Mittwoch, November 20, 2024

Andreas Matthä, Vorstandssprecher der ÖBB-Infrastruktur AG, spricht im Interview über die Hebelwirkungen der ÖBB-Infrastrukturinvestitionen und die Auswirkungen der Budgetkonsolidierung auf die Bauvorhaben. Außerdem erklärt er, warum die ÖBB gerade jetzt an allen Fronten gleichzeitig baut und sich große Infrastrukturprojekte nur volkswirtschaftlich rechnen können.

Report: Die ÖBB sieht sich gerne als Konjunkturlokomotive Österreichs. Warum?
Andreas Matthä: Die Bahninfrastruktur ist der Blutkreislauf Österreichs. Wir sorgen dafür, dass der Standort Österreich pulsiert. Damit noch mehr Menschen und Unternehmen die Vorteile der Bahn nutzen, investieren wir jährlich mehr als 2 Mrd. Euro in den Erhalt und den Ausbau des Schienennetzes.

Report: Welche Hebelwirkungen erwarten Sie sich von den ÖBB-Investitionen für die Wirtschaft und den Standort Österreich?
Matthä: Die Investitionen bringen vielfachen Nutzen: Unsere Fahrgäste profitieren von modernen, barrierefreien Bahnhöfen, von mehr Komfort und besseren Verbindungen. Für die Unternehmen entstehen mehr Transportkapazitäten im Güterverkehr und bessere Anbindung an internationale Märkte. In den ersten 30 Betriebsjahren erzielen wir mit unseren großen Infrastrukturprojekten regionale Wachstumseffekte von rund 26,7 Mrd. Euro.
Außerdem sind Investitionen in die Bahninfrastruktur eine treibende Kraft für den Arbeitsmarkt und die Konjunktur. Das ist gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wichtig. Aktuelle Studien haben gezeigt, dass durch die Bauprojekte des ÖBB-Rahmenplans 48.500 neue Jobs in der Privatwirtschaft entstehen. Und zusätzlich ersparen der ÖBB-Personenverkehr und Güterverkehr der Natur rund 3,4 Mio. Tonnen CO2 pro Jahr. Mit dem Ausbau von Strecken und Verkehrsangeboten wird diese positive Klimabilanz der ÖBB weiter ansteigen.

Report: Welche gesellschaftspolitischen Auswirkungen haben die ÖBB-Investitionen aus Ihrer Sicht?
Matthä: Die Bahn ist ein ökologisches Verkehrsmittel und ist überall dort wettbewerbsfähig und vorteilhaft, wo viele Personen oder Massengüter kostengünstig befördert werden sollen. Vor allem in der Vernetzung von Ballungsräumen hat die Bahn klare Systemvorteile. Diese Vorteile werden im Zeitalter des Klimawandels immer wichtiger werden.
Gleichzeitig tragen wir mit unserer Infrastrukturoffensive auch dem demografischen Trend Rechnung: Denn einerseits zeichnet sich ab, dass immer mehr Menschen von den Regionen in die Ballungsräume siedeln. Andererseits wächst das Mobilitätsbedürfnis der Bevölkerung und die wirtschaftliche Vernetzung in Europa.

Report: Wo liegen die Schwerpunkte der Investitionsvorhaben der ÖBB?
Matthä: Der Schwerpunkt liegt auf dem Ausbau der zwei großen Bahnachsen durch Österreich. Das ist einerseits die Westbahn und das Unterinntal, die wir viergleisig zu Hochleistungsstrecken ausbauen. Und andererseits die Südbahn, die mit Pottendorfer Linie, Koralmbahn und Semmering Basistunnel Neu als Teil der internationalen Baltisch-Adriatischen Achse ausgebaut wird. Hinzu kommen große Bahnhofsmodernisierungen: Der Wiener Westbahnhof, St. Pölten Hauptbahnhof und Salzburg Hauptbahnhof werden derzeit zu modernen, kundenfreundlichen Verkehrsdrehscheiben ausgebaut. Und gleichzeitig entsteht in Wien mit dem Hauptbahnhof ein neuer, internationaler Großbahnhof. Mit diesen Investitionen binden wir das ÖBB-Netz perfekt ins europäische Hochleistungstreckennetz ein. Parallel dazu wenden wir fast 900 Mio. Euro für den Erhalt und die Verbesserung des Bestandsnetzes auf.

Report: Warum wird jetzt an allen Fronten gleichzeitig gebaut?
Matthä: In den 80er- und 90er-Jahren gab es einen Rückstau bei Investitionen in die Bahn. Das hat sich mittlerweile deutlich geändert. Seit einigen Jahren gibt es eine Investitionsoffensive im Bereich der Bahninfrastruktur und Bahnanlagen und beim rollenden Material. Aber wir haben viel aufzuholen. So sind wir zum Beispiel auf der Westbahn an der Auslastungsgrenze und brauchen dringend mehr Kapazitäten – die wir mit dem Ausbau ab Ende 2012 bekommen. Gleichzeitig müssen wir aber auch viele Problemstellen im bestehenden Schienennetz sanieren, um die Qualität des Bahnbetriebs zu verbessern.

Report: Im Zuge der Budgetkonsolidierung sind alle Bereiche zum Sparen aufgefordert. Wie wirkt sich das auf die Bauvorhaben der ÖBB aus?
Matthä: Wir sind natürlich genauso gefordert, zu den Einsparungszielen beizutragen. Derzeit evaluieren wir gemeinsam mit dem BMVIT alle ÖBB-Infrastrukturprojekte hinsichtlich Einsparungsmöglichkeiten. Genaueres können wir erst nach Abschluss sagen.

Report: Die ÖBB investiert nicht in erster Linie, um die Wirtschaft anzukurbeln. Welchen Nutzen haben die Bundesbahnen selbst von den Milliardeninvestitionen, und anders gefragt: Können sich diese Investitionen jemals rechnen?
Matthä: Im Mittelpunkt unserer Investitionen stehen die Kunden: die Fahrgäste und Unternehmen, welche die Bahn für Personen- und Güterverkehr nutzen. Diesen Kunden wollen wir bessere Verbindungen, mehr Transportkapazität, mehr Komfort und eine direkte Anbindung an ganz Europa bieten.
Der Ausbau der Schieneninfrastruktur und die Modernisierung von Bahnhöfen haben einen Zweck: die Bedürfnisse und Anforderungen unserer Kunden möglichst optimal zu erfüllen. Wenn uns das gelingt, werden wir auch in Zukunft tolle Zuwächse beim Personen- und Güterverkehr auf der Schiene erleben.
Rein betriebswirtschaftlich können sich diese großen Infrastrukturinvestitionen nicht rechnen – und zwar nirgendwo auf der Welt. Das gilt für Schiene und Straße gleichermaßen. Zieht man aber eine volkswirtschaftliche Betrachtungsweise heran, dann sieht die Bilanz schon deutlich besser aus. Schon während der Bauzeit fließt die Hälfte der Investitionen durch Steuern, Abgaben und Sozialversicherungsbeiträge zurück in die Staatskasse. Die Rückflüsse aus den ÖBB-Infrastrukturprojekten liegen den ersten 30 Jahren des Betriebs immerhin bei 80 Prozent.

 

Hintergrund: Baufortschritt am Wiener Hauptbahnhof

Ende 2009 fiel der Startschuss für den Bau des neuen Wiener Hauptbahnhofs. Alle Abschnitte des Megaprojekts sind bereits in Bau, die Baustelle erstreckt sich derzeit über 40 Hektar. Bis zu 400 Personen und über 100 Baugeräte sind auf der größten Baustelle in Wien im Einsatz.
Seit Jänner verlassen täglich vier Züge mit je 14 Waggons die Baustelle, um den nicht wieder verwertbaren Anteil des Aushubmaterials abzutransportieren. Rund 250.000 Tonnen wurden bisher auf Bodenaushubdeponien gebracht.
Aktuell haben die Arbeiten am Rohbau des eigentlichen Bahnhofes begonnen. Über 45.000 m3 Beton fließen alleine in die Bodenplatte des rund 34.000 m2 großen Bahnhofes inkl. Garageneinfahrt, Zentralgebäude sowie Bauteile Nord und Süd. Um diesen enormen Bedarf decken zu können, produziert seit Mai eine baustelleneigene Betonmischanlage bis zu 180 m3 Beton pro Stunde. Für große Bauteile ist sogar die Herstellung von bis zu 1.200 m3 Beton pro Tag möglich. Ebenfalls bereits zu sehen sind die Stützen für die zwei Unterführungen unter den neuen Bahnhof. Auch das Tragwerk für die neue Südbahnhofbrücke ist bereits im Entstehen. Dazu starteten im April die Abbruch- und Erneuerungsarbeiten am Brückentragwerk Gudrunstraße und am Brückentragwerk Laxenburger Straße.
Schon Ende März wurde die ehemalige Verbindung von Süd- und Ostbahn, der sogenannte Steudeltunnel, stillgelegt. Als Ersatz wurde eine 859 Meter lange Umfahrung mit zwei Gleisen errichtet. Bis August 2012 wird der reguläre Personen- und Güterverkehr über diese Umfahrungsgleise geführt – ab dann verlaufen die Gleise bereits durch die neue Verkehrsstation.
Die Rohbauarbeiten für die neue Verkehrsstation laufen bis Herbst 2011, danach wird mit dem Innenausbau begonnen. Im Dezember 2012 soll der Durchgangsbahnhof in Teilbetrieb genommen werden. Die Fertigstellung der Verkehrsstation ist für Ende 2014, für das gesamte Bahn-Infrastrukturprojekt für 2015 geplant. 

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