Ohne Interessensvertretung bleiben Unternehmen im politischen Prozess außen vor – das gilt auch in der Baustoffbranche. Weil die Politik sowohl auf EU-Ebene als auch national immer transparenter wird, sind die Fürsprecher der Industrien heute mehr denn je gefordert, ihre Agenden erfolgreich und glaubwürdig zu vertreten.
Nach dem verheerenden Hochhausbrand in London im Vorjahr, der 80 Menschenleben forderte, war die Bestürzung riesig. Die Schockstarre währte aber nur kurz: Schon wenige Tage nach dem Ereignis hat die Suche nach den Ursachen begonnen. Die zwei wichtigsten Fragen waren dabei, wie das Desaster passieren konnte – und wie sich ähnliche Katastrophen in Zukunft vermeiden lassen. Wichtige Erkenntnisse lieferte die Organisation Fire Safe Europe – und stellte fest: Europa spielt mit dem Feuer. Denn 90 Prozent der Brände passieren im Gebäudeinneren, wo die Menschen 90 Prozent ihrer Zeit verbringen. Europaweit passieren laut Fire Safe Europe zwölf Todesfälle durch Brände pro Tag, 126 Milliarden Euro an Wertschöpfung gehen Jahr für Jahr buchstäblich in Flammen auf – das entspricht einem Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung Europas.
Bild oben: »Lobbying ist immer Interessensvertretung, Interessensvertretung ist aber nicht immer Lobbying«, weiß Gernot Brandweiner, Geschäftsführer des Verbands der österreichischen Beton- und Fertigteilwerke VÖB.
Ohne neue Regulative und weniger entflammbare Materialien wird sich diese Situation nur verschlimmern, rief Fire Safe Europe daher schon wenige Wochen nach der Londoner Katastrophe die EU-Politik zum Handeln auf. Mit Erfolg: Umgehend wurden im Europäischen Parlament Feuersicherheit diskutiert und neue Gesetze und Vorschriften in Aussicht gestellt.
Vorteile verschaffen
Von der Arbeit von Fire Safe Europe profitieren alle Europäer – schließlich ist es im Interesse aller, den Brandschutz zu verbessern. Doch jede Änderung der bestehenden Normen und Gesetze hat neben einer gesellschaftlichen auch eine wirtschaftliche Relevanz. Daher ist es wohl keine Überraschung, dass hinter der Initiative Fire Safe Europe gleich mehrere Hersteller mineralischer Dämmstoffe und Verbände aus der Massivbau-Branche stehen, die seit vielen Jahren den besseren Brandschutz als eines der Hauptargumente für ihre Produkte und Lösungen betonen. Dabei ist dieser Fall nur ein Beispiel dafür, wie Interessensvertretung auf europäischer Ebene praktiziert wird, um die Entstehung neuer Rahmenbedingungen zu beeinflussen.
Wobei natürlich nicht nur der Massivbau – hier über den Betonfertigteilhersteller-Dachverband BIBM (Bureau International du Béton Manufacturé) – in Sachen Agenda-Setting aktiv ist: Die Holzbranche hat mit EOS (European Organisation of the Sawmill Industry) ihre Fürsprecher, die Dämmstoffproduzenten betreiben mit Eurima (European Insulation Manufacturers Association) einen Verband auf EU-Ebene. Diese Organisationen bringen sich bei aktuellen Themen sofort in Stellung und versuchen so gut es geht, Stimmung zu machen und ihren Mitgliedern damit wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen oder Nachteile zu verhindern.
Bild oben: Gesetze werden heute nicht mehr im Elfenbeinturm geschrieben: Der politische Diskurs findet in der Öffentlichkeit statt.
Dass das ein Muss ist, versteht sich von selbst: Bereits der Duden definiert Politik als die »Methode, bestimmte eigene Vorstellungen gegen andere Interessen durchzusetzen.« Und wenn wie heute eine schier unendliche Anzahl von Interessen auf Basis des vom Gesetzgeber postulierten öffentlichen Interesses vertreten werden, ist die Gefahr sehr groß, nicht erhört zu werden, wie Gilbert Rukschcio, Managing Partner Pantharei Europe sagt. »Der Gesetzgeber hat keine allumfassende Wahrheit – es gibt keinen Code und keinen Algorithmus, der nur mit Daten gefüttert werden muss und dann die Wahrheit ausspuckt. Dennoch muss er komplexe und weitreichende Entscheidungen treffen und dabei alle betroffenen Stakeholder-Gruppen berücksichtigen.«
Die rechtlichen Rahmenbedingungen werden dabei nicht nur von den offiziellen Teilnehmern des politischen Prozesses mitgestaltet: Rukschcio, der sich nach seiner Tätigkeit im Europäischen Parlament auf Strategieberatung von Unternehmen im Kontext Europa-relevanter Themenstellungen spezialisiert hat und einen tiefen Einblick in die politische Hexenküche in Brüssel wie in Wien hat, vergleicht den politischen Prozess mit einem Trichter. Vor der Gesetzesbildung kommt immer die Meinungsbildung, sagt er – und dort, wo es um Meinungen geht, gibt es am meisten Raum, sich einzubringen. »Je mehr es Richtung Gesetz und finaler Kompromiss geht, umso kleiner wird der Trichter. Daher muss man als Interessensvertretung von Anfang an dabei sein. Das braucht Ressourcen – persönlicher und finanzieller Natur.«
Diese Sichtweise bestätigt auch Gernot Brandweiner, Geschäftsführer des Verbands der österreichischen Beton- und Fertigteilwerke VÖB, der regelmäßig in Brüssel weilt und sich als einziger Vertreter einer direkt von Baustoffproduzenten finanzierten Organisation zum Thema Lobbying zu äußern bereit war: »Grundsätzlich gilt: Lobbying ist immer Interessensvertretung, Interessensvertretung ist aber nicht immer Lobbying. Lobbying bedeutet, dass ich einem Entscheidungsträger meinen Strandpunkt erkläre und ihn unbedingt von meiner Sache überzeugen will. Bei der Interessensvertretung kommen vielerlei Institutionen zusammen, in denen man sozusagen als Gleicher unter Gleichen z.B. an einem Regelwerk mitarbeitet. Das ist unter anderem bei der Normung der Fall: In einem Komitee finden sich verschiedene Fachleute ein, die zwar durchaus von Interessensgruppen entsandt sein können, jedoch rein auf Fachebene diskutieren. Daraus wird ein Werk, zum Beispiel ein Normenentwurf, erstellt, kommentiert und nachbearbeitet. Im letzten Schritt wird darüber abgestimmt.«
Lange Liste
Die Liste der Interessensvertretungen der Baustoffproduzenten ist daher nicht nur in der EU, sondern auch in Österreich lang: VÖB, VÖZ (Vereinigung der österreichischen Zementindustrie), Betonmarketing und Bau!Massiv! auf der einen, ProHolz und die Holzforschung Austria auf der anderen Seite – um vom Isolierverband sowie den Händlerverband VBÖ gar nicht zu sprechen. Dazu kommen Fachverbände in der WKO sowie Aktivitäten kapitalstarker Unternehmen in der Branche.
Bild oben: »Die wichtigste Währung für erfolgreiches Lobbying ist die Glaubwürdigkeit«, sagt Gilbert Rukschcio, Managing Partner Pantharei Europe.
Entscheidend für den Erfolg beim langwierigen politischen Entscheidungsprozess mit vielen Beteiligten ist allerdings nicht die Größe der involvierten Unternehmen oder das Budget der Verbände – auch wenn ein Milliardenkonzern mehr Möglichkeiten als ein KMU hat. Vielmehr zählt der Image-Faktor, wie Rukschcio sagt: »Die wichtigste Währung ist die Glaubwürdigkeit: Gerade wo es nicht um den Diskurs unter unterschiedlichen Branchen, sondern zum Beispiel zwischen NGOs und der Industrie geht, heißt es oft, dass Konzerne mit ihrem Geld mehr bewegen können. In der Realität wird NGOs aber oft eine hohe Glaubwürdigkeit zugeschrieben – und wenn das so ist, kommt der NGO auch bei politischen Entscheidungsträgern besser an.«
Ende der Geheimabsprachen
Glaubwürdigkeit lässt sich natürlich auch erzeugen und stärken. Dazu gehört oft, nach einer neuen Entscheidung – ob national oder international – die »ahnungslose Politik« zu kritisieren. Ein Argument, das Andreas Pfeiler, Geschäftsführer im Fachverband Steine-Keramik in der Wirtschaftskammer, nicht gelten lässt: »Ich denke, jeder agiert im besten Wissen und Gewissen. Sollten Informationsdefizite vorhanden sein, dann liegt es an uns, entsprechende Aufklärungsarbeit zu leisten. Schwierig wird es nur dann, wenn Dogmatiker ihre Position nicht verlassen und sich einer ordentlichen Diskussion verschließen. Es braucht aber heutzutage für eine ernstzunehmende Argumentation ohnehin stets auch eine entsprechend fundierte Studien- oder Datenbasis, um sein Gegenüber zu überzeugen.«
Denn selbst wenn Politiker auch nur Menschen sind und damit Soft Facts in Entscheidungen hineinfließen, zählen am Ende des Tages nicht Emotionen und Freundschaften, sondern Daten und Fakten: Die Zeit der Geheimabsprachen, Zigarrenclubs und per Handschlag besiegelten Abkommen ist vorbei – und kommt in der Ära von Whistleblower-Hotlines und Wikileaks auch nicht mehr wieder zurück. »Gesetze werden nicht im Elfenbeinturm geschrieben, im Gegenteil: Der politische Diskurs findet in der Öffentlichkeit statt«, wie Rukschcio sagt. Der Entscheidungsprozess ist sehr transparent – so sind bei EU-Parlamentariern oder EU-Kommissaren selbst die Liste der Meetings im Internet einsehbar, die sie hatten.
»Natürlich heißt Transparenz aber nicht, dass nicht alles gleich auf Facebook live übertragen wird und Kompromissfindung braucht auch einen gewissen Raum an Vertraulichkeit«, meint der Experte. »Mein persönliches Gefühl ist aber, dass die Zeit der Hinterzimmergespräche vorbei ist.« Dieses Mehr an Transparenz ist auch für Großkonzerne eine große Herausforderung und der Aufholbedarf in Sachen digitaler Interessensvertretung riesig. Wie riesig, zeigt etwa der Fall VW, der eine gesamte Branche in Mitleidenschaft gezogen hat; aber auch prominente österreichische Industriebetriebe wie Voestalpine oder Rosenbauer hatten viel negative Publicity zu erleiden. Dieser Kelch ist an der heimischen Baustoffindustrie bisher vorübergegangen – wohl auch dank des unermüdlichen Einsatzes ihrer Interessensvertretungen in Brüssel und Wien.