Freitag, November 22, 2024
»Das Ziel ist, ohne Verträge auszukommen«
»Projekte scheitern nicht daran, dass es keine Experten gibt, sondern daran, dass wir das Expertenwissen, das bei jedem Projekt vorhanden ist, nicht auf die Straße bekommen«, ist Bülent Yildiz, refine projects (r.), überzeugt. Albert Achammer, Geschäftsführer ATP architekten ingenieure Hamburg (l.), entgegnet: »Es braucht mehr als nur die effizientere Einbindung der Beteiligten.«

Im Interview mit dem Bau & Immobilien Report erklären Bülent Yildiz, CEO refine projects, und Albert Achammer, Geschäftsführer ATP architekten ingenieure Hamburg, warum die Baubranche einen radikalen Kurswechsel braucht, wie echte Kollaboration gelingen kann und woran Mehrparteienverträge häufig scheitern.

Die Bauwirtschaft steuert auf stürmische Zeiten zu. Was muss passieren, um den drohenden Abschwung so gering und kurz wie möglich ausfallen zu lassen?

Bülent Yildiz: Jeder Abschwung birgt die Chance, Innovationen beschleunigt umzusetzen. Das hat auch die Coronakrise gezeigt, als die Digitalisierung in vielen Bereichen, auch in der Bauwirtschaft, von heute auf morgen umgesetzt werden konnte.

Albert Achammer: Es gibt unterschiedliche Einflussfaktoren. Die marktwirtschaftlichen Faktoren kann man kaum beeinflussen, etwa die extreme Überbewertung von Immobilien und vor allem Grundstücken. Das hat in Verbindung mit den hohen Zinsen im spekulativen Bereich zu einem kompletten Baustopp geführt. Ich denke, da können wir relativ wenig machen. Das ist ein Marktmechanismus, der sich selbst regulieren muss. Wo wir allerdings Handlungsspielraum haben, ist bei den Kosten und der Frage der Produktivität. Da geht es darum, Verschwendung so gut wie möglich zu reduzieren und ganze Prozesse und Abläufe völlig neu zu denken. 

Verschwendung vermeiden ist ein Ziel von Lean Construction. Ist Lean die Zauberformel?

Yildiz: Lean Construction heißt, respektvoll mit personellen und materiellen Ressourcen umzugehen. Es geht darum, einen Fluss herzustellen und die Durchlaufzeit in der Produktion zu reduzieren. Wenn wir diesen Fluss hergestellt haben, können wir durch ein gemeinsames Verständnis und konsensuales Denken die Effizienz steigern. Damit reduzieren wir die Kosten und verbessern die Wertschöpfung in der Bauprojektabwicklung. Eine Verschwendung, die vielfach noch gar nicht gesehen wird, ist die Tatsache, dass wir mitunter bei jedem Projekt sehr viele Know-how-Träger haben. Projekte scheitern nicht daran, dass es keine Experten gibt, sondern daran, dass wir das Expertenwissen, das bei jedem Projekt vorhanden ist, nicht nutzen. 

Ist Early Contractor Involvement eine Möglichkeit, das vorhandene Expertenwissen anzuzapfen und für das Projekt nutzbar zu machen?

Achammer: Das ist ein zweischneidiges Schwert. Die Baubranche versucht seit Jahren mit Early Contractor Involvement und Early Procurement die ausführenden Unternehmen frühzeitig zu integrieren. Um die Projekt­abwicklung auf ein neues Plateau zu bringen, reicht das nicht aus. Es braucht mehr als nur die effizientere Einbindung der Beteiligten. 

Man kann aber auch den Prozess und die Abläufe an sich verändern, das geht bis zu Integrierter Projektabwicklung (IPA) und Allianzverträgen. Aber da muss man höllisch aufpassen, denn damit nehme ich nicht nur Veränderungen auf der vertragliche Ebene vor, sondern ganz stark auch auf der kulturellen Ebene. Das braucht viel Zeit, bis man sich so aufeinander einlassen kann, wie es diese Modelle benötigen. Eine Industrie, die jahrzehntelang darauf trainiert wurde, Fehler in Plänen aufzuzeigen, um Nachträge zu generieren, dazu zu bringen, sich proaktiv in den Planungsprozess einzubringen, ist eine enorme Herausforderung. Es reicht nicht, nur die Organisation oder die Prozesse zu ändern, die Kultur muss sich ändern. Wir können alle in BIM planen, das heißt aber noch nicht, dass wir wirklich zusammenarbeiten wollen.

Was muss also geschehen?

Yildiz: Es geht darum, das Planen und Bauen anders zu betrachten. Die Frage darf nicht mehr lauten: »Was ist gut für mich?«, sondern: »Was ist gut für das Projekt?« Es geht um das Produkt. Andere Branchen haben gezeigt, wie das funktionieren kann. Apple entwickelt das iPhone gemeinsam mit seinen Lieferanten, und zwar ab einer sehr frühen Phase.  

Achammer: Umgelegt auf die Baubranche würde das Display entwickelt ohne mit dem Kamera- oder Gehäuseentwickler zu sprechen. Das ist undenkbar. Es geht um etwas, das wir bei ATP schon lange versuchen umzusetzen, das ist die integrale Planung. Wir haben jetzt die ersten Modelle entwickelt, wo es genau darum geht, das Know-how aller Beteiligten ins Boot zu holen. Und zwar nicht nur die klassischen Gewerke, sondern bis hin zu verschiedenen Abwicklungs- oder Procurement-Modellen, die möglich sind. 

Yildiz: High-Performance-Produkte wie das iPhone sind das Ergebnis von High-Performance-Teams. Wenn das gelingt, können auch alle Beteiligten schönes Geld verdienen. Die Ausschreibung- und Vergabephase stellt Projektorganisationen immer wieder vor Herausforderungen. Diese Phase ist nicht wertschöpfend, um in der Lean-Sprache zu bleiben. Das macht man nur, weil das Vertrauen fehlt und wir in einer frühen Phase etwas planen, von dem wir hoffen, dass es in eine Leistungsbeschreibung gepackt und umgesetzt werden kann. Wenn es uns gelingt, frühestmöglich die Fachleute einzubinden und das Mindset zu entwickeln, dass das, was dem Projekt gut tut, auch mir gut tut, dann brauche ich diese klassischen Ausschreibungen in einer frühen Vertragsphase nicht mehr. Idealerweise wird der Vertrag zum Nebenprodukt eines harmonischen und bereits gut definierten Prozesses.

Warum ist es so schwierig, diesen Best-for-Project-Gedanken in der Branche zu verankern?

Yildiz: Wir haben ein Vertrauensproblem. Das Vertrauen, dass etwas, das dem Projekt gut tut, auch mir gut tut, fehlt einfach. Der Projektleiter eines Generalunternehmers wird am wirtschaftlichen Ergebnis für die Baufirma gemessen. Der Bauherrenvertreter wird daran gemessen, dass die erwartete Qualität tatsächlich umgesetzt wird. Das Bauunternehmen will nur seine Kosten reduzieren, der Bauherr die Kosten halten und die Qualität erhöhen. Das ist ein klassischer Zielkonflikt, wir sitzen auf zwei verschiedenen Seiten eines Tisches. Wir müssen zu dem Punkt kommen, wo wir alle in einem Boot sitzen und wenn einer absäuft, dann gehen alle unter.  

Ist die Lösung die Risikoteilung wie bei IPA oder dem Allianzvertrag?

Yildiz: Das ist ein Ansatz, der aber vor allem bei den großen Corporates scheitert. Einkaufsabteilungen werden üblicherweise an ihrem Verhandlungserfolg gemessen. Zwischen dem Erstangebot und der Beauftragung muss es ein sogenanntes Saving geben. Das bonusgetriebene Handeln der Einkaufsabteilungen ist mit ein Grund, warum diese Modelle noch nicht den großen Erfolg haben. 

Achammer: Gerade bei den Corporates oder auch einfach wenn man mit angestellten Mitarbeitern zu tun hat, fehlt auch oft der unternehmerische Mut. In Deutschland und Österreich ist das Bauen ja fast ein Nebenprodukt des Schriftverkehrs. Es geht immer nur um Absicherung und Protokolle. Kooperative Modelle funktionieren, wenn sich die oberste Führungsebene ganz klar dafür ausspricht.

Funktionieren IPA und Allianzmodelle besser, wenn die Kernkompetenz des Bauherrn das Bauen ist?

Yildiz: Der Bauherr muss akzeptieren, dass er nicht über fünf, sechs Runden gehen muss, um seinen besten Partner zu finden. Der Bauherr muss darauf vertrauen, dass er in einer frühen Phase den richtigen Partner hat und das Projekt so optimiert wird, dass Verschwendung reduziert und der Mehrwert erhöht wird.

Achammer: IPA und Allianzverträge sind Verträge unter Nichtgleichen, die sagen, sie seien gleich. Da ist ein Projektentwickler mit einer Bilanz von ein paar Millionen Euro im Vertrag, eine Baufirma mit ein paar Milliarden und ein Architekt mit, sagen wir, 200.000 Euro. Natürlich gibt es in diesen Modellen Minderheitsrechte, die aber den anderen Partnern dann als unfair und nicht partnerschaftlich erscheinen. Das führt dann dazu, dass diese Verträge nicht umgesetzt werden. Leider!

Wie kann man den Weg zu IPA und Allianzmodellen, zu echten kooperativen Modellen, dennoch schaffen?

Achammer: Ich glaube, das geht nur in kleinen Schritten. Das ist wie ein Change Management in einem Unternehmen. Das geht nicht von heute auf morgen. Gerade das Thema Transparenz ist heikel. Wir fangen gerade an, mit unseren Bauherrn Planungsbesprechungen an Lean Boards zu machen. Damit werden auch die Pflichten des Bauherrn sichtbar und für alle nachvollziehbar. Da entsteht eine ganz andere Dynamik, ein Dialog auf Augenhöhe. Man lernt die Abhängigkeiten besser verstehen. Das ist ein erster Schritt, das kann man mit Lean Construction auf der Baustelle wunderbar umsetzen. Wenn man diese Schraube dreht, dann werden auch neue Prozesse und Technologien besser angenommen.

Yildiz: Die Kultur ist ganz wichtig, um nachhaltige Veränderung zu ermöglichen. Ich glaube, wir müssen aber auch ein Verständnis dafür schaffen, wie Bauprojekte heute funktionieren. Es wird heute baubegleitend geplant und geändert. Komplexität reduzieren wir nur mit ganz einfachen Mitteln. Wir müssen aber auch darüber sprechen, was Kollaboration eigentlich ist. Kollaboration ist Kooperation, also Zusammenarbeit, plus gemeinsames Verständnis und Vertrauen. Das Verständnis, wie ein Gebäude eigentlich entsteht, und das Vertrauen fehlen aber in den meisten Fällen. Das Ziel sollte sein, Bauprojekte als Produktionen zu sehen, die mit der Übergabe an den Bauherrn enden. Dieses Produktionsdenken mit einem kollaborativen Ansatz wird es in Zukunft brauchen, sonst stellt uns nicht nur die Konjunkturdelle vor Herausforderungen, sondern auch noch der fehlende Nachwuchs. 

Wenn Sie einen Wunsch an die Baubranche frei hätten, was wäre das?

Yildiz: Ich würde gerne auf Verträge verzichten. Wenn wir den Zustand erreichen, dass wir keine Verträge mehr brauchen, dann ist die Veränderung im Kopf angekommen.

Wie kann das in der Praxis funktionieren?

Achammer: Indem der Mehrparteiengedanke, dass wir alle in einem Boot sitzen und uns das gemeinsame Ziel vereint, mit dem Boot das Ufer zu erreichen, Realität wird. Man braucht keinen Vertrag, um zu regeln, wie man sich in so einer Situation im Boot verhält. Alle Insassen sind intrinsisch motiviert, das Boot ans Ziel zu lenken. Wenn »Best for Project« bedeutet »Best for me«, dann können wir uns viel schneller auf die beste Lösung konzentrieren und uns nicht damit aufhalten, uns mit endlos langen Verträgen und unzähligen Klauseln abzusichern.

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