2017 hat die Studienexkursion des vwbf, des Vereins für Wohnbauförderung, erstmals nach Osteuropa geführt. Drei Tage lang erlebte das österreichische Team die unterschiedlichen Seiten von Warschau.
Der erste Eindruck nach Verlassen des Flughafens gleicht dem einer westeuropäischen Stadt: Verkehrschaos. Die Einwohnerzahl von Warschau liegt laut statistischem Amt bei 1,8 Millionen Menschen. Andere nennen 2,5 Millionen als wahre Zahl, denn viele Warschauer leben an den administrativen Grenzen und pendeln täglich in die Stadt. Es gibt einen gravierenden Unterschied zwischen den Stadtteilen. Warschau lag während des Zweiten Weltkrieges auf der sogenannten Kriegsautobahn. Der Stadtteil links der Weichsel wurde zu 85 Prozent zerstört, die Bausubstanz im rechten Part blieb großteils erhalten. Damit bietet Warschau ein Stadtbild, das neben viel Neubau auch jede Menge Substandard beinhaltet.
Wohnbau in Warschau
Der Stadtteil Praga, rechts der Weichsel, ist geprägt von alter, dichter, sehr vernachlässigter Bausubstanz und verfallenen Hinterhöfen. Für die Sanierung gibt es vonseiten der Stadt zwar einen Sanierungsplan, allerdings sind viele Gebäude in Privatbesitz. Eigentümer können nicht zur Sanierung gezwungen werden, womit die Stadt weder sanieren noch finanzieren kann. In Praga zeigen sich trotzdem erste Revitalisierungsprojekte. Maßnahmen zur Linderung der Wohnungsnot werden gesetzt, allerdings beschränken sie sich auf die Sicherung guter Investitionsbedingungen für private Immobilienentwickler. Dies führt dazu, dass sich die Neubauprojekte in bestimmten Stadtteilen konzentrieren. Resultat ist eine weiter voranschreitende Polarisierung, sichtbar v.a. im architektonischen Erscheinungsbild. Fast alle Neubauten der privaten Immobilienunternehmen sind von Zäunen umgeben, verfügen über Security-Dienste und Videoüberwachung. Schätzungen zufolge existieren rund 400 dieser bewachten Siedlungsinseln.
Bild: Bausubstanz für ein erstes Revitalisierungsprojekt in Praga.
Das Projekt Marina Mokotów etwa ist ein Areal von 22 Hektar und bietet 1.500 Wohnungen für 5.000 Menschen. Weniger Bedeutung haben die Grundstückskosten im Stadtteil links der Weichsel. Hier dominiert das kulturelle, politische und wirtschaftliche Leben. Neben Flughafen und bedeutenden Bahnhöfen residieren hier Regierung sowie Reichstag, auch zahlreiche internationale Konzerne haben sich angesiedelt. Warschau präsentiert sich links der Weichsel als wichtigstes Finanzzentrum Osteuropas. Der EU-Beitritt Polens 2004 war wesentlicher Treiber dieser Entwicklung. Auch die Geologie präferiert das linke Weichselufer: Es liegt auf 90 Metern Seehöhe und bietet natürlichen Schutz bei Hochwasser.
Wohn-Psychologie
Allen Wohnformen in Warschau ist eines gemeinsam: Der starke Eigentumsanteil, er liegt bei 63 Prozent – in Wien beträgt er 22 Prozent. Markus Sturm, Obmann des vwbf, erklärt dies so: »Im Kommunismus gab es kein privates Eigentum, bis auf Aufnahmen standen die Wohnungen im öffentlichen Eigentum. Heute wird Besitz daher umso höher bewertet.« Diese Aussage bestätigen auch die Warschauer Wohnbauvereine. Besitz entschied und entscheidet über die gesellschaftliche Stellung. Mit der politischen Wende Ende der 1980er-Jahre kam es zu einer Privatisierungswelle. Durch die völlige Liberalisierung des Wohnbaumarktes unterscheidet sich Polen auch von anderen osteuropäischen Staaten. Eine der ersten Veränderungen nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Gesellschaftsmodells war die Übertragung staatlichen Eigentums an die neu gegründeten Kommunalverwaltungen.
Bild: Geschlossene Siedlungen wie Marina Mokotów sind typisch für Warschau – umrundet von Absperrungen und Videoüberwachung, verfügen sie auch über Grünflächen und Gemeinschaftsräume wie Bibliothek und Fitnesscenter.
Etwa die Hälfte der 3,5 Millionen Genossenschaftswohnungen wurde als privates Eigentum ausgesondert, um 1 bis 10 Sloty pro Wohnung quasi geschenkt. Vor allem in den städtischen Ballungsregionen wurde ein Neubauboom ausgelöst, vornehmlich am freifinanzierten Eigentumswohnungssektor. Demgegenüber herrscht ein Mangel an leistbaren Wohnungen. Anfang der 90er-Jahre stand noch ein Drittel des Wohnungsbestands in staatlichem Besitz. Mittlerweile sind es in Warschau nur mehr zehn Prozent. Ein ausgeglichener Wohnungsmarkt fehlt, der gemeinnützige und kommunale Wohnungsbau spielen in der polnischen Wohnversorgung kaum eine Rolle – im Gegensatz zu Österreich, wo von den Gemeinnützigen jährlich rund 15.000 Wohnungen fertiggestellt werden. Das entspricht einem Drittel der gesamten Neubauleistung. Im Mehrgeschoßwohnbau steigt dieser Anteil sogar über 50 Prozent. Jede/r fünfte Österreicher/in lebt in einer gemeinnützigen Wohnung.
Einseitiger Wohnungsmarkt
Um leistbaren Wohnraum zu schaffen, wurden in Warschau sogenannte Gesellschaften für Soziales Bauen, TBS, gegründet und mit günstigen Krediten gefördert. Zielgruppe sind Haushalte mit mittleren Einkommen, d.h. jene Haushalte, die sich kein Wohnungseigentum leisten können, aber auch die Einkommensgrenzen für herkömmliche kommunale Wohnungen überschreiten. Mit einem Anteil von zwei Prozent am Wohnungsbestand und einer geringen Bautätigkeit kommt TBS jedoch eine untergeordnete Rolle zu – es dominiert der von privaten Projektentwicklern bestimmte Eigentumswohnungsmarkt. Das hat zur Folge, dass sich in Warschau und anderen größeren polnischen Städten die Lage am Wohnungssektor zunehmend anspannt. Vor allem Bevölkerungsgruppen mit geringerem Haushaltsbudget haben zusehends Schwierigkeiten, eine finanzierbare Wohnung zu finden. Besonders auf die jüngere Bevölkerungsgruppe hat das fehlende Angebot leistbarer Wohnungen gravierende Auswirkungen. Mangels geeignetem Wohnraum für die Haushaltsgründung verlängert sich ihr Aufenthalt im elterlichen Haushalt.
Bild: Ein acht Hektar großes Fabriksgelände in Praga wurde im Rahmen einer Revitalisierung jüngst als künstlerisches Stadtviertel eröffnet.
60 Prozent der Polen im Alter zwischen 18 und 34 Jahren leben noch bei ihren Eltern. Folge des Mangels an leistbaren Wohnungen ist auch ein Anstieg der Überbelegungsquote auf 24 Prozent, deutlich über dem EU-Niveau von 17. Die Probleme werden aber zusehends erkannt und die Wohnungsanschaffung steuerlich subventioniert. Im öffentlichen Mietwohnungssektor haben die Bewohner rund 30 Prozent der Baukosten aus Eigenmitteln aufzubringen, die Miete wird dadurch günstiger, die Eigenmittel bei einem Umzug refundiert. Für jenen Bevölkerungsteil, dem die finanziellen Mittel fehlen, gibt es Sozialwohnungen um 1 bis 2 Euro/m². Die Warschauer Wohnbauvereine sind sich einig: »Es braucht den verstärkten Mietwohnungsbau. Die Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt wird größer, Menschen werden immer mobiler, die Gebundenheit an die Wohnung nimmt ab.«