Mittwoch, November 20, 2024
Erneuerbar in Bewegung
Der hafen* ist ein sozial-ökologisches Frauen-Wohnprojekt der Volkshilfe Wien. Im Zentrum stehen die Bauteilaktivierung mit einer innovativen prädiktiven Wettersteuerung und 100 % erneuerbarer Energieversorgung. (Fotos: Treberspurg & Partner Architekten, Michael Hierner, AIT)

Bei innovativen Energiekonzepten denkt man zuerst an PV, Wärmepumpe, Geothermie und Brennstoffzelle. Neue Energiekonzepte weichen davon nur unwesentlich ab, erweitern aber erneuerbare Systeme.

Im Forschungsfeld Erneuerbare Energie bleibt kein Stein auf dem anderen. »Momentan gibt es extrem viel Bewegung«, weiß Christoph Treberspurg, Geschäftsführer von Trebers­purg & Partner Architekten. Das sei wichtig, denn Fernwärme sollte vorrangig für die Umrüstung des Bestands genutzt werden, der nicht auf Niedrigtemperatur oder nur mit einem sehr großen Aufwand zu ändern ist. Neue Quartiere müssen dafür autark mit Niedrigtemperatursystemen in Kombination mit Wärmepumpen versorgt sein. »Autarkie ist noch ein bisschen Utopie, aber im Rahmen von Plusenergiequartieren wird diese durchaus schon umgesetzt«, betont er auf und verweist auf den »Campo Breitenlee«, das erste Plusenergiequartier im sozialen Wohnbau in Wien. »Die Gebäudefassade besteht aus Kartonwaben, die im Winter die solaren Erträge stark erhöhen, da die Sonnenstrahlen tief in den Aufbau eindringen können und sie reduzieren im Sommer den Wärmeeintrag.« Die integrierte semitransparente PV liefert die notwendige Energie für die ebenfalls integrierte Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung. In dieser Kombination bilden die genannten Maßnahmen ein Novum und sie steigern den Komfort der Mieter, die neben der Passivhaushülle auch von einer Reduzierung der Lärmbelastung und geringeren Betriebskosten profitieren. Auch bei der ersten Passivhaussanierung von Wiener Wohnen haben Treberspurg & Partner Architekten auf erneuerbare Energieträger gesetzt.

Innovativ kombinieren
Die zahlreichen Optionen erneuerbarer Energie lassen sich auf vielfältige Weise kombinieren. »Die entwickelten Konzepte verbinden höchste Gebäudeeffizienz mit hoher Vor-Ort-Energieerzeugung durch große PV-Anlagen und erdreichgekoppelte Wärmepumpenanlagen oder thermische Netze, kombiniert mit Maßnahmen von Demand Side Management sowie thermischen Speichern«, fasst Matej Banozic, Business Manager Circular Building Solutions am AIT, zusammen. Aus dem Forschungsprojekt »urban pv+geotherm« etwa ging die Kombination aus Geothermie mit Wärmepumpe und Photovoltaik für die Beheizung und Kühlung eines Stadtentwicklungsgebiets hervor. Dass auch soziale Wohnbauten zu 100 Prozent mit erneuerbarer Energie versorgt werden können, beweist das Projekt »Sozial100%Erneuerbar« in der Käthe-Dorsch-Gasse in Wien Hütteldorf. »Kombiniert sind hier Geothermie, Wärmepumpe, Warmwasserrückgewinnung, Asphaltkollektoren, Solarabsorber und PV mit einem intelligenten Energiemanagement«, beschreibt Michael Gehbauer, Geschäftsführer der Gemeinnützigen Wohnbauvereinigung für Privatangestellte, WBV-GPA, und erkennt in der Wärmequelle Abwasser erhebliches Potenzial für den urbanen Raum. »Wir sammeln Abwässer vom zum Beispiel Duschen und Wäschewaschen in einem großen Schacht, entziehen diesem mittels Wärmepumpen Wärme und können damit kaltes Wasser aufheizen.« Eine weitere Innovation sind Asphaltkollektoren. Absorberleitungen werden in Gebäudeoberflächen sowie unter Gehwegen, Straßen und Plätzen verlegt. »Die Abwärme wird in Erdsonden für die Gebäudeheizung gespeichert und über BTA in die Räume abgegeben«, informiert Gehbauer. Im Sommer erfolgt so die Kühlung.

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Bild: Mit Asphaltkollektoren hat die WBV-GPA eine Art Bauteilaktivierung unter der Asphaltdecke geschaffen.

Als entscheidender Schritt zur optimierten Nutzung der Sonnenenergie kann das Parabolrinnen-Solarmodul genannt werden, das an der TU Graz entwickelt wurde. Das Modul besteht aus einem rinnenförmigen Hohlspiegel, der die Sonnenstrahlen bündelt und das Sonnenlicht fokussiert auf die in der Brennlinie angeordneten PV-Zellen auftreffen lässt. Die Abwärme der Solarzellen wird an eine Kühlflüssigkeit abgegeben. Dadurch steigt der Wirkungsgrad der Zellen. Matej Banozic nennt als ein Beispiel das Pilotprojekt Gasthermenersatz, ein FFG-Forschungsprojekt mit Ochsner Wärmepumpen. »Ziel ist es, eine energetische Lösung für den Altbau zu finden. Das Ergebnis werden dezentrale und modulare schalloptimierte Wärmepumpen für Heizung, Kühlung und Warmwasser sein.« Die Wärmequelle wird optimalerweise von allen Wärmepumpen im Gebäude verwendet, entweder unter Nutzung der Außenluft oder der Erdwärme. Die Leitungsführung kann über den Kamin realisiert werden«, berichtet er. Deutliche Vorwärtssprünge erkennt Architekt Christoph Treberspurg bei PV, vor allem was gebäudeintegrierte PV betrifft.

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Bild: Als Gasthermenersatz eignen sich Kleinstwärmepumpen – ein Forschungsprojekt von AIT und Ochsner Wärmepumpen.

Ganzheitlich Betrachten
Dekarbonisierung und Verbesserung der Gebäudehülle müssen gemeinsam geplant werden. Hier sieht Treberspurg noch enormes Potenzial im Bestand. Dämmung ist vor allem für große Wohnbauten eine bedeutende Maßnahme: In einem gut gedämmten Gebäude ermöglicht eine thermisch aktivierte Betondecke mit ihrer Wärmespeicherfähigkeit Heizunterbrechungen von bis zu drei Tagen. Als positiver Nebeneffekt steigert sich auch der Wert der Immobilie. Laut Wirtschaftsforschern sinkt der Preis energetisch schlechter Gebäude im Schnitt um zwölf Prozent, während gleichzeitig der Wert energetisch guter Gebäude mit Energieausweis im Schnitt um 14 Prozent steigt. Banozic ergänzt die Umsetzung einer Dekarbonisierungsstrategie um das Einbeziehen grauer Emissionen sowie die Betrachtung der Emissionen im Betrieb.

Wandel im Bestand
Michael Gehbauer ist überzeugt, dass mit den heute zur Verfügung stehenden Instrumenten auch der Bestand dekarbonisiert werden kann. »Es ist eine Frage der Umsetzung. Vielfach bedeutet es einen Eingriff in die Privatsphäre der Bewohner*innen, das macht es etwas schwieriger.« Die Wärmepumpentechnologie sieht er als jene technische Umsetzungsvariante, die in Zukunft am stärksten zur Anwendung kommen wird. »Bewohner*innen müssen sich einfach an das neue Energiesystem ohne Heizkörper gewöhnen. Das System ist relativ träge. Werden Einstellungen geändert, tritt der Effekt mit teils langer Verzögerung ein.« Beim Projekt Käthe-Dorsch-Gasse in Wien Hütteldorf gebe es nach der zweiten Heizsaison allerdings nur positive Rückmeldungen. Einer der Vorteile sei, dass die Räume ohne Heizkörper nun besser genutzt werden können und sie optimal temperiert sind – auch ohne separate Kühlung im Sommer.

Bestehende Lücken
Auch Banozic sieht die technologischen Lösungen bereits am Markt, allerdings seien sie noch nicht ausreichend verbreitet und in der Kommunikation und Information müsse noch einiges getan werden. Seitens der Fördergeber gebe es Anreize, z. B. die Sanierungsoffensive 2024. »Man muss Technologie und Fördermaßnahmen aber verstärkt zusammenbringen«, ergänzt er. Gehbauer nennt als Lücke das Erneuerbare Wärmegesetz. »Es ist traurig, dass da jetzt ein bisschen die Luft draußen ist, was Ziele und Umsetzungsstrategien betrifft.« Der alte Entwurf hatte für den Ausstieg aus Kohle-, Öl und Flüssiggasheizungen in Bestandsgebäuden drei Gebote festgelegt: Stilllegungs-, Erneuerbaren- und Umstellungsgebot. »Im beschlossenen Gesetz ist keine Regelung mehr für Bestandsgebäude enthalten. Die Bewohner*innen sind jetzt auf sich allein gestellt und es gilt Eigenverantwortung.«

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