Sonntag, Dezember 22, 2024
Gefangen in der Wachstumsfalle: Was zählt wirklich?

Erfahren Sie im zweiten Teil der Serie »Gefangen in der Wachstumsfalle«, was Unternehmen tun können beziehungsweise sogar müssen, um in Zukunft erfolgreich zu sein.

Im ersten Teil der Serie »Gefangen in der Wachstumsfalle« (Energie Report, Ausgabe 6 im November 2018) ging es um die scheinbaren Notwendigkeiten für Wachstum. Scheinbar deshalb, da im Unternehmens­alltag häufig auf einfach zu erfassende Werte wie Umsatzzahlen oder Unternehmenskennzahlen geachtet wird, während langfris­tige Veränderungen und Ausrichtungen nur peripher vorkommen. Bevor ich jetzt wieder als Sozialromantiker gebrandmarkt werde, möchte ich folgende Punkte klarstellen, welche für mich zum Thema Wachstum dazugehören:

1. Unternehmen müssen unternehmerisch handeln. Dazu gehört das Erwirtschaften eines gewissen Profits, denn sonst ist eine Existenz nicht möglich. Es gehört aber auch dazu, eine gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, sonst landen wir wieder zwangsläufig in der Wachstumsfalle.

2. Menschen sind keine Ressource. Menschen haben eine Ressource in Form von Zeit, die sie dem Unternehmen zur Verfügung stellen. Diese muss wertschätzend behandelt und angemessen bezahlt werden, so dass die Menschen von ihrer Arbeit anständig leben können. Eine Diskussion über einen Mindestlohn, beispielsweise wie in Deutschland, sollte es eigentlich nicht geben.

3. Wachstum kann zu bestimmten Zeiten sinnvoll sein. Man muss sich als Unternehmenslenker aber immer fragen, was der Mehrwert davon und der Preis dafür ist. Eine Expansion ist nicht zwangsläufig sinnvoll und die langfris­tigen Konsequenzen müssen stets im Blick sein.

4. Es ist nicht notwendig jedes mögliche Wachstum, das ein Markt eventuell hergeben könnte – und hier achte man auf den Konjunktiv –, mitzunehmen. Beispielsweise wurden 2010 in China noch Wachstumsraten größer 10 % angenommen. Tatsächlich kamen nicht einmal 7 % heraus. Die Unternehmen, die sich auf das vermeintliche Wachstum in Form von Investitionen gestürzt hatten, bekamen danach Probleme, weil die Fixkosten trotz des nicht eingetretenen Wachstums vorhanden waren.

5. Wachstum auch als Erneuerung. Ein Organismus in der Natur erneuert sich ebenfalls nach einer gewissen Zeit. Beim Menschen geht man davon aus, dass alle sieben Jahre sämtliche Zellen einmal erneuert wurden. Wenn man für Unternehmen Wachstum in Form einer Weiterentwicklung und damit Erneuerung begreift, ist dies ein sinnvoller und gerade in heutigen Zeiten, in denen Märkte und Kundenerwartungen volatiler geworden sind, wichtiger Schritt. Diese Erneuerung ist jedoch nur möglich, wenn man nicht einseitig auf Effizienz und Produktivität schaut, sondern auch viel Zeit für Lernen und Ausprobieren verwendet.

6. Die klassische Trennung von »Kopf« und »Hand« – das Management (»oben«) denkt, die Mitarbeiter (»unten«) arbeiten – muss verschwinden. Bei den Mitarbeitern steckt ein großes Ideenpotenzial. Es gehört zur primären Aufgabe von Führungskräften, die Menschen dahin zu entwickeln, ihre Ideen zu äußern, Dinge auszuprobieren und durch Fehler besser zu werden. Hier ist die Fehlerkultur ein ganz entscheidender Faktor, denn in Unternehmen, die einseitig auf Effizienz und Produktivität schauen, sind Fehler immer ein Malus, dabei gehören sie zu jeder menschlichen Entwicklung dazu und bilden die Basis für jede Verbesserung.

Alles nur Sozialromantik?

Unternehmen müssen in weiten Teilen umdenken. Das heute einseitig auf Wachstum ausgerichtete Denken und Handeln ist eben kein wirtschaftliches Handeln, sondern vielmehr ein egoistisches, mitunter ein von Gier getriebenes Verhalten. Die erwirtschafteten Gewinne, die häufig kurzfristig sind und den betreffenden Unternehmen langfristig eher schaden als nützen, werden lediglich auf eine kleine exklusive Schicht, nämlich auf die (Anteils-)Eigentümer und das Top-Management, verteilt. Die eigentlichen Macher, also die Mitarbeiter an der Basis, gehen dabei meistens leer aus.

Bereits 2006 formulierte der deutsche Volkswirt Niko Paech die Theorie der »Wachstumsrücknahme« oder im Gesamtkontext auch als »Postwachstums­ökonomie« bezeichnet (in seinem Buch »Befreiung vom Überfluss«). Seine Idee besteht darin, eine Wirtschaft zu leben, die auf den Menschen ausgerichtet ist und für die Gesamtheit der Gesellschaft da ist und nicht umgekehrt.

Wenn man derartige Ansätze verfolgt und propagiert, muss man sich oft den Vorwurf gefallen lassen, man wäre ein Illusionist und hätte nicht verstanden, wie Wirtschaft nun mal funktioniert. Dies muss aber klar bestritten werden. Derartige Ansätze sind in einigen, meist kleinen und mittelständischen Unternehmen, heute schon existent.

Europäische Beispiele

Es gibt Unternehmen, die nicht auf Wachstum ausgerichtet sind. Sie wachsen zwar teilweise auch, setzen das aber nicht voraus, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Auch Phasen ohne Wachstum sind willkommen und die Expansion wird nur dann akzeptiert, solange Werte für Kunden geschaffen werden und diese ethisch und unter Aspekten gesellschaftlicher Verantwortung tragbar sind. In Zeiten, in denen es Wachstum gibt, wird dieses sogar bewusst eingeschränkt, weil man davon ausgeht, dass zu viel Wachstum grundsätzlich problematisch ist.

Auch wenn die Beispiele nicht neu sind, möchte ich Unternehmen wie Sonnentor (Kräuter, Tee, Gewürze aus biologischem Anbau) und die Waldviertler Schuhwerkstatt sowie Trigema und Liqui Moly (beide aus Deutschland) nennen. Deren Eigentümer leben und praktizieren Ansätze, wie sie auch im Kodex des »Ehrbaren Kaufmanns« formuliert sind: Menschen werden als Quelle der Verbesserung wertgeschätzt, anständig bezahlt und unternehmerische Entscheidungen werden stets im Kontext ökologischer und gesellschaftlicher Verantwortung hinterfragt.

Auch wenn es sich hier um kleine beziehungsweise mittelständische Unternehmen handelt, so zeigen die Beispiele, dass eine andere Sichtweise auch in unseren mitteleuropäischen Ländern möglich ist und dass solche Unternehmen entgegen vieler marktliberaler Annahmen sehr profitabel sein können.

Im dritten Teil der Serie werden wir einen Konzern vorstellen, der einen eigenwilligen Weg in Bezug auf das Wachstum geht (Link).



Zur Person

Mario Buchinger ist promovierter Physiker, Querdenker und Visionär. Er wurde unter anderem durch ehemalige Toyota-Manager in Deutschland und Japan zum Kaizen-Trainer und Lean-Experten ausgebildet. Zehn Jahre lang war Mario Buchinger bei Daimler und Bosch tätig. Als interner Trainer und Coach begleitete er die Organisationen hin zu einer kontinuierlichen Verbesserungskultur in allen Bereichen und auf allen Führungsebenen und setzte weltweit Verbesserungsaktivitäten an verschiedenen Produktionsstandorten um. Im Jahr 2014 gründete er das Unternehmen Buchinger|Kuduz, zu dessen Kunden nicht nur die produzierende Industrie, sondern auch Unternehmen aus der Finanz- und Bauwirtschaft, den Medien oder der Lebensmittelindustrie zählen.

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