Lean Construction gilt als eine besondere Variante des Lean Managements, die speziell auf die Bauwirtschaft ausgelegt ist. Wenn es um die gängigsten Missverständnisse von Lean geht, sind diese auch bei Lean Construction zu finden. Ein Gastbeitrag von Mario Buchinger.
Entstanden ist der Begriff »Lean« aus der Fehlinterpretation des Erfolgs von Toyota in der Automobilindustrie durch die drei MIT-Wissenschaftler Womack, Jones und Roos Anfang der 1990er-Jahre. Lean wird von vielen Beteiligten, Manager*innen wie Berater*innen, noch immer als eine Sammlung von Tools und Methoden gesehen, die es nur richtig zu implementieren gilt. Dass weitaus mehr dahintersteckt und dass die Methodik nur Mittel zum Zweck einer kontinuierlichen Veränderung ist, wird gerne vergessen.
Projekte statt Serie
Das Bauwesen zeichnet sich dadurch aus, dass das Produkt, welches für einen Kunden entsteht, in den meisten Fällen noch nie existiert hat. Es ist aber keineswegs so, dass das nur im Bauwesen vorkommt. Auch die produzierende Industrie hat solche Bereiche, Engineer-To-Order-Produktion genannt. Maschinen- und Anlagenbauer oder Werften im Schiffsbau kennen solche Gesamtwertströme, bei denen die Entwicklung und Konstruktion wesentliche Teile des Wertstroms ausmachen. Auch hier gibt es lange Projektlaufzeiten von Monaten oder Jahren.
Serienprozesse sind einfacher – oder doch nicht?
Der Serienprozess scheint zunächst einfacher zu sein, aber dieser Eindruck ist nur teilweise richtig. Schaut man nur auf den Bereich, in dem das Produkt entsteht, ist dies oft der Fall. Das Serienprodukt wird einmal entwickelt, um danach immer wieder reproduziert zu werden. Die Durchlaufzeiten sind nicht ansatzweise vergleichbar mit denen im Baugewerbe. Das liegt daran, dass Wertschöpfung und Komplexität des Produkts im Bausektor umfangreicher sind. Dazu kommt, dass Entwicklung und Design als Teile der Durchlaufzeit angesehen werden müssen.
Betrachtet man aber die Aspekte, die im Kontext von Lean wichtig sind, ist der Unterschied nicht mehr gegeben. Im »Lean-Gedanken« geht es unter anderem darum, den Prozess so wertschöpfend und verschwendungsarm wie möglich zu gestalten. Das, was für die Kund*innen wichtig ist, muss konstant im Fluss sein und ziehend gesteuert werden. Damit das einwandfrei gelingen kann, ist die Design- und Entwicklungsphase von enormer Bedeutung.
80 % des Aufwands entstehen im Design
Viele Dinge, die später im Ablauf Probleme bereiten, sei es in der Produktionshalle oder auf der Baustelle, sowohl im Projekt- als auch im Seriengeschäft, entstehen bereits in der Entwicklung. Produkte und Dienstleistungen müssen immer schon von Beginn an optimiert für die Wertschöpfung gedacht werden. In Zeiten der Klimakrise muss man auch dieses Thema gleich von Anfang an denken. Spricht man bei der industriellen Produktion von »Design For Manufacture and Assembley« (DFMA), heißt es bei klimarelevanten Themen »Sustainability by Default«. Beide Aspekte – auch wenn der Begriff DFMA im Kontext der Baubranche sicher zu kurz greift – müssen stets berücksichtigt werden.
Dabei geht es sowohl darum, ob der Bau eines Produkts oder Gebäudes umsetzbar ist, als auch um die logistischen Prozesse, die die Wertschöpfung umgeben. Letztere spielen im Bauprozess, besonders bei Baustellen im urbanen Raum, eine ganz besondere Rolle. Durch die dort vorhandenen Platzrestriktionen muss die Logistik entsprechend optimiert werden um Disposition, Lagerung und Transport auf ein Mindestmaß zu reduzieren.
Modularisierung ist die Königsklasse
Der Grad der Individualisierung nimmt seit Jahren immer weiter zu. Die Baubranche kennt dieses Thema. Aber auch eine Werft baut keine Schiffe von der Stange. Selbst Maschinenbauer sehen sich immer wieder mit nicht-funktionalen Kundenbedürfnissen konfrontiert. Die große Kunst ist es nun, diese ganz individuellen Kundenbedürfnisse so umzusetzen, dass man möglichst viel aus einem »Baukasten« bedienen kann. Die Maschinen- und Anlagenbauer versuchen zunehmend, ihre Produkte zu modularisieren und 70 bis 80 Prozent aus standardisierten Elementen zu konstruieren. Auf die Bauwirtschaft übertragen, werden Gebäude entwickelt, die zwar modularisiert gebaut, aber über die äußere Individualisierung dann weiterhin Unikate bleiben.
Es ist die große Kunst, individuelle Kundenbedürfnisse so umzusetzen, dass man möglichst viel aus einem »Baukasten« bedienen kann.
Die Baubranche fängt erst langsam an, diesen Weg zu gehen. Bei Ausschreibungen ist man sicherlich an gewisse Wünsche des Auftraggebers gebunden, aber auch hier stellt sich die Frage nach den Einflussmöglichkeiten. Wenn man den Lean-Construction-Gedanken ganzheitlich im Baugewerbe denkt, muss man auch diese Aspekte, die heute vielen unmöglich erscheinen, berücksichtigen und entwickeln.
Alles im Fluss und der Kunde zieht
Nach der Entwicklung kommt es auch auf die richtige Art und Weise der Umsetzung an. Das alte Lean-Prinzip »Fluss« gilt in allen Branchen, so auch in der Baubranche. Das Material soll im Idealfall immer in Bewegung sein. Die ganze Bewegung wird von der Instanz getriggert, die das Produkt braucht, nämlich von den Kund*innen. Im Fall von Lean Construction ist das logischerweise der so genannte Bauherr oder die Bauherrin. Von da an erfolgt der Fluss gemäß einer rollierenden Planung. Davon abgeleitet wird immer genau das Material gezogen, welches zum richtigen Moment gebraucht wird. Damit der Fluss fließen kann, braucht es Transparenz, Standards und eine strukturierte Kommunikation mit allen Beteiligten.
Denken Sie immer daran: Die Kund*innen interessieren sich nicht dafür, ob und wie viel wir mit einer »versteckten Fabrik« vergeuden. Alles, was wir am Anfang nicht mitdenken, hat exponentielle Konsequenzen im weiteren Verlauf und diese zahlen die Kund*innen nicht.
Prozesse verstehen, auch bei Digitalisierung
In vielen Projekten erlebe ich, dass möglichst viele digitale Tools zum Einsatz kommen sollen. Das ist grundsätzlich ein nachvollziehbarer Wunsch. Problematisch wird es aber dann, wenn man einen instabilen und nicht auf die Gesamtkette und den Kundenbedarf ausgerichteten, miesen Prozess hat. Durch die Einführung digitaler Tools wird der Prozess damit keineswegs besser, sondern sogar schlechter – also zu einem miesen digitalen Prozess.
Kommunikation zum Anfassen
Arbeitet man zum Beispiel mit der Last-Planner-Methode, die nichts Exklusives der Lean-Construction-Szene darstellt, kann man eine digitale Version durchaus in Erwägung ziehen. Aber Sie sollten dabei verstehen, was der Mehrwert einer digitalen Abbildung ist. Menschen sind kommunikative und visuelle Wesen. Das gemeinsame Besprechen vor einer physischen Tafel, auf der echte Karten bewegt werden, hat deutlich mehr Einfluss auf das Bewusstsein über besprochene Entscheidungen bei den beteiligten Personen im Team als bei digitalen Abbildungen. Eine digitale Version kann zum Beispiel sinnvoll sein, wenn immer wieder Personen »remote« dazukommen müssen. Aber auch dann ist eine voll digitale Version nicht zwingend.
Fazit
Die Lean-Methoden, egal in welchem Bereich, sind lediglich ein Mittel zum Zweck. Für das, was das Wesentliche von »Lean« ausmacht, gibt es keine Blaupause. Lernen Sie von anderen, im Positiven wie im Negativen. Aber finden Sie in Ihrem Unternehmen stets den eigenen, individuellen Weg, der zu Ihrer Organisation passt.
Der Faktor Mensch – gleichermaßen Chance und größtes Problem
Es spielt keine Rolle, ob bei Lean Construction, dem industriellen Projektgeschäft, im Serienprozess oder in der Administration, Menschen brauchen immer kommunikative und transparente Rahmenbedingungen, die alle Beteiligten richtig einbeziehen.
Hier passieren im Lean-Kontext die meisten Fehler, weil immer wieder suggeriert wird, dass man nur die richtigen Tools implementieren müsse. Aber es geht um weit mehr:
- Kund*innen und ihre Bedürfnisse richtig verstehen.
- Produkte und Prozesse so entwickeln, dass der Aufwand von vornherein reduziert wird.
- Emotionale Bedürfnisse aller Stakeholder mitdenken und berücksichtigen.
- Neue Dinge ausprobieren, Fehler machen (keine Fahrlässigkeit) und daraus lernen.
Zum Autor
Mario Buchinger ist Ökonomie-Physiker, Musiker und Autor. (Bild: Schäffler)
Der Spezialist für Veränderungsfähigkeit ist ausgebildeter Lean-Manufacturing-Consultant und Kaizen-Trainer und war bei Daimler und Bosch als Führungskraft tätig. Er unterstützt internationale Kunden aus Industrie, Finanz- und Bauwirtschaft sowie öffentliche Organisationen bei der Strategie-, Prozess- und Klimatransformation.
Info: www.buchingerkuduz.com