Wer hätte geahnt, dass sich mitten in der Hauptstadt ein architektonischer Schatz befindet? In Wien steht eine Vielzahl sogenannter Eisenbeton-Gebäude: Noch vor 1914 errichtet, sind sie nicht nur klug geplant, nachhaltig und extrem robust, sondern treffen gar den aktuellen Zeitgeist architektonischen Designs. Entdeckt hat sie Otto Kapfinger, Architekturwissenschaftler und Publizist, bei einer seiner Forschungen.
Als Kapfinger im Zuge einer Recherche für die große Otto-Wagner-Ausstellung 2018 zufällig die durch Umbau freigelegte, vielstöckige Betonstruktur eines Warenhauses in Mariahilf entdeckte, begab er sich auf Spurensuche - und landete in einer Terra incognita: „Es gibt da Dutzende in Materialqualität und Raumangebot beeindruckende Bauten, die immer noch in ausgezeichnetem Zustand sind, bemerkenswert. Vor allem private, aufstrebende Unternehmen schätzten damals die neuartige Technologie – und fanden in experimentierfreudigen Baufirmen wie Eduard Ast & Co. exzellente Partner. Viel von dem Wissen und dem heute fast unvorstellbaren Kooperationswillen aller involvierten Akteure ist jedoch verloren gegangen und ist auch in der einschlägigen heutigen Literatur fast nicht dokumentiert.“
Ein ehemaliges Fabriksgebäude in der Kaiserstraße 67–69, aktuell wird es von der Kreativszene mit großer Begeisterung genützt, war Schauplatz der Besichtigung mit Otto Kapfinger und der Vereinigung der Österreichischen Zementindustrie. Kapfinger ist regelrecht euphorisch: „Das Gebäude war 1905/06 als Firmensitz für Carl und Edmund Demuth – Edel-Walzwerk errichtet worden. Über die Jahrzehnte wurde es kaum verändert. Die weiträumige Struktur in Skelettbauweise ist bestens erhalten und beweist, dass auch entsprechende Neunutzungen sehr gut möglich sind.“
Ein Schnitt des Eisenbetongebäudes in der Kaiserstraße.
Für Kapfinger ist gerade dieser Bau ein Meilenstein der Ära, der vor groben Aufstockungen oder Eingriffen bewahrt werden sollte. Die Argumente dafür hat er kürzlich in einem umfangreichen Gutachten dargelegt: „Besonders ist hier, dass sich die sehr schlanke, innere Skelettbauweise auch direkt und pur an den Fassaden präsentiert. Ast & Co realisierte da erstmals in Wien vier Etagen hohe, großflächig verglaste Außenwände als vor Ort gegossene Betonstruktur, die nach dem Ausschalen noch händisch fein nachbearbeitet wurde. Auch das starke Dachgesims und die zarteren, horizontalen Gesimsbänder der Etagen wurden hier – unverkleidet sichtbar – Zug um Zug mit den Stützen und Plattenbalkendecken gegossen.“
Nachhaltiger Umgang mit Baumaterialien
Berthold Kren, Präsident der VÖZ, zeigte sich bei der Führung durch das Gebäude beeindruckt: „Wir müssen von der Geschichte lernen – die Baufirmen und Ingenieure der Zeit wussten bereits viel über den nachhaltigen Umgang mit Baumaterialien, aber auch mit Konstruktionen und Grundrissen. Tageslicht, maximale Raumhöhen, Verbindung nach
außen und höchste Flexibilität in der Nutzung: Das sind alles Aspekte, die wir heute wieder diskutieren. Einmal mehr bestätigen die aus meiner Sicht in der Tat erhaltenswürdigen Bauten: Beton ist Teil der Lösung unserer aktuellen Herausforderungen.“
Otto Kapfinger arbeitet mit einem kleinen Team bereits an einer Studie. Sie trägt den Titel: „Anatomie einer Metropole – Pionierjahre des Bauens mit Eisenbeton, Wien 1890–1914“. Zum Abschluss des Projekts soll es auch eine große Ausstellung im Wien Museum geben. Für das Team ist die Forschungsarbeit aber weit mehr als eine Beschäftigung mit erhaltenswürdigen Details oder Oberflächen: „Es ist eine integrierte Geschichte von Gesellschaft, Wirtschaft und Technik, von Planungs- und Lebenskultur. Wir gewinnen daraus auch klare Erkenntnisse für die Gegenwart und Zukunft von Bau- und Stadtgestalt.“
(Bilder: Otto Kapfinger)