Freitag, November 22, 2024
Geothermie für den Wohnbau
Titelbild: Der erste Schritt bei Tiefengeothermie liegt in seismischen Messungen des Untergrunds. Beim Projekt »Geotief Wien« waren beispielsweise 16.000 Sensoren im Einsatz, die 50 TB an Datenmaterial geliefert haben. (Credit: Wien Energie)

Eine erfolgreiche Energiewende muss vor allem im Wärme- und Kältesektor ansetzen. Der Energiebedarf in Österreich liegt hier bei mehr als 50 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs. Geothermie bildet einen bedeutenden Baustein für die Energietransformation.

»Geothermie ist nichts Neues in Österreich«, stellt Peter Keglovic, Projektleiter Tiefengeothermie bei Wien Energie, einleitend klar. Die Nutzung der Tiefengeothermie hat ihren Ursprung in der Erdölkrise der 1970er Jahre, als nach Ersatztechnologien für teures Heizöl gesucht wurde. Mittlerweile wird sie schon als dezentrale Wärmeversorgung eingesetzt. 2020 wurden 2,3 TWh Wärme produziert, bis 2040 könnten es 14 TWh werden. Tiefengeothermie wurde zuerst balneologisch, d. h. in Thermalbädern genutzt, teilweise schon energetisch. »Jetzt kommt Tiefengeothermie auch in urbane Gebiete und wird für die Fernwärme genutzt«, berichtet Keglovic.

»Wir kombinieren Tiefengeothermie mit Hochtemperaturwärmepumpen, um die Anlage noch effizienter zu machen«, berichtet Peter Keglovic. (Bild: Wien Energie/ Christian Hofer)

Das auszuschöpfende Potenzial ist dabei erheblich, denn erst zehn Prozent der potenziellen Thermalwasservorkommen werden für die Geothermie genutzt. Es bedarf rasch besserer regulatorischer Rahmenbedingungen. Das Aufsuchen und Gewinnen von Öl und Gas ist in Österreich bisher rechtlich bessergestellt als Geothermie. Erdwärme müsse rasch als Energierohstoff deklariert werden. »Geothermie ist einer der wichtigsten Bausteine für die Energietransformation«, betont auch Ursula Mollay vom Österreichischen Institut für Raumplanung, ÖIR.

Große Vielfalt

»Geothermie ist allgemein hoch skalierbar«, informiert Markus Leeb, Professor an der FH Salzburg. Im kleinvolumigen Wohnbau stehen Kollektor- und Sondenlösungen bereit, Kollektoren überwiegend beim Neubau, Sonden bei Sanierung. Im großvolumigen Wohnbau geht die Entwicklung Richtung Multisource in der flexiblen Kombination von Kollektor, Sonde und Grundwasser als Erdwärmequelle. Für Quartiere, Nachverdichtung und städtische Wärmeversorgung geht der Trend Richtung Fernwärme 5.0, der kalten Fernwärme bzw. einem Anergienetz.

Bis 300 Meter

»Oberflächennahe Geothermie ist in allen Aspekten so weit erforscht, dass sie in der Praxis im Neubau und Bestand umgesetzt werden kann«, berichtet Professor Dietmar Adam, Vorstand des Instituts für Geotechnik der TU Wien. Genaue Zahlen sind aber schwer zu ermitteln, da in manchen Bundesländern kein Bewilligungsverfahren nötig ist. Helfen können die Verkaufszahlen und -prognosen von Wärmepumpen, da diese bei oberflächennaher Geothermie einen elementaren Bestandteil bilden, um das nötige Temperaturniveau für den Heizungskreislauf zu erreichen.

Geothermie in Österreich: Die höchsten Wärmestromdichten sind im Süden und Südosten Österreichs zu finden, die geringsten in den nördlichen Kalkalpen und den Karawanken.

2022 hat die Wärmepumpe mit mehr als 50.000 neu installierten Heizsystemen rund die Hälfte des Heizungsmarktes in Österreich gebildet. Um 2040 einen klimaneutralen Gebäudebestand zu erreichen, braucht es jährlich über 60.000 neu installierte Wärmepumpen-Heizungsanlagen. Richard Freimüller, Präsident Wärmepumpe Austria, ist optimistisch. »Mit der aktuellen Entwicklung sind wir auf einem guten Weg, diese Ziele zu erreichen.« Erdwärmegekoppelte Anlagen sind dabei laut FH Salzburg effizienter als Luft/Wasser-Wärmepumpen und bieten dazu die Möglichkeit des hocheffizienten Kühlens.


Zur Verstromung

Tiefengeothermie kann als Wärmequelle, Wärmesenke und Speichermedium genutzt werden. In den ersten 100 Metern unter der Erdoberfläche herrschen nahezu konstant 10 °C. Darunter steigt die Temperatur im Mittel um 3 °C pro 100 Meter an. Das Ziel der Wärmeversorgung steht bei Tiefengeothermie an erster Stelle. Zehn Anlagen produzieren in Österreich bereits 300 GWh Wärme. Geothermie lässt sich auch verstromen, das Potenzial hierfür ist in Österreich aufgrund geringerer Bodentemperaturen allerdings eingeschränkt: Zwei Anlagen zur Verstromung sind in Betrieb, sie erzeugen rund 1 GWh Strom. Ein Vergleich: In Island decken sechs größere Geothermiekraftwerke etwa 26 Prozent des Strombedarfs und versorgen knapp 90 Prozent der Haushalte mit Wärme.


In Tiefen bis zu 5.000 Meter

»Wir sind mitten in der Wärmewende«, betont Edith Haslinger, Senior Scientist am AIT und stellvertretende Obfrau sowie Fachausschusssprecherin für Forschung und Ausbildung des Vereins Geothermie Österreich. Tiefengeothermie ist eine ideale Lösung, da sie lokale Ressourcen nutzt, für Heizen und Kühlen sowie als Speichermedium für überschüssige Wärme eingesetzt werden kann. Ein oft genanntes Projekt für Geothermie ist die Seestadt Aspern. Wien Energie plant eine tiefengeothermische Anlage mit einem Leistungspotenzial von 20 MW, die bis zu 20.000 Wiener Haushalte versorgen kann.

»Wir sind im Zeitplan«, informiert Peter Keglovic. Die Vorarbeiten starten heuer, die Bohrarbeiten je nach Verfügbarkeit von Bohranlagen 2024, die Inbetriebnahme der Anlage ist für 2026 geplant. Aspern sei die Blaupause für weitere Anlagen in Wien. Mit Tiefengeothermie kann rasch und effizient die Dekarbonisierung der Fernwärme erreicht werden. Bis 2030 soll der Anteil von Geothermie und Abwärmenutzung bereits 20 Prozent der Fernwärmeerzeugung ausmachen, 2040 sogar rund 50 Prozent. Der Fokus für weitere Anlagen liegt auf den Bezirken Donau­stadt und Simmering. Man befindet sich in intensivem internationalen Austausch, etwa mit München, wo bereits einige Anlagen in Betrieb sind.

»Energiegemeinschaften und Energienetzen gehört die Zukunft, man muss umfassend denken«, spricht sich Edith Haslinger, AIT, für Gemeinschaftsprojekte der Geothermie aus.(Bild: AIT)

Für Edith Haslinger ist ein wesentlicher Teil der Wärmewende, dass sie nicht auf die individuelle Ebene beschränkt wird. »Sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, d. h. Gemeinden und Grätzel müssen sich zusammenfinden und die Wärmegewinnung gemeinschaftlich betreiben. Mit Einzelhausumstellungen kommt man nicht weit«, urteilt sie. Deswegen sei es sehr zu begrüßen, dass Wien Energie Tiefenbohrungen plant und mithilfe des Thermalwassers ganze Ballungsräume über das Fernwärmenetz geothermisch beheizen kann. Dazu sei es wichtig, dass Eignungsgebiete vorausschauend festgelegt werden.

Und es braucht Förderungen. »Im Moment ist die Situation günstig«, berichtet ÖGUT-Energieexperte Gerhard Bayer und verweist auf Förderungen der Kommunalkredit Public Consulting im Rahmen von »Raus aus Öl und Gas« sowie Landesförderungen. »Es stellt sich aber die Frage, ob das noch viele Jahre so bleiben wird. Oft ist es so, wenn etwas zur Pflicht wird, werden oft die Förderungen zurückgefahren, weil ja niemand mehr überzeugt werden muss.« Zum Thema Unterstützung spricht sich Edith Haslinger für erweiterte Bedingungen aus. »Neben der Installation der Anlagen müssen auch die teilweise sehr teuren Planungsleistungen berücksichtigt werden.«

»Anergieleitungen können Häuser verbinden, sie sind technisch ganz simpel«, betont Gerhard Bayer. (Bild: ÖGUT)

Geo-Research

Geothermie ist ein wachsendes Forschungsthema. In vielen Fällen befassen sich Forscher*innen laut Ronny Boch vom Institut für Angewandte Geowissenschaften an der TU Graz mit fachlich verwandten Gebieten wie Hydrogeologie, Geothermie im Tunnelbau, Gasspeicherung im Untergrund usw. Als vorrangig sieht Edith Haslinger die Weiterentwicklung der Tiefbohrtechnik, der Bohrprozess müsse beschleunigt, Materialien hitzebeständiger werden. Boch verweist auf zwei FFG-geförderte Forschungsprojekte im Bereich der Tiefengeothermie: »Reinjektion« befasste sich mit der Erforschung der Parameter, welche die Rückführung von Thermalwasser in Sandstein abhängig von ihrer physikalischen und chemischen Eigenschaften beeinflussen.

Funktionsweise: Geothermie bildet einen geschlossenen erneuerbaren Kreislauf. Förderpumpen holen Thermalwasser aus dem Untergrund, Wärmetauscher entziehen die Wärme, die ins Fernwärmenetz eingespeist wird. Das abgekühlte Thermalwasser wird in dasselbe Thermalwasservorkommen rückgeführt. (Grafik: Wien Energie, APA Auftragsgrafik)

Ziel des Projektes »NoScale« waren die Beurteilung des Risikos von Ausfällungen und Korrosionen bei der Nutzung von thermalen Tiefengrundwässern in Geothermieanlagen und Thermalbädern. Die FH Salzburg beschäftigt sich intensiv mit der Kombination oberflächennaher Geothermie und Bauteilaktivierung. »Die großen Vorteile dieser Kombination liegen in der Effizienz, der Nachhaltigkeit, der hohen Lebensdauer ohne außen aufgestellter Technik und der idealen Ergänzung der volatilen erneuerbaren Stromerzeugung als variable, steuerbare Speicherquelle und Speichersenke zur netzdienlichen Sektorkopplung und Lastverschiebung per Wärmepumpe«, betont Leeb und nennt als Forschungsprojekte »soil2heat.net« und »Monigeofluid«.


Für den Wohnbau?

Der Bau+Immobilien Report hat Gemeindebund und den Verband der gemeinnützigen Bauvereinigungen (GBV) um eine Stellungnahme zu Geothermie ersucht: Der Gemeindebund sieht Geothermie als unerschöpfliche und damit interessante Energiequelle, die keine Speichersysteme benötigt, allerdings stellen die hohen Kosten für die Bohrungen ein deutliches Problem dar. Der GBV verweist auf den aktuellen Schwerpunkt Heizungsumstellung und aktuelle Geothermieprojekte: Biotop-Wildquell in Wien-Liesing, Wientalterrassen, Dreiersiedlung in Ternitz und ein Wohnprojekt in der Stadtgemeinde Altheim.

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