soziales ist mit elektrischer Energie eine bessere Umweltverträglichkeit gegeben und Infrastrukturen können damit wesentlich effizienter betrieben werden. Elektrische Systeme sind sehr effizient – in der Integration erneuerbarer Energien wie Windkraft, Solar- und Wasserkraft und auch Biomasse, ebenso wie im Transport über große Strecken. Dazu sind sogar Konzepte in Diskussion, Hochspannungsgleichstrom-Verbindungen über Kontinente hinweg zu bauen.

Gleichzeitig sehen wir immer mehr Anwendungen in die elektrische Energie wandern. Hinsichtlich Versorgungssicherheit ist Elektrizität zur zentralen Infrastruktur überhaupt geworden, ohne die moderne Gesellschaft gar nicht mehr denkbar ist. Selbst wenn Sie auf einer Insel oder einem entlegenen Gebiet bauen: Sie werden auch immer ein Off-Grid-Stromsystem, ein sogenanntes Microgrid, aufbauen und dabei auch auf erneuerbare Energie setzen.

Ergänzend zu dieser Attraktivität von elektrischer Energie brauchen wir Sektorkopplung, um Überschussstrom-Mengen sinnvoll abzupuffern und Infrastrukturen zu dekarbonisieren. Dazu kommen nun immer mehr Kurzfristspeicher ins Netz, vor allem Lithium-Ionen-basierte Batteriespeicher. Siemens hat seit einigen Monaten mit »Junelight« einen kompakten Batteriespeicher zur Speicherung und Nutzung von eigenerzeugtem Strom am Markt. Dass er fast 20 KWh speichern kann, sieht man dem Gerät kaum an – das ist die Evolution der Batterietechnik.

In meiner Ausbildung als Elektroingenieur in Deutschland und in den USA gab es in Ländern wie Deutschland wenige hundert Großkraftwerke. Die großen energieintensiven Industriebetriebe hatten schon immer eine eigene Erzeugung, aber der Endkunde war weit davon entfernt. Das hat sich völlig verändert, wie man auch an Aspern sieht. Viele erleben es selbst mit eigenen Erzeugungseinheiten direkt auf den Dächern von Wohnhäusern und im Gewerbe. Es gibt Bürgerenergiegenossenschaften, Campus-Lösungen und vieles mehr.

Report: Warum sollte unsere Gesellschaft in Zukunft auf lokale Energie-Communities setzen?

Weinhold: Es ist sinnvoller, Energieflüsse inklusive Sektorkopplung lokal zur Deckung zu bringen, um große vagabundierende Energieströme zu vermeiden. Außerdem müssen wir durch das Aufkommen der Ladeinfrastruktur für Elektromobilität zusehen, dass wir Spitzenlast-Situationen abglätten können. Da ist ein lokaler Energiemarkt natürlich sinnvoll, um etwa Lasten für eine spätere Nutzung auch zu puffern. Ein anderer, emotionaler Gesichtspunkt ist: Wenn Sie mit Ihrer Community selbsterzeugte Energie handeln, dann fühlt man sich auch besser (lacht).

Pollhammer: Sobald diese Themen regulatorisch ermöglicht werden, wird es in Zukunft auch lokale Community-Speicher geben. Für Siemens bildet sich damit ein völlig neuer Kundenkreis mit einem eigenen Anbieter- und Dienstleistungsmarkt – ähnlich wie es bereits mit den Solateuren der Fall ist. Auch wir müssen dazu Technologie für Endkunden bieten, um diesen die Teilnahme am Energiehandel einfach und sofort zu ermöglichen. Gleichzeitig kann niemand erwarten, dass sich diese Zielgruppe tiefgehend mit komplexen Technologien im Detail auseinandersetzen wird.

Weinhold: Es wird eine Art Softwareagenten geben, der regelbasiert das Energiesystem in einem Gebäude und nach außen hin managen wird. Niemand würde das ständig manuell machen wollen. Es muss so einfach wie möglich sein und nicht nur automatisiert, also regelbasiert unter bekannten Randbedingungen, sondern auch autonom funktionieren. Das bedeutet, dass ein System mit Feldgeräten ausgestattet mit Sensorik und Analytik auch in unbekanntem Terrain Entscheidungen fällen kann.

Nehmen Sie als Beispiel unseren Stromrichter des Junelight-Speichers. Er ist nicht nur ein AC/DC-Interface, sondern hat Sensorik und Analytik im Inneren und er ist auch online. Das ist ein Vorgeschmack darauf, wie sich Feldgeräte untereinander in Zukunft koordinieren. Derzeit gibt es vielerorts noch gar keine Kommunikationsinfrastruktur auf Niederspannungsebene – diese Teilnetze sind aber jene Ebene, auf der gerade verstärkt Ladeinfrastruktur aufgebaut wird und die damit signifikante Lasten zu managen hat. Also kann es durchaus sinnvoll sein, in einer Ortsnetzstation eine gewisse Intelligenz vor Ort zu installieren. Wir haben dazu ein Forschungsprojekt mit neuronalen Netzen, die eben auch außerhalb fest vorgeschriebener Regeln handeln können.

Gebäudetechnik hilft auch bei der vielseitigen Nutzung eines Gebäudes durch unterschiedliche Mieter. Digital Twins, die bereits in der Projektierungsphase eines Gebäudes erstellt werden, begleiten das Objekt während seines gesamten Lebenszyklus. Sie sind weit mehr als nur ein digitales Abbild, da sie Analysen und Optimierungen überhaupt erst ermöglichen.


Branchentreff und Zukunftstechnologien

Unter dem Motto »Connecting an all-electric world« präsentierte Siemens am 27. Juni über 400 Besuchern zukunftsweisende Technologien und Lösungen für die Energiebranche in der Wiener Unternehmenszentrale Siemens City. Der Wandel der Energiemärkte, das Aufkommen erneuerbarer Energieträger, die zunehmende dezentrale Energieerzeugung, neue Formen der Energieumwandlung und Energiespeicherung sowie die verstärkte Digitalisierung bringen massive Herausforderungen für die Akteure am Energiemarkt. Gleichzeitig bieten sich durch die neuen Technologien große Chancen, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, und intelligente und digitale Lösungen sowie innovative Geschäftsmodelle umsetzen zu können.

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